Wie der TikTok-Algorithmus tickt

Was ist

In den vergangenen Tagen gab es einige Neuigkeiten rund um TikTok, die wir zusammentragen möchten. Zunächst leakte ein Dokument, das die Algorithmen der Plattform beschreibt, dann packten einige Insider über Chinas angeblichen Einfluss aus, schließlich kündigte TikTok Änderungen an der Empfehlungslogik an.

Wie TikToks Algorithmen funktionieren

  • Anfang Dezember berichteten New York Times und Spiegel über ein Dokument namens "TikTok Algo 101". Es enthält einige der mathematischen Formeln, auf deren Grundlage TikTok Inhalte vorschlägt und seine Empfehlungslogik optimiert.
  • Unter dem (übersetzten) Titel "Guide to a Certain Video APP’s Recommendation (Algorithm)" kursierte bereits Anfang des Jahres ein Dokument auf Mandarin mit ähnlichem Inhalt in mehreren chinesischen Netzwerken. Es bezog sich auf Douyin, das chinesische TikTok-Pendant.
  • Die Überschriften "How TikTok Reads Your Mind" (NYT) und "Die Abhängigkeitsmaschine" (Spiegel) suggerieren dunkle Magie oder moralisch fragwürdiges Verhalten. Wir hatten ebenfalls Einblick in das Dokument und können keinen großen Skandal erkennen.
  • Die Kurzfassung: Die wichtigsten KPIs lauten Wachstum und Verweildauer. TikTok versucht, Inhalte zu empfehlen, die Menschen nicht langweilen und dazu bringen, möglichst viel Zeit auf TikTok zu verbringen. No shit, Sherlock.
  • Öffentlich brüstet sich TikTok damit, seine Empfehlungen zu diversifizieren, damit Nutzerïnnen nicht in ein rabbit hole rutschen. Tatsächlich stecken dahinter wohl in erster Linie Eigeninteresse: Wenn Nutzerïnnen zu oft gleichartige Videos vorgesetzt bekommen, werden sie der App überdrüssig.
  • Im Dokument wird das "boredom issue" genannt. Die Lösung: immer wieder andere Inhalte zwischenstreuen, um Menschen bei der Stange zu halten.
  • NYT-Autor Ben Smith hat den Informatiker Julian McAuley gefragt, was er von dem geleakten Dokument hält: "totally reasonable, but traditional stuff". Das fasst es gut zusammen.
  • TikTok hat eine clever designte App und den mächtigsten Video-Editor, viele Nutzerïnnen, die kreative Inhalte erstellen, massenhaft Daten und Tausende talentierte Entwicklerïnnen.
  • Einen weitere Erfolgsfaktor beschrieb uns TikToks Deutschlandchef Tobias Henning kürzlich in einem Gespräch so: "TikTok ist keine Social-Media-Plattform, sondern eine Content-Plattform." Es gibt keinen Social-Graph wie bei Instagram oder Facebook, Empfehlungen funktionieren von der ersten Sekunde an und berufen nicht auf Followern.
  • All das ist seit Jahren bekannt (siehe Briefing #524). Wer sich für TikTok interessiert, sollte den NYT-Text trotzdem lesen. Er liefert keine bahnbrechend neuen Erkenntnisse, ordnet das Dokument aber gut ein.

Wie China eben doch mitredet

  • Als wir mit Tobias Henning sprachen, fragten wir ihn auch, ob es seine Arbeit beeinflusse, dass TikTok eine Tochtergesellschaft von ByteDance sei. Seine Antwort: "Nicht im Geringsten. Tiktok selbst ist in China nicht verfügbar, sondern agiert unabhängig."
  • Für TikTok Deutschland mag das zutreffen. Der Business Insider hat mit sechs aktuellen und ehemaligen Angestellten gesprochen, deren Schilderungen ein anderes Bild zeichnen.
  • Demnach mischt sich ByteDance sehr wohl ein, für wichtige Entscheidungen sei oft ein Anruf in Peking nötig. Angeblich hat man dort auch das letzte Wort und überstimmt die Managerïnnen außerhalb Chinas.
  • "It's that feeling a little bit in the US where you're sort of helpless to a lot of the decisions that are made out of China", sagt ein anonymer Ex-Mitarbeiter. ByteDance werde intern als HQ bezeichnet und sei ständig präsent.
  • Das widerspricht TikToks eigener Darstellung, das immer wieder versucht, sich als komplett unabhängiges Unternehmen darzustellen, das mit China nichts zu tun habe.
  • Der Bericht des Business Insider passt zu einer CNBC-Recherche aus dem Juni. Moneyquote:

The former employees who spoke to CNBC said the boundaries between TikTok and ByteDance were so blurry as to be almost non-existent. Most notably, one employee said that ByteDance employees are able to access U.S. user data.

Wie TikTok seine Algorithmen ändern will

(…) we're testing ways to avoid recommending a series of similar content – such as around extreme dieting or fitness, sadness, or breakups – to protect against viewing too much of a content category that may be fine as a single video but problematic if viewed in clusters.

  • Zudem sollen Nutzerïnnen mehr Möglichkeiten bekommen, die Vorschläge an ihre eigenen Bedürfnisse anzupassen. TikTok plant etwa eine Funktion, mit der sich bestimmte Wörter oder Hashtags ausblenden lassen.
  • Wir halten das für sinnvolle Maßnahmen, haben aber Zweifel an TikToks Motiven. Das "Langeweile-Problem" aus dem geleakten Dokument dürfte mindestens genauso wichtig sein wie TikToks Sorge um das Wohlergehen seiner Nutzerïnnen.
  • Wir halten das aber nicht für verwerflich. Natürlich handelt ein Unternehmen in erster Linie nach wirtschaftlichen Erwägungen. Wenn etwas dabei herauskommt, das auch noch im Sinne seiner Nutzerïnnen ist, sehen wir darin keinen Grund zur Kritik.
  • Langfristig wünschen wir uns aber deutlich mehr Transparenz in Bezug auf die Algorithmen der Plattformen, damit es keine Leaks braucht, um die Empfehlungslogik besser zu verstehen.
  • Vielleicht helfen der europäische Digital Services Act sowie der Platform Accountability and Transparency Act in den USA, zu dem wir diesen Podcast (Lawfare) empfehlen, den Evelyn Douek so zusammenfasst (Twitter):

We can't fix problems we don't understand. So I'm particularly excited about a bill just introduced into Congress that might help us get the data out of platforms to help us do just that.


Blick auf 2021

Was ist

Wir haben 2021 insgesamt 71 Briefings verschickt. Das sind knapp zehn weniger als im Jahr davor. Allerdings haben wir trotzdem nicht gerade das Gefühl, dass die Informationsdichte abgenommen hätte. Im Gegenteil: Wir haben im Vergleich zu den Vorjahren in fast jedem einzelnen Briefing einen echten Deep Dive gehabt – etwa warum sich Online-Werbung 2021 grundlegend ändern wird, zum Clubhouse-Hype, wie sich Twitter neu erfinden will, wie sich die Creator Economy anfühlt, was auf LinkedIn und Xing geht, wie Expertïnnen die Gefahr digitaler Desinformation in Deutschland einschätzen, zum Digital News Report, wie TikToks Algorithmus funktioniert, und, und, und…

Wie es weitergeht

Wir stemmen das hier alles zu zweit. Das ist, gelinde gesagt, Woche um Woche extrem viel Arbeit. Wir überlegen daher, ob wir das Briefing 2022 etwas umstrukturieren – beispielsweise einmal die Woche einen Deep Dive, einmal die Woche alle relevanten News. Das ist allerdings erst einmal nur eine Überlegung. Da ist noch nichts entschieden. Aus guter Tradition machen wir das auch nicht allein. Vielmehr entscheiden wir so etwas in aller Regel mit unseren Leserïnnen zusammen. Daher möchten wir dich heute fragen:

Was wäre die eine Sache, die dein Abo-Erlebnis bei uns definitiv verbessern würde?

Es wäre famos, wenn du uns auf die Frage kurz Feedback geben könntest – hier geht es zur Texteingabe dafür.

In bester Gesellschaft

Was klar ist: Du befindest dich mit deinem Abo bei uns in bester Gesellschaft. Insgesamt konnten wir in diesem Jahr 86 institutionelle Kunden für unsere Arbeit begeistern, uns von 1060 auf 1465 Abonnentïnnen bei Steady steigern. Insgesamt verzeichen wir nun rund 4500 zahlende Leserïnnen, mehrheitlich Professionals aus den Bereichen Journalismus, PR, Politik und Wissenschaft. Das ermöglicht es, dass wir auch 2022 weiterhin hauptberuflich das Social Media Watchblog herausgeben können – ein Privileg, das es in ähnlicher Form in DACH nicht all zu oft gibt. Vielen Dank an alle, die das ermöglichen! Das ist einfach großartig!

Alle Briefings auf einen Blick

Übrigens: Falls du erst später im Jahr dazugestoßen bist, oder falls du einfach gern noch einmal das eine oder andere (während der Feiertage) nachlesen möchtest, dann findest du hier alle Briefings 2021 auf einen Blick. Falls du ein Steady-Login benötigst, schreib uns gern kurz eine E-Mail. Cheers!

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Header-Foto von Damian Markutt