YouTube Shorts startet in Deutschland: Was kann der TikTok-Klon?

Was ist

Instagram hat Reels, Snapchat hat Spotlight, nur YouTube hatte in Deutschland bislang keinen TikTok-Klon. Das ändert sich jetzt: Nach einem Beta-Test in Indien und dem US-Start im März (#713) bringt YouTube Shorts nun in mehr als 100 weitere Länder, darunter auch nach Deutschland (YouTube-Blog).

Warum das wichtig ist

Keine große Plattform wächst schneller als TikTok – und keine hat in den vergangenen zwei Jahren stärkeren Einfluss auf Formate, Inhalte und Nutzungsverhalten in sozialen Medien gehabt. Nach Snapchats Stories sind mobil produzierte und konsumierte Kurzvideos der Trend, den alle kopieren.

ByteDance und Facebook sind Schwergewichte, die keinen K.O.-Schlag im Kampf um die Aufmerksamkeit des jüngeren Teils der Menschheit fürchten müssen. Aber mit YouTube betritt nun ein Gorilla den Ring, der gefährliche Schwinger verteilen könnte.

Das ist für alle beteiligten Akteure relevant:

  • Für die Konzerne geht es um Milliarden.
  • Für die Creator geht es um die Entscheidung, in welche Plattform sie langfristig Ressourcen investieren und sich Reichweite aufbauen sollten.
  • Für Nutzerïnnen steht am wenigsten auf dem Spiel. Wer keine Inhalte produziert, kann die Plattform ohne größere Hürden wechseln und muss sich nur an eine neue App gewöhnen, wenn Reels etwa erfolgreich einen TikTok-Star abgeworben hat.
  • Daran knüpft sich aber eine Frage an, die sich Unternehmen stellen müssen: Wo sehen sie das größte Potenzial, ihre Zielgruppe zu erreichen? Auf welcher Plattform wollen sie präsent sein, wo ist das Werbebudget am besten angelegt?
  • Das gilt natürlich nicht nur für Anzeigenkunden und Marken mit eigener Social-Media-Präsenz, sondern genauso für Verlage, Stiftungen oder den politischen Sektor. Sprich: Eigentlich für alle, die in irgendeiner Form mit Social Media zu tun haben.

Wie YouTube Shorts funktioniert

  • Das Grundprinzip erinnert stark an TikTok: Videos dürfen höchstens 60 Sekunden lang sein, mit der Multi-Segment-Kamera können Nutzerïnnen viele kurze Clips zusammenschneiden.
  • Man scrollt und swipt sich vertikal durch die Videoflut, die niemals zu Ende geht: YouTubes Empfehlungsalgorithmus setzt einem immer neue Inhalte vor.
  • Inhalte lassen sich ausschließlich mit dem Smartphone erstellen und anschauen. Auf dem Desktop gibt es YouTube Shorts bislang nicht.
  • Musik und Sounds sind die Basis der Shorts. YouTube hat Verträge mit mehr als 250 großen Labels abgeschlossen, damit eine große Auswahl an Musik zur Verfügung steht, mit der man die Videos unterlegen kann.
  • Bislang sollen "Millionen von Songs (Tendenz steigend) und Musikkataloge" verfügbar sein. YouTube will das Angebot weiter ausbauen.
  • Nutzerïnnen können nicht nur auf YouTubes eigenen Katalog zurückgreifen, sondern Sounds anderer Shorts und auch normaler YouTube-Videos weiterverwenden und remixen.
  • Wer nicht will, dass die Audiospur des eigenen YouTube-Clips verwendet wird, muss aktiv widersprechen. Die Funktion ist also opt-out statt opt-in, was einige Creator verärgern oder zumindest verwundern könnte.
  • Genau wie bei Reels ist es möglich, Clips von TikTok zu recyceln und direkt als Shorts zu veröffentlichen.

Wie YouTube Creator für sich gewinnen will

  • Ende Juni kündigte YouTube den Shorts Fund an (TechCrunch). Im Laufe des kommenden Jahres sollen 100 Millionen Dollar an Creator ausgeschüttet werden, die Shorts veröffentlichen.
  • Es soll bestimmte Schwellenwerte geben, ab der man für die Ausschüttung qualifiziert ist. Die genauen Benchmarks sind aber noch nicht bekannt. Creator können sich nicht selbst bewerben, vielmehr will YouTube von sich aus auf die Nutzerïnnen zugehen, die infrage kommen.
  • Bislang ist unklar, ob der Fund auch in Deutschland startet. YouTube erwähnt ihn allerdings im deutschsprachigen Blogpost und schreibt: "Im Vorfeld des Starts des Fonds werden wir weitere Details bekannt geben, einschließlich der Länder, in denen der Fonds verfügbar sein wird."
  • Im Vergleich zu den Plattform-Platzhirschen sind 100 Millionen Dollar relativ wenig. TikTok will in den kommenden drei Jahren zwei Milliarden Dollar verteilen (TikTok-Newsroom). Snapchat schüttete über Monate täglich eine Million Dollar an Nutzerïnnen aus, deren Spotlight-Snaps viral gehen (Snap-Newsroom).
  • Instagram hat für Reels zwar noch keinen Creator Fund aufgesetzt, behält sich diese Möglichkeit aber offen (The Information). Außerdem wirbt Instagram offenbar aktiv TikTok-Stars ab (WSJ) und bietet ihnen nicht öffentlich kommunizierte Summen, wenn sie die Plattform wechseln.
  • Den War for Talent haben wir Briefing #699 ausführlich beschrieben. Mehr über die unterschiedlichen Möglichkeiten für Creator, mit ihren Inhalten Geld zu verdienen, liest du in Ausgabe #703.

Was für Shorts spricht

  • YouTubes Marktmacht: Wenn es eine große Plattform gibt, die immer noch unterschätzt wird, dann ist das wohl YouTube. Jährlich zeigen Erhebungen wie der Reuters Digital New Report (#730) oder die ARD/ZDF-Online-Studie (#674), wie viel Zeit insbesondere Gen Z und Y auf YouTube verbringen – und welchen politischen und popkulturellen Einfluss die Plattform hat. Shorts wird direkt in die normale YouTube-App integriert und erreicht damit auf einen Schlag Hunderte Millionen Nutzerïnnen.
  • YouTubes Musik- und Videokatalog: Andere TikTok- und Reels-Clips zu remixen, ist das eine – auf die Tonspur aller YouTube-Videos zugreifen zu können, ist ein ganz anderer Anreiz. Fans können Mashups der Inhalte ihrer YouTube-Idole erstellen, und man kann sich gut vorstellen, welches kreative Potenzial dort schlummert.
  • YouTube Music und die nahtlose Integration: Videoplattform: check. Kurzvideos: check. Musik-Streaming: check. YouTube ist die einzige Plattform, die alle Dienste gemeinsam bieten kann. Immer wieder hören Nutzerïnnen etwa den Ausschnitt eines Songs auf TikTok, googeln die Lyrics und streamen das Lied auf Spotify. YouTube könnte einen komplett integrierten Workflow bieten, bei dem man kein einziges Mal die App verlassen muss.
  • Googles Kriegskasse: Alphabet Inc. ist eines der wertvollsten Unternehmen der Welt. Wenn es jemand mit ByteDance und Facebook aufnehmen kann, dann wohl Google und YouTube. Den Creator Fund mal eben von 100 Millionen auf eine Milliarde erhöhen? Vorstellbar. In kurzer Zeit viele fähige Entwicklerïnnen ins Shorts-Team beordern, um schnell zentrale Funktionen nachzuliefern? Machbar. Jedes Problem mit Geld bewerfen? Alphabet hat im ersten Quartal 2021 rund 18 Milliarden Dollar verdient. Richtig: verdient, nicht umgesetzt.
  • Der Reiz für Creator: Wer seinen YouTube-Channel pushen will, sollte ernsthaft darüber nachdenken, Shorts zu produzieren. Der 17-jährige Magier Dan Rhodes erhöhte die Zahl seiner Abonnentïnnen binnen weniger Monate von 17.000 auf 3,8 Millionen – dank der Shorts, die er veröffentlichte (Bloomberg). YouTube präsentiert die kurzen Clips prominent in der App und macht es extrem leicht, Videos zu liken oder einem Kanal zu folgen. Intern wird nicht zwischen YouTube- und Shorts-Account unterschieden: Wer einen Kanal über ein Shorts abonniert, folgt auch den normalen Videos, die sich über Reichweite und Werbung monetarisieren lassen.
  • Der erfolgreiche Start: Zumindest die Zahlen klingen gut. Im März sollen Shorts rund 6,5 Milliarden mal pro Tag angeschaut worden sein, fast doppelt so oft wie zu Jahresbeginn. Google-Chef Sundar Pichai bezeichnete die App bei einer Aktionärsversammlung als großes Versprechen für die Zukunft. Allerdings sind die Metriken allein wenig wert, wenn man nicht weiß, wie sie genau erhoben werden (Was zählt als View?) und wie man sie mit anderen Plattformen vergleichen kann.

Was gegen Shorts spricht

  • Eine App, sie alle zu binden? YouTubes größte Stärke könnte gleichzeitig die größte Schwäche sein. Denn womöglich wollen Nutzerinnen gar nicht eine App für alles. Viele Menschen schauen auf YouTube 10-20-minütige Videos oder gar stundenlange Filme. Die Plattform erfüllt für sie einen ganz anderen Zweck. YouTube ist soziales Netzwerk, Abspielfläche für Longform-Videos, eine Plattform für Streamer, hat Verticals und Formate wie YouTube Gaming und YouTube Stories und läuft Gefahr, sich zu überladen. Auch Facebook hat sich keinen Gefallen damit getan, jede Funktion und jedes Format in die blaue App einzubauen.
  • Googles Vorgeschichte: Erinnert sich noch jemand an Google+ oder kann die ungefähr 27 unterschiedlichen Messenger-Plattformen auseinanderhalten, die Google im Monatsrhythmus startet, zusammenlegt und wieder einstampft? Wir auch nicht. Wer es optimistisch auslegt, könnte sagen: Google wäre nicht so erfolgreich, wenn es nicht in der Lage wäre, aus seinen eigenen Fehlern zu lernen. In den vergangenen Jahren hat man sich jedenfalls reichlich Anschauungsmaterial geliefert, wie es nicht funktioniert. Es kann nur besser werden – zumal YouTube selbst ja wunderbar funktioniert.
  • TikToks Vorsprung: YouTube steigt ganz schön spät ins Kurzvideo-Game ein. Facebook hat mit dem längst eingestellten TikTok-Klon Lasso festgestellt, dass es gar nicht so einfach ist, ByteDance ernsthaft Konkurrenz zu machen. Mit Reels läuft es besser, aber selbst Facebook ist es bislang nicht gelungen, TikToks Aufstieg zu stoppen. YouTube startet mit einem gewaltigen Rückstand und wird viele gute Entscheidungen treffen müssen, um TikTok, Reels und Spotlight einzuholen.
  • TikToks Funktionen: Verglichen mit dem großen Rivalen fühlt sich YouTube Shorts bislang ziemlich nackt an. Der Editor ist deutlich reduzierter (YouTube will "im Zuge des Ausbaus von Shorts zukünftig viele weitere Tools" nachlegen), es fehlen etwa direkte Video-Replies auf andere Clips, das beliebte Duett-Feature oder die Möglichkeit, den Empfehlungsalgorithmus ähnlich zu personalisieren wie TikToks For-You-Feed. Auch in Sachen Videolänge ist TikTok schon wieder voraus: Anfang Juli wurden aus 60 Sekunden drei Minuten (TikTok-Newsroom).
  • TikToks Algorithmus und Netzwerkeffekt: TikTok ist beliebt und erfolgreich – und verdammt schwer zu kopieren. Das liegt nicht nur an der Funktionsvielfalt, sondern am Zusammenspiel vieler Faktoren. In einem Essay beschrieb Eugene Wei im Februar, wie einzigartig TikTok ist:

This is why TikTok's network effects of creativity matter. To clone TikTok, you can’t just copy any single feature. It’s all of that, and not just the features, but how users deploy them and how the resultant videos interact with each other on the FYP feed. It’s replicating all the feedback loops that are built into TikTok's ecosystem, all of which are interconnected. Maybe you can copy some of the atoms, but the magic lives at the molecular level.

Be smart

Wir haben in den vergangenen Monaten die US-Version von YouTube Shorts verfolgt. Unser Eindruck: Dort finden sich viele Crossposts von TikTok-Clips und vergleichsweise wenig originärer Content.

Das Verhältnis hat sich aber bereits verändert und dürfte sich künftig weiter verschieben. Das Budget des Creator Fund schüttet YouTube natürlich nur an Shorts aus, die in der YouTube-App produziert wurden. Das könnte ein Anreiz für Creator sein, Ressourcen in YouTube Shorts zu investieren.

Zudem ist YouTube sehr aktiv dabei, Shorts zu bewerben, und spricht Creator und deren Management an (Bloomberg), um die Vorzüge der Plattform zu betonen:

"It’s the biggest opportunity for YouTube creators or YouTube wannabes in the past five years,"" said Eyal Baumel, who represents several top online creators. "I’ve worked with YouTube for eight years, and I’ve never seen them so eager to promote a new product.""

Wenn wir Social-Media-Seminare geben, sagen wir oft: Wer herausfinden will, ob Schwimmen Spaß macht, muss sich nass machen. Das gilt auch für YouTube Shorts. Wir raten dringend dazu, die Plattform auszuprobieren. Wer ohnehin Clips für TikTok oder Reels produziert, kann sie einfach auch als Shorts veröffentlichen.

Gerade in der Anfangsphase verändern sich die Seh- und Nutzungsgewohnheiten schnell, und es lohnt sich unserer Meinung nach, damit zu experimentieren. Langfristig raten wir aber dringend dazu, hart zu selektieren. Um ein halbes Dutzend Netzwerke angemessen zu bespielen, braucht es enorme Ressourcen. Drei gute Social-Media-Präsenzen sind besser als sieben halbgare.


Social Media & Politik

  • Beschwerde gegen WhatsApp: Die Europäische Verbraucherorganisation BEUC hat sich bei der EU-Kommission über WhatsApp beschwert (BEUC). Der Grund: WhatsApp nötige seine Nutzerïnnen zu sehr, den neuen Nutzungsbedingungen zuzustimmen. Ähm, ja, da könnte was dran sein.
  • Biden will mehr Wettbewerb: US-Präsident Biden hat eine Executive Order unterzeichnet, die für mehr Wettbewerb zwischen den Tech-Plattformen sorgen könnte. Wir schauen uns das demnächst noch einmal ausführlicher an. Heute erst einmal nur der Verweis auf die Berichterstattung von Süddeutsche, Techdirt und New York Times.
  • Twitter haftet in Indien für Inhalte der Nutzerïnnen: Twitter ist in Indien künftig für die geposteten Inhalte seiner Nutzerïnnen rechtlich verantwortlich und haftet gegebenenfalls dafür (Reuters).

Creator Economy

  • Facebooks Kampf um Creator: Die geschätzten NYT-Journalisten Mike Isaac und Taylor Lorenz haben einen sehr lesenswerten Artikel über Facebooks Kampf um Creator geschrieben. Ihr Take: So sehr Facebook sich auch bemüht, es dürfte extrem schwer werden, Creator zu Facebook zu locken. YouTube und TikTok waren einfach früher am Start…
  • YouTube lanciert neuen New-To-You-Feed: TikToks Erfolg basiert bekanntlich vor allem auf dem extrem gut gemachten For-You-Feed, der Nutzerïnnen immer wieder neue, passgenaue Videos präsentiert. Um in der Gunst der Userïnnen nicht abzufallen, führt YouTube nun etwas ähnliches ein: der sogenannte New-To-You-Feed (Creator Insider, YouTube) ist mobile-only und soll den YouTube-Feed wieder etwas interessanter machen.

Neue Features bei den Plattformen

Twitter

WhatsApp

  • Bessere Foto-Qualität: Fotos werden bei WhatsApp vor dem Senden standardmäßig ziemlich arg runtergerechnet. Das ist zwar praktisch, aber der Foto-Qualität nicht besonders zuträglich. Wabetainfo berichtet, dass WhatsApp nun an einem Feature arbeitet, mit dem sich Fotos künftig auch in hoher Qualität verschicken lassen sollen.

TikTok

  • Automatisches Löschen: TikTok führt ein neues System ein (Newsroom TikTok), mit dem das Unternehmen Videos, die gegen die Richtlinien verstoßen, automatisch nach dem Upload blockieren kann. Laut TikTok könne sich das Sicherheitsteam so stärker auf schwieriger zu differenzierende Inhalte wie Hassreden, Mobbing und Belästigung konzentrieren.
  • TikTok jetzt auf Fire TV: Wer Amazon Fire TV nutzt, kann jetzt auch zuhause auf dem Fernseher TikTok-Videos schauen (Newsroom TikTok). TikTok hat das Feature in Deutschland, Frankreich und UK gelauncht. Wir werden das direkt mal ausprobieren und melden uns dann vermutlich in sieben Wochen wieder…

One more thing

You Really Need to Quit Twitter: Caitlin Flanagan beschreibt bei The Atlantic sehr eindrücklich, warum die Welt besser dran wäre, wenn wir uns alle von Twitter zurückziehen. Wäre es nur nicht schwierig, sich von der Plattform zu lösen… Auch lesenswert dazu: Johannes Kuhns Gedanken zum Text. Er sieht Twitter als Gewässer, das gekippt ist: „Twitter entspricht einem dysfunktionalen Forum, einer Community, die wie ein Gewässer ,gekippt ist‘ „


Header-Foto von Angela Compagnone bei Unsplash