Warum sich Online-Werbung 2021 grundlegend verändern könnte

Was ist

Bereits im November 2019 titelte The Correspondent: "The new dot com bubble is here: it’s called online advertising". Bislang ist die angebliche Blase, vor der Jesse Frederiks und Maurits Martijn damals warnten, nicht geplatzt.

Doch es mehren sich die Anzeichen, dass das 2021 passieren könnte – oder zumindest eine ganze Menge Luft aus der 300-Miliarden-Dollar-Branche entweichen könnte, die auf Adtech und den Effizienzversprechen von Targeting und personalisierter Werbung beruht.

Warum das wichtig ist

Das halbe Netz ist werbefinanziert. Hunderte große Konzerne und Tausende kleine Unternehmen haben ihr Geschäftsmodell auf Online-Werbung aufgebaut. Das gilt nicht nur für das Silicon Valley (Facebook und Google besitzen gemeinsam ein Duopol von rund 70 Prozent des digitalen Werbemarkts), sondern auch für Verlage (Übermedien). Wer in irgendeiner Form Anzeigen bucht und vermittelt, Werbefläche zu Verfügung stellt oder Targeting betreibt, sollte sich auf Turbulenzen einstellen.

Wie wir das Thema covern

Wir sind keine Marketing-Experten. Wir haben auch keine Glaskugeln und wissen natürlich nicht, was 2021 geschehen wird. Aber wir haben in den vergangenen Monaten Dutzende Texte und mehrere Bücher zu dem Thema gelesen, Podcasts gehört, Hintergrundgespräche geführt und an (virtuellen) Konferenzen teilgenommen.

Wir werden das Thema im kommenden Jahr intensiver begleiten und immer wieder tiefer einsteigen, wenn ein aktueller Anlass besteht. In diesem Briefing zeigen wir nur die grundlegenden Entwicklungen auf, die sich seit Jahren abzeichnen und 2021 weiter verschärfen dürften. Dafür fassen wir die Eckpunkte der Debatte zusammen und verlinken einige weiterführende Texte.

Warum Online-Werbung auf tönernen Füßen steht

  • In "Subprime Attention Crisis: Advertising and the Time Bomb at the Heart of the Internet" (Goodreads) vergleicht Tim Hwang die Online-Werbebranche mit der Immobilienblase (Branded), die 2008 nach der Pleite der Lehman Brothers platzte.
  • Das Wettbieten um Werbeplätze beim Programmatic Advertising baue auf algorithmisch gesteuerten Echtzeit-Transaktionen auf – die fatal an die Hochgeschwindigkeits-Trades an der Börse erinnerten, mit denen Kredite angekauft und verkauft wurden.
  • Die ganze Branche ist extrem intransparent und beruht auf fragwürdigen Metriken und wenig aussagekräftigen Zahlen mit vielen Nullen, die kaum jemand richtig versteht.
  • Oft genug sind diese Zahlen auch schlicht falsch: Immer wieder (AdAge) wurde etwa bekannt (The Verge), dass Facebook (Marketingland) seinen Werbekunden (SocialMediaToday) falsche Metriken mitgeteilt hat – und es gibt wenig Grund zur Annahme, dass das bei anderen Plattformen gänzlich anders aussieht.
  • Bei Online-Werbung dreht sich alles um die Aufmerksamkeit der Nutzerïnnen, die angeblich Hunderte Milliarden Dollar wert sein soll – doch es ist unklar, ob diese Summe nicht viel zu hoch angesetzt ist.
  • Denn seit Jahren wissen wir, dass ein Großteil des ganzen Netzes Fake ist (NYMag): Bots machen rund die Hälfte des gesamten Traffics aus, rufen Seiten auf, klicken auf Anzeigen und tun so, als seien sie echte Menschen.
  • Fake-Accounts und Fake-Reviews mögen eine geringere Gefahr für die Demokratie sein, als Medien oft suggerierten – aber sie sind eine große Gefahr für eine Branche, der irgendwann auffallen könnte, dass Werbekunden viel Geld dafür ausgeben, dass ein kompliziertes Geflecht aus Adtech-Firmen und Agenturen über automatisierte Werbenetzwerke an Auktionen teilnimmt, bei denen der Gewinner Anzeigen auf teils dubiosen Seiten wie Breitbart (Twitter / Nandini Jammi) schalten "darf", die zu einem Gutteil von Maschinen aufgerufen werden, woraufhin die Werbetreibende irreführende Reportings über die angeblich ach so effektiven Buchungen erhalten.
  • Hinzu kommt, dass unklar bleibt, wie wirksam personalisierte Werbung wirklich ist, selbst wenn sie echte Menschen erreicht. Als der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Dänemark in Folge der DSGVO entschied, Cookies von Opt-out auf Opt-in umzustellen, folgte eine große Überraschung: Der erwartete Einbruch der Werbeerlöse blieb aus (Wired).
  • Kurz darauf verbannte der Sender Cookies vollständig – und die Einnahmen durch Online-Anzeigen stiegen trotz der Corona-Pandemie. Statt einen signifikanten Teil der Erlöse an Mittelsmänner wie Google abzugeben, vermarktete NPO sich selbst und setzte nicht mehr auf personalisierte, sondern auf kontextualisierte Anzeigen (Pluralistic). Die Werbung beruhte also nicht auf den vermuteten Interessen der Nutzerïnnen, sondern auf den Inhalten der aufgerufenen Seite.
  • Der Erfolg wirft zumindest die Frage auf, ob Microtargeting tatsächlich so effektiv und Facebooks und Googles Datenschätze wirklich so wertvoll sind, wie immer angenommen wird. "The whole edifice of online advertising is, in short, bunk", sagt Hwang (Wired).
  • Wer seinen Adblocker deaktiviert, wundert sich ohnehin, woher der Hype ums Targeting kommt: Ich kaufe einen Fahrradhelm – prompt sehe ich Dutzende Anzeigen für Fahrradhelme (klar, man kann nie genug davon haben). Kurz danach bestelle ich einen Mixer – prompt sehe ich Mixer-Werbung (klar, man kann nie genug davon haben). Frank Patalong hat das in diesem Blogeintrag schön und prägnant zusammengefasst.
  • Es gibt etliche anschauliche Beispiele, bei denen große Unternehmen ihr Werbebudget teils radikal zusammenstrichen und exakt gar keine Auswirkungen auf ihr Kerngeschäft spürten. Das heißt natürlich nicht, dass Werbung per se nutzlos ist. Aber es zeigt, dass Henry Ford auch 2021 noch richtig liegt ("Ich weiß, die Hälfte meiner Werbung ist rausgeworfenes Geld. Ich weiß nur nicht, welche Hälfte.") – das Problem für die Branche ist nur, dass es mittlerweile Möglichkeiten gäbe, die nutzlose Hälfte zu identifizieren.
  • Cory Doctorow sieht das Heilsversprechen personalisierter Werbung als eines der Grundübel des heutigen Netzes (Pluralistic), das den Überwachungskapitalismus mit hervorgebracht habe:

Namely, that we are under constant surveillane because monopolies can get away with obviously fraudulent and dangerous conduct by mobilizing their monopoly profits to buy political outcomes that serve their ends. (…) All that money was spent to maintain the fiction, the fraud, the bezzle – it was an appeal to rescue the wholly fictional pony underneath that gigantic pile of shit.

Was das neue Jahr bringt

  • Chrome wird bis 2022 Third-Party-Cookies abschaffen (Heise). Andere Browser verzichten bereits darauf. Das dürfte signifikante Auswirkungen auf die Branche haben.
  • Auch deshalb setzen New York Times (Axios) und Washington Post auf proprietäre Inhouse-Lösungen, um unabhängiger zu werden (Digiday).
  • Die Situation in Deutschland, beeinflusst von einem BGH-Urteil und der Umsetzung der E-Privacy-Richtlinie, beleuchtet Torsten Kleinz in einer zweiteiligen Artikelserie (iRights).
  • Besonders einschneidend könnte der Plan sein, den Apple verfolgt (Apple Developer): In den kommenden Wochen soll der Advertising Identifier (IDFA) von Opt-out auf Opt-in umgestellt werden. Diese einmalige Werbe-ID ermöglicht es, Nutzerïnnen quer über Apps und Webseiten hinweg zu tracken.
  • Dagegen protestiert vor allem Facebook, das von den Änderungen selbst hart betroffen wäre – stattdessen aber die Interessen kleiner und mittelständischer Unternehmen vorschiebt und sogar warnt, dass Apple das freie Netz gefährde.
  • Wir haben den Streit kurz vor Weihnachten in Briefing #691 analysiert. Zwischen den Jahren habe ich noch mal ausführlicher erklärt, warum das "App Tracking Transparency"-Framework so große Panik bei Facebook auslöst und die halbe Werbebranche in Aufregung versetzt (SZ).

Be smart

Bislang hat die Corona-Krise kaum Spuren in der Online-Werbebranche hinterlassen. Im Gegenteil: Adtech-Aktien steigen, Vermarkter umgehen mit manipulativen Cookie-Banner die Absicht der DSGVO und freuen sich über steigende Erlöse (Heise).

Deshalb ist der Konjunktiv in unserer Überschrift entscheidend: Wenn Werbetreibende realisieren, dass ein Teil ihrer Ausgaben auf leeren Versprechen beruht, dann könnte es ein mieses Jahr für Online-Werbung werden. Das galt allerdings auch schon in jedem der vergangenen Jahre.

Unsere Vermutungen beruhen auf einer Mischung aus Wunschdenken, dem absehbaren Ende der Third-Party-Cookies, Apples Werbe-Opt-in und voraussichtlich sinkenden Werbebudgets (Corona dürfte uns noch eine Weile begleiten), die dazu führen könnten, dass mehr Unternehmen hinterfragen, wofür sie eigentlich ihr Geld ausgeben.


Warum wir Signal und Threema empfehlen

Was ist

Weihnachten liegt hinter uns. Großeltern und Kinder haben neue Smartphones bekommen. Das wirft in vielen Familien die Frage auf: Über welchen Messenger sollen wir chatten?

Unser Rat

Wir empfehlen seit Jahren Signal und Threema als sichere und datensparsame Lösungen. Warum wir das jetzt noch mal aufgreifen? Weil einige aktuelle Entwicklungen erneut zeigen, warum diese beiden Messenger eine gute Wahl sind – und andere, bekanntere Alternativen eher nicht:

  • Mitte Dezember führte Signal Ende-zu-Ende-verschlüsselte Gruppen-Videotelefonate ein (Signal) und bietet damit beste Voraussetzungen für den Pandemie-Plausch mit Eltern und Freundïnnen.
  • Kurz darauf kursierte eine Meldung (BBC), dass das israelische Unternehmen Cellebrite die Verschlüsselung von Signal ausgehebelt und Nachrichten lesen könne. Die Überschrift ("Cellebrite claimed to have 'cracked' chat app's encryption") ist dermaßen daneben, dass wir gar nicht auf die Details eingehen, sondern nur auf Signal-Gründer Moxie Marlinspike verweisen, der erklärt (Signal), warum die BBC Unsinn verbreitet.
  • Ungefähr zur selben Zeit gab Threema bekannt, dass iOS- und Android-Apps ab sofort quelloffen sind. Wer will, kann den Code analysieren. Zusätzlich gibt es regelmäßige externe Audits (alle Threema).
  • WhatsApp ist zwar ebenfalls sicher, weil es dasselbe Krypto-Protokoll nutzt wie Signal. Dafür sammelt es massenhaft Metadaten (Forbes), die auch bei Facebook landen. Seit Kurzem zeigt Apple im App-Store an, auf welche Daten Apps zugreifen wollen. Wer WhatsApp und den Facebook Messenger mit iMessage oder Signal vergleicht, könnte ins Grübeln kommen, ob es sich nicht vielleicht doch lohnt, ein bisschen Überzeugungsarbeit zu leisten, um mit dem Familienchat umzuziehen.
  • Und Telegram? Ist das nicht auch irgendwie Krypto? Ähm. Nein. Telegram wird nicht nur von Rechtsradikalen, Verschwörungsgläubigen und Kriminellen genutzt (Deutschlandfunk), sondern verzichtet standardmäßig auf E2EE, greift auf Metadaten und Kontakte zu, verwendet zweifelhafte kryptografische Verfahren und setzt voraus, dass man den Betreibern vertraut.
  • So praktisch die vielen Funktionen erscheinen, so gut die Apps gemacht sind, so angenehm die plattformübergreifende Synchronisierung ist – bei Sicherheit und Datenschutz ist Telegram abgeschlagen (Gardion).

Neue Features bei den Plattformen

Google

  • Kurzvideos in Google Suche: Google testet derzeit, Kurzvideos in die Suchergebnisse aufzunehmen. Analog zu den Video-Ergebnissen und Tweets, die Google im Such-Karussell präsentiert, [könnten künftig dann Kurzvideos von Instagram und TikTok aufgeführt werden](https://techcrunch.com/2020/12/29/google-pilots-a-search-feature-that-aggregates-short-form-videos-from-tiktok-and-instagram/). (Techcrunch)

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