Die "Facebook-Files" bekommen einen Namen und ein Gesicht

Was ist

Während wir diesen Newsletter schreiben, waren Facebook, Instagram und WhatsApp für rund sechs Stunden down (NYT). Facebook zufolge gab es ein Konfigurationsproblem. Die Fehlernachricht, die Facebook zunächst einblendete, passt gut zu Facebooks vergangenen Wochen:

Sorry, something went wrong. We're working on it and we'll get it fixed as soon as we can.

Denn seit dem 13. September veröffentlicht das Wall Street Journal eine bemerkenswerte Recherche nach der anderen. Mittlerweile sind wir beim achten Teil der Facebook-Files angelangt, die unsere vergangenen Briefings dominiert haben. Spannender als der neueste Aufschlag, der sich mit dem sinkenden Einfluss von Sheryl Sandberg und dem Machtgefüge innerhalb von Facebook beschäftigt, ist eine andere aktuelle Entwicklung: In der Nacht von Sonntag auf Montag hat die Frau, die hinter den Enthüllungen steckt, ihr erstes öffentliches Interview gegeben.

Die ehemalige Facebook-Angestellte Frances Haugen gab sich zur besten US-Sendezeit im CBS-Format "60 Minutes" als Whistleblowerin zu erkennen. Am Dienstag wird sie im Unterausschuss für Verbraucherschutz, Produktsicherheit und Datensicherheit des US-Senats als Zeugin auftreten.

Wir fassen zusammen, was nach dem Auftritt über Haugen und ihre Motivation bekannt ist und welche konkreten Vorwürfe sie Facebook macht. Zudem erklären wir, warum Facebook wohl versuchen wird, die Facebook-Files wie jede andere Krise auszusitzen – und welche Gefahren das für den Konzern birgt.

Warum Haugen zur Whistleblowerin wurde

  • Frances Haugen ist 37 Jahre alt und kündigte im vergangenen April ihren Job in Facebooks Team für Civic Integrity. Davor arbeitete sie knapp zwei Jahre für Facebook.
  • Dem WSJ erzählte sie eine berührende Geschichte: Angeblich ging vor einigen Jahren eine enge Freundschaft zu Bruch, weil ihr Freund sich in rechten Verschwörungserzählungen verlor.
  • Das sei ihre Motivation gewesen, sich beruflich mit Desinformation zu beschäftigen: "It’s one thing to study misinformation, it’s another to lose someone to it", sagt Haugen.
  • Bei Facebook stellte sie schnell fest, dass ihr Team krass unterbesetzt war. Ihren Aussagen zufolge konnten sich die Angestellten nur um ein Drittel der Fälle kümmern, weil es an Ressourcen fehlte.
  • Je länger sie bei Facebook war, desto offensichtlicher seien die Probleme geworden. Ihre Hauptvorwürfe finden sich allesamt in den Facebook-Files, über die wir in vier Newslettern ausführlich berichtet haben. Deshalb gehen wir inhaltlich nicht mehr im Detail darauf ein und konzentrieren uns auf die wenigen neuen Aspekte.
  • Zusammengefasst lässt sich sagen: Haugen beschuldigt Facebook, Wachstum höher zu priorisieren als die Sicherheit seiner Nutzerïnnen. Insbesondere außerhalb der USA würden Risiken und Nebenwirkungen oft ignoriert.
  • Als der Newsfeed 2018 umgestellt und "Meaningful Social Interactions" gestärkt werden sollten, habe das tatsächlich dazu geführt, dass der Algorithmus hasserfüllte Inhalte verbreitete – weil die besonders viel Interaktionen hervorrufen.
  • Das sei Facebook bewusst gewesen, man habe aber nichts dagegen unternommen:

„Facebook has realized that if they change the algorithm to be safer, people will spend less time on the site, they’ll click on less ads, they’ll make less money."

  • Angeblich hätten sich mehrere politische Parteien in Europa bei Facebook darüber beschwert. Nach der Algorithmus-Änderung dringe man nur noch mit "angry, hateful, polarizing, divisive content" durch und müsse Anzeigen schalten, die politische Gegner attackierten. Diese Zitate fänden sich auch in Facebooks eigener Forschung.
  • Ein weiterer Vorwurf betrifft Facebooks Rolle für den Putschversuch am 6. Januar. Nachdem ein wütender Mob das Kapitol gestürmt hatte, wies Facebook öffentlich jede Verantwortung zurück. Intern beklagten Angestellte aber offenbar, dass man sehr wohl dazu beigetragen habe, dass sich die Extremistïnnen radikalisieren und organisieren konnten – und fragten auf Facebooks Messaging-Board Workplace unter anderem: "Haven't we had enough time to figure out how to manage discourse without enabling violence?"
  • Das ist auch deshalb pikant, weil Facebook Anfang Dezember, nach der vermeintlich gut überstanden US-Wahl, das Team für Civic Integrity auflöste und über andere Abteilungen verteilte – gut einen Monat später folgte der Sturm aufs Kapitol.
  • Haugen hat vor ihrer Zeit bei Facebook unter anderem für Google und Pinterest gearbeitet. Facebook sei damit nicht zu vergleichen: "I’ve seen a bunch of social networks and it was substantially worse at Facebook than anything I’d seen before."
  • Sie sagt aber auch, dass sie Facebook nicht für ein moralisch verkommenes Unternehmen hält. Die meisten Angestellten seien am Wohlergehen der Nutzerïnnen interessiert. Doch die Anreize, die Facebook setze, seien falsch: "No one at Facebook is malevolent, but the incentives are misaligned."
  • Das gelte auch für Mark Zuckerberg, mit dem sie "eine Menge Mitgefühl" empfinde: "Mark has never set out to make a hateful platform. But he has allowed choices to be made where the side effects of those choices are that hateful, polarizing content gets more distribution and more reach."
  • Haugen verließ Facebook im Frühjahr und sammelte im Laufe der letzten Monate jenes Material, das sie später dem WSJ zuspielte. Die internen Studien und Dokumente waren größtenteils für alle der gut 60.000 Beschäftigten über Workplace zugänglich.
  • An ihrem letzten Arbeitstag schrieb Haugen eine Art Abschiedsnachricht: "I don’t hate Facebook. I love Facebook. I want to save it." Facebook wäre es wohl lieber gewesen, wenn sie dafür einen anderen Weg gewählt hätte.

Wie sich Facebook wehrt

  • Als Reaktion auf die Recherchen des WSJ hat sich Facebook für eine recht aggressive Vorwärtsverteidigung entschieden. In mehreren Blogeinträgen versuchte man, die Berichterstattung in Zweifel zu ziehen und als "cherry picking" zu diskreditieren.
  • Auch auf die Vorwürfe von Haugen folgte ein ausführliches Dementi (Twitter / Mike Isaac). Bereits am Freitag verschickte Facebook ein internes 1500-Wörter-Memo an Angestellte (NYT), in dem Policy-Chef Nick Clegg die Anschuldigungen als irreführend bezeichnete und schrieb:

„But what evidence there is simply does not support the idea that Facebook, or social media more generally, is the primary cause of polarization."

  • Nachdem CBS das Interview ausgestrahlt hatte, trat Clegg seinerseits bei CNN auf und wiederholte: "To suggest we encourage bad content and do nothing is just not true." (Allerdings hat auch niemand behauptet, dass Facebook "nichts" unternehme – nur eben nicht genug.)
  • Als "irrwitzig" bezeichnete er die Behauptung, Facebook sei für die Ereignisse des 6. Januars mitverantwortlich. Dem WSJ warf er vor, die Facebook-Files enthielten "bewusste Falschdarstellungen" – allerdings ohne genauer zu sagen, worin diese bestehen sollen.
  • Ein Facebook-Sprecher teilte außerdem mit, dass man seit 2016 mehr als 13 Milliarden US-Dollar in Sicherheit investiert und Teams und Technologien gestärkt habe.
  • Das klingt nach einer gewaltigen Summe. Wenn man sich aber klarmacht, dass Facebook allein im vergangenen Quartal fast so viel verdient, wie es in den vergangenen fünf Jahren für Sicherheit ausgegeben hat, dann relativiert sich die große Zahl.
  • Zumal es auch weniger darum geht, wie viel Geld Facebook für Sicherheit in die Hand nimmt, sondern eher um die Frage, ob es bereit ist, auf noch deutlich mehr Geld zu verzichten, wenn sich herausstellt, dass bestimmte Maßnahmen helfen könnten – aber auch zulasten von Interaktionen, Engagement und Verweildauer gehen. Die aktuellen Enthüllungen erwecken den Eindruck, dass Facebook andere Prioritäten setzt.

Was die Facebook Files bewirken könnten

  • Von außen betrachtet wirkt Facebook Krisenkommunikation oft merkwürdig: ausweichende Antworten, überspezifische Dementi, unsouveräne Reaktionen.
  • Doch wenn es ein Unternehmen gibt, das wissen sollte, wie es mit PR-Krisen umgehen muss, dann ist das wohl Facebook. Zumindest hatte in den vergangenen Jahren niemand sonst so viel Gelegenheit, Erfahrung mit Missgeschicken und miesen Schlagzeilen zu sammeln.
  • Und so gern Medien auch meckern: Bislang ist Facebooks Strategie fast immer aufgegangen. Der Ruf mag gelitten haben, aber solange Menschen die Plattformen nutzen und Werbekunden Anzeigen schalten, sind die meisten Investorïnnen zufrieden. Am Ende zählen für Facebook keine Beliebtheitswerte, sondern der Aktienkurs, und an dem ändern auch die Facebook-Files nur wenig.
  • Dennoch haben die Vorwürfe eine andere Qualität als die meisten der früheren Anschuldigungen. Mit Frances Hagen steht dahinter keine anonyme Whistleblowerin, sondern eine Frau, die mit Namen und Gesicht in die Öffentlichkeit geht.
  • Hinzu kommen die Zehntausenden Seiten Material, die Hagen nicht nur Medien, sondern auch der US-Börsenaufsicht zugänglich gemacht hat. Sollte die SEC zum Schluss kommen, dass Facebook seine Investorïnnen bewusst getäuscht hat, könnte es teuer werden.
  • Offenbar ist sich Facebook der Gefahr bewusst: in den vergangenen Wochen soll sich eine Krisensitzung an die nächste gereiht haben, berichten Mike Isaac, Sheera Frenkel und Ryan Mac: "The effort has been so time-consuming that several projects due to be completed around this time have been postponed, said people with knowledge of the company’s plans."
  • Demnach geht Facebook unter anderem intern auf Suche nach undichten Stellen und versucht, weitere Leaks mit aller Macht zu verhindern.
  • Yaël Eisenstat, bis Ende 2018 bei Facebook für den Schutz von Wahlen zuständig, glaubt trotzdem, dass die Verantwortlichen die Auswirkungen unterschätzen (Vox):

“ I think Facebook is miscalculating what a watershed moment this is, not just because the public now has eyes on these documents, but because employees are starting to get angry."

  • Tatsächlich sind revoltierende Mitarbeiterïnnen nur eine der Gefahren, die Facebook mittel- bis langfristig drohen. Wenn Hagen am Dienstag im Senat spricht, dürften etliche Politikerïnnen ganz genau hinhören. Bislang haben USA und EU in Sachen Regulierung eher gedroht als gehandelt, aber das kann sich ändern – und eine Whistleblowerin, die massig Material liefert, könnte zu schärferen Gesetzen beitragen.
  • Haugen hat einen Teil der Dokumente jedenfalls schon mit zwei US-Senatorïnnen geteilt und außerdem mit EU-Abgeordneten gesprochen. Im Laufe des Oktobers wird sie unter anderem in London, Lissabon und Brüssel auftreten.
  • Die EU arbeitet bekanntlich am Digital Services Act, der die Macht der Plattformen begrenzen soll. Je mehr Details über die Schattenseiten von Facebook und Instagram öffentlich werden, desto schwerer dürfte es den Tech-Lobbyistïnnen fallen, drohende Regulierung zu verhindern.

Be smart

Jedes Mal, wenn Facebook in die Kritik gerät, gibt es Menschen, die vorhersagen, dass dieser Skandal anders sei. Diesmal drohten wirklich Konsequenzen, diesmal werde es wirklich gefährlich – im Gegensatz zu den 357 anderen Aufregern, als drei Tage oder spätestens drei Wochen später niemand mehr darüber sprach.

Bislang hat sich keine dieser Prophezeiungen bewahrheitet. Deshalb überlassen wir das Glaskugellesen zwei Experten, deren Sachverstand wir schätzen. Kevin Roose glaubt zwar nicht, dass die Facebook-Files selbst Facebook in Gefahr bringen werden – aber er meint, aus den Dokumenten herauslesen zu können, dass Facebook in ernsthaften Schwierigkeiten stecke (NYT):

Not financial trouble, or legal trouble, or even senators-yelling-at-Mark-Zuckerberg trouble. What I’m talking about is a kind of slow, steady decline that anyone who has ever seen a dying company up close can recognize. It’s a cloud of existential dread that hangs over an organization whose best days are behind it, influencing every managerial priority and product decision and leading to increasingly desperate attempts to find a way out. This kind of decline is not necessarily visible from the outside, but insiders see a hundred small, disquieting signs of it every day — user-hostile growth hacks, frenetic pivots, executive paranoia, the gradual attrition of talented colleagues.

Auch Alex Kantrowitz sieht für Facebook langfristig eine größere Gefahr als kritische Recherchen (Big Technology / Substack):

As Facebook continues to become embroiled in scandal, the company gets not only more comfortable handling the crisis but also better at it. Facebook has little financial incentive to change its behavior. Wall Street, advertisers, and Facebook’s users aren’t running away. "Facebook’s value proposition to consumers and to advertisers is so strong and proven that it would take a LOT for consumers and advertisers to leave it," said Mark Mahaney, a senior managing director at Evercore, the investment bank. "I think the bigger long-term risk is the rise of competing platforms like TikTok."


Header-Foto von Jeremy Thomas