Instagram, Teenager und mentale Gesundheit: Es bleibt kompliziert

Was ist

Es ist mal wieder jede Menge los:

  • Forscherïnnen haben einen offenen Brief an Mark Zuckerberg geschrieben, weil sie unabhängig untersuchen wollen, wie sich Instagram auf die Psyche von Jugendlichen auswirkt.
  • Eine Organisation hat eine Studie veröffentlicht, in der sie Instagram vorwirft, manchen Mädchen den Weg in die Essstörung zu weisen.
  • Instagram selbst hat neue Funktionen angekündigt, um Teenager zu schützen.
  • Und dann muss sich am Mittwochabend auch noch Instagram-Chef Adam Mosseri den Fragen der US-Senatorïnnen stellen.

Warum das wichtig ist

Fast alle Jugendlichen nutzen Apps wie Instagram, Snapchat oder Tiktok. Die Forschung ist sich einig, dass dieses Verhalten Folgen hat – aber sie ist sich uneins, welche. Seit in den Facebook-Files interne Untersuchungen auftauchten, aus denen manche Medien schlussfolgerten, dass Instagram der psychischen Gesundheit von Teenagern schadet, ist die Diskussion neu entbrannt – hitziger und kontroverser denn je.

Was Oxford-Forscherïnnen fordern

  • Wissenschaftlerïnnen des Oxford Internet Institute haben einen offenen Brief an Zuckerberg initiiert (Universität Oxford), den Hunderte Forscherïnnen unterzeichnet haben.
  • Ihre zentrale Forderung: Instagram soll sich für die Wissenschaft öffnen, damit untersucht werden kann, wie das Netzwerk die mentale Gesundheit von Teenagern beeinflusst.
  • Auf den ersten Blick scheint die Lage eindeutig zu sein: 13 Prozent der britischen Teenager, die Selbstmordgedanken haben, geben dafür Instagram als Auslöser an. Bei einem Drittel der Mädchen, die sich unwohl in ihrem Körper fühlen, verschärft die Plattform die negative Selbstwahrnehmung.
  • Diese Zahlen stammen aus den geleakten Facebook-Files. Instagram führte die Befragungen im Jahr 2019 selbst durch, hielt sie aber unter Verschluss.
  • Für viele Medien, Politiker und Eltern lassen die Ergebnisse nur einen Schluss zu: Instagram ist Teufelszeug, Kinder und Jugendliche sollten bloß die Finger von der App lassen.
  • Doch schaut man sich die "Studie" genauer an, wird schnell klar, warum es nicht ganz so einfach ist: Tatsächlich führten insgesamt nur 16 Teenager ihre suizidalen Gedanken auf Instagram zurück. Aufgrund der kleinen Stichprobe wurden daraus 13 Prozent in Großbritannien und sechs Prozent in den USA.
  • Unter zwölf Faktoren ist die Körperwahrnehmung der einzige, bei denen mehr Mädchen Instagram einen negativen als einen positiven Einfluss zuschreiben.
  • Fragt man nach Problemen wie Einsamkeit, Essstörungen, Angstzuständen oder Traurigkeit, wird Instagram häufiger als Teil der Lösung denn als Teil des Problems genannt. In fast allen Fällen sagt eine Mehrheit der Befragten, die Nutzung der Plattform wirke sich weder in die eine noch in die andere Richtung aus.
  • "Die Studien, die in den Facebook Files auftauchen, eignen sich nicht, um seriöse Rückschlüsse zu ziehen", sagt deshalb Niklas Johannes, der in Oxford zu dem Thema forscht. Es brauche etwa repräsentative Stichproben, und man müsse Korrelation und Kausalität trennen.
  • Sein Institutsleiter Andrew Przybylski sieht das ähnlich: "Diese Arbeit ist nicht nur methodisch fragwürdig, sie wird auch im Verborgenen durchgeführt. Deshalb sind solche Studien fehlgeleitet und, nach heutigem Stand, zum Scheitern verurteilt."
  • Instagram begründet die Geheimniskrämerei auch mit der Privatsphäre der Nutzerïnnen. In den vergangenen Monaten wurden zwei Forschungsprojekte gestoppt (SZ), die Instagrams Algorithmen und politische Werbung auf Facebook durchleuchten sollten – angeblich aus Datenschutzgründen (Facebook Newsroom).
  • Meta betreibt zwar mehrere Projekte (Facebook Research), die unabhängige Studien ermöglichen sollen, doch die beteiligten Wissenschaftlerïnnen klingen zunehmend frustriert (FT). Teils werde mit nicht nachvollziehbaren Argumenten blockiert, teils stellt Meta auch schlicht falsche Daten zur Verfügung (Washington Post).
  • Bis zu einem gewissen Grad ist die Zurückhaltung nachvollziehbar. Die Aufregung um Cambridge Analytica hätte es ohne offene Schnittstellen nicht gegeben. Insofern verstehen wir, warum Facebook Daten nur sehr vorsichtig rausrückt.
  • Tatsächlich ist es technisch eine große Herausforderung, Daten zuverlässig zu anonymisieren – gerade bei den gewaltigen Mengen an Daten, die Meta besitzt.
  • Dennoch macht es uns stutzig, dass ausgerechnet ein Konzern, der Tausende talentierte Entwicklerïnnen beschäftigt, nicht in der Lage sein soll, über einen Zeitraum von mehreren Jahren hinweg sichere Schnittstellen für seriöse Forschungsinstitutionen aufzusetzen.
  • Eigentlich müsste es sogar im Interesse von Meta sein, transparenter zu werden: Wenn die Plattform Jugendlichen tatsächlich eher nutzt als schadet, wäre es doch die bestmögliche Öffentlichkeitsarbeit, das durch unabhängige Forschung belegen zu lassen.
  • Dann müsste sich das PR-Team auch nicht alle paar Monate über "cherry picking" beschweren, weil Medien angeblich bewusst Informationen aus dem Kontext rissen, um Meta schlecht dastehen zu lassen. Win-win, oder?

Was Reset Instagram vorwirft

  • Fünf Forscherïnnen der Organisation Reset haben für eine Studie "Thinstagram" untersucht: den vergleichsweise kleinen, aber gefährlichen Teil von Instagram, in dem Magersucht keine Krankheit, sondern eine Auszeichnung ist.
  • Die Initiative Reset will ein Gegengewicht zu den großen Tech-Konzernen bilden und wird von mehreren großen Stiftungen und Organisationen finanziert (reset.tech). Sie erhält auch Geld von Luminate, einem Projekt, hinter dem Ebay-Gründer Pierre Omidyar steckt.
  • Diese Finanzierung macht Reset in den Augen mancher Kritikerïnnen angreifbar. Wir kennen und schätzen mehrere Menschen, die für Reset arbeiten, und halten die Untersuchung für seriös. Einige Sätze und Schlussfolgerungen empfinden wir als zugespitzt bis tendenziös, das ändert aber nichts an unserer grundlegenden Einschätzung.
  • Für den experimentellen Teil der Studie haben die Forscherïnnen mehrere anonyme Profile erstellt, auf denen zwar keine Gesichter zu sehen sind, dafür aber dürre Beine, knochige Hüften und Fotos, auf denen man jede Rippe einzeln zählen kann. In der ersten Woche teilten sie eine Handvoll Bilder und folgten einigen Dutzend Accounts, die extrem dünne oder eindeutig anorektische Schönheitsideale propagieren.
  • Obwohl der Account nach sechs Tagen jegliche Aktivität einstellte, gewann er konstant an Reichweite, derzeit hat er rund 900 Follower. Reset schlussfolgert daraus, dass Instagram das Konto und dessen trotz der problematischen Inhalte wohl aktiv empfohlen hat, anders sei das Wachstum nicht zu erklären.
  • Mindestens genauso erschreckend: Bereits am vierten Tag meldete sich der erste selbsternannte "Ana-Coach" per Direktnachricht. Hinter diesen Accounts verbergen sich meist Männer, die vorgeben, den Mädchen beim Abnehmen helfen zu wollen. Sie verlangen dafür Fotos, angeblich um die Fortschritte beim Gewichtsverlust zu kontrollieren.
  • Oft belästigen sie die Teenager auch oder drohen mit sexualisierter Gewalt. Manche nutzen Instagram, um mit Jugendlichen in Kontakt zu kommen, und versuchen dann, die Kommunikation über Messenger wie Telegram fortzusetzen – dort ist das Risiko noch geringer, entdeckt zu werden.
  • "Wir entfernen Inhalte, die Essstörungen verherrlichen oder Anregungen dazu geben", schreibt Instagram in seinem Hilfebereich. Genau das geschehe aber nicht zuverlässig, sagt Reset.
  • Zwar werden bestimmte Hashtags und Suchbegriffe geblockt, dennoch gibt es Dutzende Stichwörter, über die sich problematische Inhalte finden lassen. Teils blendet Instagram vorher einen Hinweis ein und listet Hilfsangebote für Menschen auf, die sich in psychischen Notlagen befinden. Teils fehlen Warnungen und Vorsichtsmaßnahmen.
  • Der Umgang mit solchen Themen ist herausfordernd, schließlich tauschen sich über Instagram auch Teenager aus, die sich aus einer Magersucht herauskämpfen. Sie spenden sich gegenseitig Kraft und zeigen, dass Anorexie keine Einbahnstraße ist. Einfach alle Fotos abgemagerter Körper zu löschen, ist also keine Lösung.
  • Ein Teil der Beiträge bewegt sich aber nicht in einer Grauzone, sondern ruft offen zum Hungern auf und nutzt dabei einschlägige Hashtags und Codewörter. 14-jährige Mädchen dokumentieren ihren Gewichtsverlust. Mit jedem Kilo weniger und jeder Rippe mehr wird der Beifall lauter und die Bewunderung in den Kommentaren größer. Zumindest in diesen eindeutigen Fällen müsste Instagram seine eigenen Richtlinien konsequenter durchsetzen.
  • Reset wirft Instagram nicht nur vor, kein Stoppschild aufzustellen – manchmal agiere die Plattform sogar als Wegweiser, der Nutzerïnnen noch tiefer in die Szene lotse. Die Algorithmen der Plattform schlagen selbstständig Fotos und Videos junger Frauen vor, die bis auf die Knochen abgemagert sind. Selbst bei einem Kontrollprofil, dessen Alter aus Testzwecken mit 14 Jahren angegeben wurde, wimmelt der Explore-Bereich von Beiträgen, die den Weg in die Magersucht weisen könnten.
  • Instagram selbst erklärt, man nehme die Themen mentale Gesundheit und Essstörungen sehr ernst. Man versuche, einerseits schädliche Inhalte zu entfernen und es andererseits Menschen zu ermöglichen, über ihre persönlichen Erfahrungen mit Essstörungen zu sprechen.
  • Wir nehmen Instagram den guten Willen ab. Tatsächlich hat sich in den vergangenen Jahren in dieser Hinsicht viel verbessert, die schlimmsten Hashtags werden blockiert, und ein Teil der Inhalte wird entfernt.
  • Doch guter Wille allein reicht nicht. Anorexie gilt als eine der gefährlichsten psychiatrischen Erkrankungen. Zwischen zehn und 15 Prozent der Erkrankten sterben. Die Corona-Pandemie hat das Problem verschärft: Die Zahl der Jugendlichen mit starkem Untergewicht ist im vergangenen Jahr um mehr als ein Drittel gestiegen (DAK).
  • Angesichts solcher Zahlen ist jede Verharmlosung oder Verherrlichung von Essstörungen, die online bleibt, eine zu viel. Ein Konzern wie Meta sollte genug Ressourcen haben, um problematische Fotos und Accounts zuverlässiger zu sperren.

Wie Instagram Jugendliche schützen will

  • Wohl nicht ganz zufällig hat Instagram am Dienstagmorgen eine Reihe von Maßnahmen für das kommende Jahr angekündigt.
  • Einen Tag vor seinem Auftritt im US-Kongress beschreibt Adam Mosseri, wie und warum Instagram Eltern mehr Kontrolle über den Social-Media-Konsum ihrer Kinder geben und junge Nutzerïnnen besser schützen will.
  • Unter anderem führt Instagram eine "Take a break"-Funktion ein, die Nutzerïnnen nach einer selbst definierten Zeit daran erinnert, eine Pause einzulegen. Andere Plattformen haben bereits vergleichbare Funktionen. Von März an sollen auch Eltern Zeitlimits für ihre Kinder festlegen können.
  • Zudem will Instagram bestimmte Standardeinstellung für Accounts von Minderjährigen ändern und Nutzerïnnen die Möglichkeit geben, mehrere Fotos, Likes und Kommentare auf einmal zu löschen.
  • Einen ausführlichen Überblick gibt Lisa Hegemann (Zeit Online), die alle Funktionen vorstellt und einordnen.
  • Wir halten die Maßnahmen für sinnvoll und glauben, dass sie tatsächlich ein Schritt in die richtige Richtung sein können – allerdings nur einer von sehr vielen, die nötig sind. Deshalb schließen wir uns Lisas Fazit an:

Was die Ankündigungen zeigen: Bei Instagram scheint angekommen zu sein, dass es seine tiefgreifenden Probleme angehen muss. (…) Umgekehrt bedeutet das aber auch: Instagram lädt die Verantwortung bei seinen Kunden ab. Dabei stellt sich die Frage, ob etwas mehr elterliche Fürsorge die Probleme löst, mit denen Kinder und Jugendliche auf Instagram konfrontiert werden – oder ob Instagram nicht selbst stärker kontrollieren sollte, was auf seiner Plattform geschieht.

Be smart

Am Mittwochabend deutscher Zeit wird Instagram-Chef Mosseri vor dem US-Kongress befragt werden. Zumindest in der Vergangenheit muteten solche Anhörungen oft wie Politiktheater an. Unsere Hoffnungen, dass diese Anhörung anders verläuft, sind überschaubar.

Dafür gibt das Thema eine zu gute Punchline her: "Instagram macht unsere Kids kaputt", diese "Chance" werden sich einige der Senatorïnnen nicht entgehen lassen. Das ist bedauerlich, denn die Frage, wie Social Media und psychische Gesundheit zusammenhängen, ist ja tatsächlich hochrelevant.

Der Psychologe Jonathan Haidt hat Dutzende Studien und Metastudien gesammelt und ist sich sicher: Instagram schade Jugendlichen (The Atlantic), insbesondere Mädchen. Andere Forscher halten das für voreilig (NYT) und führen dafür ebenfalls etliche Studien ins Feld.

Wir halten es mit Sokrates: Wir wissen, dass wir nichts wissen – wüssten aber gern mehr. Und damit wären wir dann wieder beim Thema Transparenz und Niklas Johannes von der Uni Oxford. Wenn er Mosseri eine Frage stellen könnte, dann wäre es diese: "Warum weigern Sie sich, bei einem so wichtigen Thema wie der psychischen Gesundheit von Teenagern, absolut transparent zu sein?"


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Jetzt haben uns aber Studierende bei einem Workshop darauf gestoßen, dass das ja ein ziemlich cooler Service sei – und irgendwie auch wie ein eigenes kleines Produkt im Rahmen des Watchblog-Abos. 🤔

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Header-Foto von Andrew Amistad