TikTok: Mit Reichweite kommt Verantwortung – und hoffentlich auch kritische Recherchen

Was ist

Die größte Domain der Welt war im Jahr 2021 nicht Google, sondern TikTok.com. Das jedenfalls behauptet Cloudflare und beruft sich dabei auf seinen Cloudflare Radar, der in Echtzeit Datenverkehr und Zugriffszahlen misst.

Cloudflare ist einer der wichtigsten Betreiber von Internet-Infrastruktur und schützt Millionen Webseiten vor DDoS-Attacken. Wenn man jemanden sucht, der das Netz halbwegs seriös vermessen kann, dann dürfte Cloudflare zum engeren Kandidatenkreis zählen. Allerdings bleibt die Methodik des Cloudflare Radar und damit auch die Grundlage des Rankings unklar. Deshalb sollte man die Liste nicht als endgültige Wahrheit, sondern als einen interessanten Datenpunkt interpretieren.

Denn interessant ist das Ergebnis allemal: Ende 2020 lag TikTok.com den Messungen von Cloudflare zufolge noch auf Platz 7 – um im vergangenen Jahr dann Google, Facebook, Microsoft, Apple, Amazon, Netflix, YouTube, Twitter und WhatsApp (Plätze 2 bis 10) hinter sich zu lassen. (Die Tatsache, dass Instagram gar nicht in der Top 10 auftaucht, wundert uns und unterstreicht noch mal: die Zahlen bitte mit Vorsicht genießen.)

Aktuelle Statistiken der App-Analyse-Firmen Apptopia und Sensor Tower liefern weitere Indizien für TikToks Dominanz: Demnach wurde 2021 keine App so oft heruntergeladen, zudem machte TikTok den größten Umsatz.

Was das bedeutet

Die reinen Zahlen und die genaue Platzierung sind uns ziemlich egal. Für uns zählt das Ergebnis: 2021 war ein unglaublich erfolgreiches Jahr für TikTok. Die Plattform beeinflusst die Popkultur (TikTok-Newsroom), verändert die Musikindustrie (Insider), verändert die Wahrnehmung psychischer Krankheiten (WSJ) und prägt die Welt von Hunderten Millionen Teenagern.

Überschriften wie "How TikTok Is Rewriting the World" (NYT, 03/2019) und "How TikTok changed the world in 2020" (BBC, 12/2020) zeigen: Das ist keine neue Entwicklung, aber 2021 kam wirklich niemand mehr daran vorbei – und das dürfte erst der Anfang sein. Der Gründer einer Agentur für Influencer-Marketing drückt es so aus (Insider):

Where we see the dollars flowing right now is shifting dramatically from Instagram to TikTok. TikTok has now built a better algorithmic feed than Instagram, from what we can tell. And the shift in dollars to TikTok is only accelerating. (…) We think TikTok is gonna own the next five years.

Nur die mediale Berichterstattung hat mit der zunehmenden Bedeutung von TikTok nicht mitgehalten. Metas Plattformen bekamen ungleich mehr Aufmerksamkeit, selbst Twitter tauchte deutlich öfter in Medien auf als TikTok. Auch wir müssen uns diesen Schuh anziehen: Facebook, Instagram und Twitter sind uns vertrauter als TikTok, vielen Kollegïnnen dürfte es ähnlich gehen.

Wir werden wohl nie so viel Zeit mit TikTok verbringen wie die großartige Taylor Lorenz, die als eine der wenigen Journalistinnen wirklich tief in die TikTok-Kultur abtaucht, statt nur phänomenologisch darüber zu schreiben. Trotzdem möchten wir TikTok mehr Aufmerksamkeit widmen – was nicht unbedingt in mehr Texten resultieren muss, aber hoffentlich in einem besseren Verständnis für die Plattform.

Wie Medien recherchieren

Der Dezember hat uns Hoffnung gemacht, dass 2022 ein Jahr werden könnte, in dem TikTok stärker im Fokus steht. Damit meinen wir in erster Linie kritische Recherchen, die Konzern, Führungspersonal, interne Unternehmenskultur, Entscheidungsprozesse, Moderationsprinzipien und Empfehlungslogik beleuchten. Denn über all das wissen wir bei TikTok noch ziemlich wenig – und die Transparenzoffensive, die TikTok selbst mehrfach versprochen hat, dürfte kaum unabhängige Einblicke und echten Erkenntnisgewinn ermöglichen.

Den Auftakt machten Anfang Dezember New York Times und Spiegel, die über ein internes Dokument berichteten, das einige der mathematischen Formeln enthält, auf deren Grundlage TikTok Inhalte vorschlägt. Darüber schrieben wir ausführlich in Ausgabe #767, unserem letzten Briefing des Jahres 2021.

Im Laufe des Monats kamen weitere Recherchen hinzu:

  • Entgegen aller Beteuerungen scheint der Einfluss Chinas wohl doch größer zu sein scheint (Insider), als die Managerïnnen in Deutschland und den USA suggerieren.
  • TikTok kann Teenager tiefer in die Essstörung treiben (WSJ), indem die Algorithmen ihnen massenweise Videos vorschlagen, die Anorexie und Bulimie verherrlichen und ihnen das Gefühl geben, nicht dünn genug zu sein. (Mehr zu diesem Thema in Briefing #764, zwar mit Fokus auf Instagram, aber direkt übertragbar.)
  • Der Spiegel ließ der Berichterstattung über die Mechanismen der Algorithmen einen weiteren langen Artikel im Heft folgen (Vorlesezeit: 27 Minuten).
  • Die Recherche beruht auf einem Experiment und Gesprächen mit Angestellten sowie TikTokern (offizielle Bezeichnung: "Vertical Video Creator"). Der Text richtet sich an Leserïnnen, die bislang wenig über TikTok wussten, und erklärt die kulturelle, gesellschaftliche und finanzielle Bedeutung der App.
  • Die einzige echte Neuigkeit ist die Tatsache, dass es in Deutschland wohl etliche Angestellte gibt, die unzufrieden mit ihrem Arbeitgeber sind. Offenbar versuche TikTok, eine Betriebsratswahl zu verhindern, und nötigte Mitarbeiterïnnen, im Home-Office eine Software auf ihren Privatgeräten zu installieren, die weitreichende Zugriffsrechte verlangt.
  • Auch wenn der Nachrichtenwert überschaubar ist, freuen wir uns, dass sich ein großes Magazin an prominenter Stelle kritisch mit TikTok auseinandersetzt (den tendenziösen Teaser "Der Algorithmus, der Kinder verhext" auf dem Cover hätte sich der Spiegel aber sparen können). Bitte mehr davon!

Be smart

TikTok hat eine große Chance: Es könnte aus den Fehlern lernen, die andere Plattformen gemacht haben. Facebook und Twitter haben etwa jahrelang zu wenig in Content-Moderation und Sicherheit investiert. Spricht man mit TikTok, hört man leider immer wieder: "Wir sind ja noch jung, wir müssen noch lernen." Für einen Konzern, der so viel Anschauungsmaterial hatte und Dutzende Milliarden Dollar pro Jahr umsetzt, ist das keine Entschuldigung, sondern eine Ausrede.

Eine aktuelle Nachricht unterstreicht diese Befürchtungen: TikTok testet einen "Repost"-Button (TechCrunch), der ähnlich funktionieren soll wie Retweets auf Twitter oder die Teilen-Funktionen anderer Plattformen.

Zur Erinnerung: WhatsApp hat das Weiterleiten von Nachrichten massiv eingeschränkt (Guardian), um die Verbreitung von Desinformation einzuschränken. Johannes Kuhn kommentiert den Test auf seinem Notizenblog treffend:

TikTok testet einen "Repost"-Button, der Videos bei Freunden sichtbar macht. Viralität auf Steroiden. Als hätten wir in den Jahren 2015-2021 nichts gelernt.


Was vom Sturm aufs Kapitol bleibt – und was sich ändern muss

Was ist

Einer der dunkelsten Tage der US-amerikanischen Demokratie jährt sich. Keine Sorge: Dich erwartet keine längliche Analyse oder Nacherzählung der Ereignisse. Die haben wir bereits in aller Ausführlichkeit geschrieben, und Jahrestage interessieren Journalistïnnen meist mehr als Leserïnnen.

Stattdessen verlinken wir nur ein paar Leseempfehlungen – und formulieren einen alten Wunsch, der 2022 aktueller denn je ist.

Was über Facebooks Rolle bekannt ist

  • Im Laufe des vergangenen Jahres gab es einen bemerkenswerten Wandel: Zunächst stritt Facebook jede Mitverantwortung ab. Sheryl Sandberg:

“I think these events were largely organized on platforms that don't have our abilities to stop hate and don't have our standards and don't have our transparency."

  • Später wurden immer mehr Details bekannt, die zeigten, dass Facebook die zentrale Plattform war, auf der sich Trumps Anhängerïnnen vernetzten und den Putschversuch organisierten. (#701)
  • Die Facebook Files erhärteten diesen Eindruck und ließen den Konzern in einem noch schlechteren Licht dastehen. Intern beklagten Angestellte offenbar, dass man die Schutzmaßnahmen nach der US-Wahl zu früh und leichtfertig zurückgenommen hätte – und fragten auf Facebooks Messaging-Board Workplace unter anderem: "Haven't we had enough time to figure out how to manage discourse without enabling violence?" (#749)
  • Nun kommt ein weiterer Vorwurf hinzu: Recherchen von ProPublica und Washington Post zufolge sollen in Facebook-Gruppen mehr als 650.000 Posts veröffentlicht worden sein, die Trumps Lüge vom Wahlbetrug aufgriffen und teils zu gewaltsamen Widerstand aufriefen.
  • Das passt zu den Dokumenten aus den Facebook Files und früheren Recherchen von BuzzFeed und New York Times.

Warum es nicht nur um Facebook geht

  • Facebook hat Fehler gemacht, die Versäumnisse wiegen schwer, und noch immer finden sich dort haufenweise rechtsradikale Gruppierungen (Tech Transparency Project). Doch Facebook ist nicht schuld daran, dass ein Mob das Kapitol stürmte.
  • Auch andere Plattformen spielten eine Rolle (The Information), ebenso Messenger, die für Außenstehende im Gegensatz zu Facebook meist verschlossen bleiben – und natürlich Desinformations-Schleudern wie Fox News, OANN, Newsmax oder auch Podcasts (Brookings).
  • Das Problem ist größer als Meta und hat eher gesellschaftliche als technische Ursachen. Trump ist (vorerst) weg, doch seine Lügen bleiben (Axios) und vergiften nicht nur das Netz, sondern das ganze Land (Politico).
  • Deshalb empfehlen wir ergänzend zur ProPublica/Post-Recherche den nachdenklichen Newsletter von Casey Newton (Platformer), der mit diesem Gedanken endet:

Critical though they often are, stories about failures in content moderation almost always begin from a place of hope: that if the right policies were written, and the relevant teams all adequately staffed and given freedom to act, then social networks would create a better world.

But given recent history, and the enormity of the threats now facing American democracy, it’s worth asking whether that hope is misplaced. A year later, it seems clear that better content moderation on Facebook leading up to January 6 was both necessary and insufficient. Forces much larger than social networks are pulling the country apart. And even larger ones may be needed to put it back together.

Warum Meta transparenter werden muss

Wir können es selbst nicht mehr hören, weil wir es schon so oft geschrieben haben (in jüngerer Vergangenheit etwa in #764, #760 und #740): Wenn Meta der Meinung ist, dass Vorwürfe ungerechtfertigt sind und es unfair behandelt wird, dann muss es sich öffnen.

Solange Forscherïnnen nicht unabhängig überprüfen können, was auf Facebook los ist, werden Medien mit unvollständigem, geleaktem oder notdürftig gescraptem Material arbeiten – denn das ist derzeit die einzige Möglichkeit, zumindest etwas Licht in die Blackbox zu bringen.

Doch Facebook scheint sich lieber einzuigeln und auf Leaks mit aggressiver Vorwärtsverteidigung und fragwürdigen PR-Kampagnen zu reagieren, wie eine aktuelle Recherche des Wall Street Journal zeigt. Das bringt uns zum letzten Text, den der von uns sehr geschätzte Medienkolumnist Ben Smith für die New York Times geschrieben hat (Smith gründet ein Medien-Start-up): ein Porträt des CrowdTangle-Gründers Brandon Silverman.

CrowdTangle wurde 2016 von Facebook aufgekauft und 2021 plattgemacht (mehr dazu in #740). Jetzt berät Silverman US-Senatorïnnen bei einem Gesetz, das Plattformen zu mehr Transparenz verpflichten soll. Was er sagt, klingt vielversprechend:

What’s happening right now, though, is that a few private companies are disseminating a massive amount of the world’s news and it’s largely happening inside black boxes. I think figuring out ways to both help and, in some cases, force, large platforms to be more transparent with news and civic content as it’s in the process of being disseminated can ultimately help make social platforms better homes for public discourse — and in a lot of ways, help them live up to a lot of their original promise.


Social Media & Politik

  • Frankreich: Google und Facebook sollen Strafe zahlen Die französische Datenschutzbehörde CNIL hat Strafen in Millionenhöhe gegen Google (150 Millionen Euro) und Facebook (60 Millionen Euro) angekündigt. Der Grund: Die Konzerne würden es Nutzerïnnen zu schwer machen, Cookie-Tracking abzulehnen. Well, da kann ihnen wohl jeder nur zustimmen: Es ist viel „leichter“ eben schnell zuzustimmen, als auf einem weiteren Screen alles mögliche an Tracking-Gedöns abzulehnen… Die verhängten Strafen sind natürlich nur Peanuts für die Unternehmen. Das weiß aber auch die CNIL. Daher müssen die Konzerne zusätzlich 100.000 Euro täglich zahlen, wenn sie ihr Tracking-Gebahren nicht innerhalb von drei Monaten ändern.

Audio / Video Boom

  • Noch. Mehr. TikToks. Laut TechCrunch hat TikTok einen Deal mit Atmosphere eingetütet, damit wirklich keiner mehr den Kurz-Videos entkommen kann. Das Startup bietet einen Service, mit dem Hotels, Restaurants und Co ihre Screens bespielen können. TikToks könnten so also etwa im Wartebereich von Flughäfen oder bei McDo auf den Bildschirmen laufen.
  • Clubhouse boomt (in Südasien): Während wir hierzulande bereits Abgesänge auf Clubhouse dichten (siehe letzte Zeile dieses Briefings), boomt die App an anderen Orte dieser Welt (rest of world) – etwa in Pakistan, Bangladesch und Nepal. Das Problem: Das wird die App nicht retten.

Crypto-Department

  • Signal ermöglicht MobileCoin-Zahlungen: Im November hatte die Messaging-App Signal einen Test angekündigt, der Nutzerïnnen in Großbritannien das Versenden und Empfangen von MobileCoins ermöglichen sollte – einer datenschutzfokussierten, digitalen Währung. Dieser Test wurde in der Zwischenzeit auf Nutzerïnnen weltweit ausgerollt (Wired).

Neue Features und Tests bei den Plattformen

Instagram

  • Chronologischer Feed: Wie 2021 bereits angekündigt, bastelt Instagram an den Darstellungsoptionen des Newsfeeds. Derzeit können ausgewählte Testerïnnen laut Mosseri (@mosseri) zwischen drei verschiedenen Feeds auswählen:

    Home: Home ist die Ansicht, die Nutzerïnnen heute kennen. Die App ordnet die Inhalte algorithmisch.

    Favoriten: Bei Favoriten handelt es sich um eine Liste von Konten, von denen man nichts verpassen möchte.

    Following: Old Instagram sozusagen: die Beiträge in chronologischer Reihenfolge.

    Wie sich das dann genau darstellt, bleibt abzuwarten. Falls jemand von euch schon Erfahrungen mit dem neuen, alten chronologischen Feed gemacht hat, schreibt uns gern auf Slack!

  • Likes auf Stories: Instagram testet aktuell eine Funktion, die es ermöglicht Stories zu liken (TechCrunch). Insgesamt stünden laut TechCrunch acht verschiedene Emojis zur Auswahl – darunter „the laughing, surprised, heart eyes, teary-eyed, clap, fire, celebration and 100 emoji“. Die Anzahl der Likes sollen nur für den Verfasser der Story sichtbar sein. Ob und wann die Funktion für alle ausgerollt wird, ist weiter unklar.
  • Status-Update: Analog zu WhatsApp könnte es bei Instagram nun auch bald ein Status-Feature geben (testingcatalog).

Twitter

LinkedIn

  • LinkedIn testet Audio-Event-Feature Es hatte sich bereits abgezeichnet, nun wird es tatsächlich Realität: LinkedIn startet einen Beta-Test, um Audio-Events auf die Plattform zu bringen (TechCrunch). In unseren Augen (also Ohren) ist das für Clubhouse die größte Bedrohung, die sie sich hätten vorstellen können: Audio dort, wo auch sonst alle aus beruflichen Gründen netzwerken… Ui, ui, ui.

Header-Foto von Damian Markutt