Was ist

Werbekunden (Media Matters), Aufsichtsbehörden (Netzpolitik), Europäische Union (FT), Medien (Deutschlandfunk), Forschende (Nature), Sicherheitsexperten (CIS Stanford) und die eigenen Angestellten (Platformer): Die Liste der Menschen, die Musk in seinem ersten Monat als Twitter-Chef gegen sich aufgebracht hat, ist beeindruckend lang. Doch das reicht ihm offenbar nicht. Jetzt greift er auch noch Apple an – und könnte dabei ausnahmsweise am kürzeren Hebel sitzen.

Wir erklären, worum es in dem Streit geht, warum Musks Vorwürfe größtenteils Unsinn sind und er trotzdem einen wunden Punkt bei Apple trifft. Anfangen müssen wir aber mit einer anderen Entwicklung aus der vergangenen Woche, da es wichtig für das Verständnis der aktuellen Ereignisse ist.

"The Big Bang": Musk holt die Verbannten zurück

  • Vergangene Woche schrieben wir über Musks Entscheidung, Donald Trump seinen Account zurückzugeben (#842). Grundlage war eine Umfrage unter Musks Followern, die sich mit knapper Mehrheit dafür aussprachen, den ehemaligen US-Präsidenten zu begnadigen.
  • Musk scheint Gefallen daran gefunden zu haben, das mutmaßlich durch Bots verzerrte (Twitter / Elon Musk) Votum eines Bruchteils der Nutzerïnnen als Grundlage für richtungsweisende Entscheidungen zu nehmen. Kurz darauf fragte er:

Should Twitter offer a general amnesty to suspended accounts, provided that they have not broken the law or engaged in egregious spam?

  • Fast drei Viertel stimmten für seinen Vorschlag. Diesmal beteiligten sich aber nur 3,2 Millionen Konten, also etwas mehr als ein Prozent der aktiven Nutzerïnnen. Kein Problem für Musk: "The people have spoken", verkündete er. "Amnesty begins next week."
  • Gesagt, getan: Bislang sollen bereits rund 62.000 Accounts mit mehr als 10.000 Followern wiederhergestellt worden sein, darunter 75 Konten mit mehr als einer Million Followern. Das berichten die wie gewohnt gut informierten Casey Newton und Zoë Schiffer (Platformer).
  • Die Identität der Accounts ist bislang nicht bekannt. Ein signifikanter Teil dürfte gegen Twitters Richtlinien gegen Missbrauch und Belästigung oder hasserfülltes Verhalten (Twitter Hilfe-Center) verstoßen haben. Was es für das Klima auf der Plattform bedeutet, wenn Zehntausende Menschen zurückkehren, die aus Gründen verbannt worden waren, kann man sich vorstellen.
  • Wir sparen uns an dieser Stelle jeden weiteren Kommentar und erinnern nur erneut an Musks Versprechen, das er vor genau einem Monat gab:

Twitter will be forming a content moderation council with widely diverse viewpoints. No major content decisions or account reinstatements will happen before that council convenes.

Warum Musk auf Apple losgeht

  • Unser kurzer Blick zurück war nötig, um Hintergrund für Apples Entscheidung zu liefern, den Großteil der Werbebuchungen bei Twitter zu pausieren. Das zumindest behauptet Musk, Apple hat den Vorfall bislang nicht kommentiert.
  • Mit der Entscheidung befindet sich Apple in guter Gesellschaft. Im vergangenen Monat hat mindestens die Hälfte der wichtigsten 100 Anzeigenkunden genauso entschieden (Media Matters). Mehr dazu findest du in Ausgabe #840, in der wir die Gründe beleuchteten:

Die Unternehmen kehren Twitter nicht den Rücken, obwohl er dort ist – sondern weil er dort ist. Für Musk, der Verehrung gewohnt ist, scheint das eine neue Erfahrung zu sein. Seine radikale Vorstellung von Redefreiheit ist das letzte, was Marketing-Verantwortliche möchten. Das Stichwort lautet "Brand Safety", große Marken wollen in einem harmlosen und familienfreundlichen Umfeld werben. Je mehr Menschen Musk rauswirft, je stärker er die Abteilungen für Content-Moderation, Datenschutz und Sicherheit ausdünnt, desto skeptischer werden Unternehmen, ob er seine Beteuerungen ernst meint.

  • Apple ist das erste Unternehmen, das Musk öffentlich attackiert. Dafür gibt es zwei Gründe. Zum einen ist Apple Twitters wichtigster Werbekunde, allein im ersten Quartal 2022 gab Apple fast 50 Millionen Dollar (WaPo) für gesponserte Tweets aus. Das entspricht mehr als vier Prozent des gesamten Umsatzes von Twitter.
  • Zum anderen ist Musk abhängig von Apple, denn der Konzern kontrolliert das lukrativste Ökosystem des Internets. 1,5 Milliarden iPhones und iPads laufen mit iOS, und Apple allein entscheidet, welche Apps es in seinen App-Store aufnimmt.
  • Musk behauptet, Apple habe gedroht, die Twitter-App aus dem App-Store zu werfen, dafür aber keine Gründe genannt. Für Twitter wäre das eine Katastrophe, die das Unternehmen vermutlich nicht lange überleben könnte.

Wie sich Musk lächerlich macht

  • In den vergangenen 24 Stunden hat Musk rund ein Dutzend Tweets abgesetzt oder geteilt, die sich um Apple drehen. Der Großteil davon ist Unsinn. Das klingt dann etwa so:

Apple has mostly stopped advertising on Twitter. Do they hate free speech in America?

This is a battle for the future of civilization. If free speech is lost even in America, tyranny is all that lies ahead.

Did you know Apple puts a secret 30% tax on everything you buy through their App Store?

  • Lass uns kurz nachdenken … Ja, doch, davon haben wir gehört. Vielleicht haben wir von dieser "geheimen Steuer" sogar bei Apple selbst gelesen.
  • Musk versucht, seinen Streit mit Apple zu einem Kampf für die Redefreiheit umzudeuten. Statt uns daran abzuarbeiten, zitieren wir einfach nur die perfekte Überschrift der Erwiderung von Jason Koebler (Vice):

Elon Musk Wonders: Does the Company that Fought the FBI in Court to Prevent Giving it the Text Messages of Terrorists Hate Free Speech Because It Stopped Giving Me Money?

  • Musk ist offensichtlich genervt, dass er ausnahmsweise nicht allein entscheiden kann, sondern sich den Spielregeln eines noch mächtigeren Konzerns unterwerfen muss.
  • Dabei ist es völlig nachvollziehbar, dass Apple ein Interesse daran hat, dass die Apps die Regeln des App-Stores einhalten. Schließlich muss man die saftige Provision irgendwie begründen. Das klappt am besten, wenn Apple argumentieren kann, dass es die Marge einsetzt, um eine sichere Umgebung zu schaffen, Apps sorgfältig zu prüfen und Nutzerïnnen zu schützen.
  • Regelmäßig werden Apps verbannt, deren Inhalte gegen Apples Richtlinien verstoßen, zuletzt etwa das rechtsradikale Netzwerk Parler. Auch Twitter wurde wohl immer wieder verwarnt, wie der zurückgetretene Sicherheitschef Yoel Roth kürzlich in einem Gastbeitrag für die New York Times durchblicken ließ.
  • Mit Meinungsfreiheit hat Musks Tweetstorm also ungefähr so viel zu tun wie seine Twitter-Umfragen mit Demokratie. Am Ende geht es vor allem um Macht und Geld. Bereits im Mai schrieb Musk:

Apple’s store is like having a 30% tax on the Internet. Definitely not ok. Literally 10 times higher than it should be.

Wo Musk einen Punkt hat

  • Apple und Google sind mächtige Gatekeeper. Sie kontrollieren iOS und Android. Deshalb schlägt ihnen Misstrauen entgegen. Ein Teil davon ist gerechtfertigt.
  • Mit Epic und Spotify zettelten bereits zwei große Konzerne Streit mit Apple an, ausführliche Hintergründe findest du in Briefing #660, #719 und #722.
  • Dabei geht es um die Höhe der Provision und die Frage, ob Apple allein entscheiden sollte, welche Regeln im App-Store gelten. Auch Meta legte sich deshalb kürzlich mal wieder mit Apple an (Axios).
  • Jahrelang gab es vergleichsweise wenig öffentliche Kritik am Duopol von Apple und Google. Entwickler murrten gelegentlich, doch niemand wagte den Aufstand gegen die beiden Konzerne.
  • Seit Spotify in der EU klagte und Apple Epic aus dem App-Store verbannte, hat sich das geändert. Auch Politik und Kartellwächter haben das Thema entdeckt. Die EU-Kommission ermittelt, der Prozess zwischen Epic und Apple landet bald erneut vor Gericht, und in den USA könnten Gesetze verabschiedet werden, um die "wettbewerbswidrigen Mauern in der App Economy einzureißen".
  • Wir können einen Teil der Kritik nachvollziehen. Die Richtlinien von Apple und Google sind teils vage, der Prüfungsprozess bleibt intransparent, abgelehnte Freigaben werden kaum begründet. Beide Konzerne lassen App-Entwicklerïnnen spüren, wer von wem abhängig ist.
  • Die Provision kommt uns ebenfalls happig vor. Apples App-Store ist eine Gelddruckmaschine mit hohen Margen. Auch mit 20 oder 25 Prozent Abgabe wäre das Geschäft noch einträglich.
  • Vergangenes Jahr machte Apple bereits erste Zugeständnisse. Entwicklerïnnen mit einem Jahresumsatz von weniger als einer Million Dollar müssen nur die halbe Provision abtreten, auch Abomodelle sind günstiger als Einmalkäufe.
  • Vor allem bei den inhaltlichen Regeln für Apps gibt es aber noch Nachholbedarf. Musk ist aber definitiv der Letzte, der das glaubwürdig kritisieren kann. Wir zitieren abschließend erneut Yoel Roth (NYT), der kurz nach Musks Übernahme als Sicherheitschef zurücktrat:

It’s this very lack of legitimacy that Mr. Musk, correctly, points to when he calls for greater free speech and for the establishment of a “content moderation council” to guide the company’s policies — an idea Google and Apple would be right to borrow for the governance of their app stores. But even as he criticizes the capriciousness of platform policies, he perpetuates the same lack of legitimacy through his impulsive changes and tweet-length pronouncements about Twitter’s rules. In appointing himself “chief twit,” Mr. Musk has made clear that at the end of the day, he’ll be the one calling the shots.


Audio / Video

  • Podcasts bei YouTube: Bekanntlich sind Podcasts schon jetzt sehr stark nachgefragt bei YouTube. Damit künftig noch mehr Anbieter, YouTube als Podcast-Plattform nutzen, hat das Unternehmen einen 67 Seiten umfassenden Guide (PDF) veröffentlicht, der so ziemlich alle Fragen beantwortet, die mensch haben kann, wenn ein (Video-) Podcast lanciert werden soll.

Trend

  • TikTok als Suchmaschine?! Die Marketing-Profis bei OMR haben sich der Frage angenommen, ob TikToks künftig auch Suchmaschinen-optimiert sein sollten – und zwar nicht für die Google- sondern die interne Suche. Kurz zum Hintergrund: Gen Z würde TikTok immer öfter Google vorziehen, um Dinge in Erfahrung zu bringen, konnten wir in den vergangen Monaten immer wieder lesen. Ob das wirklich so ist, bleibt offen. Ja, es gab im Sommer den Hinweis eines Google-Mitarbeiters (TechCrunch), dass Instagram und TikTok immer öfter auch für Aufgaben genutzt würden, auf denen vormals Google die unangefochtene Nummer Eins war. Soweit der anekdotische Teil. Handfeste Zahlen hingegen gibt es nicht. Was aber zu beobachten ist: TikTok baut die Suche weiter aus, um konkurrenzfähiger zu werden. Etwas, das Facebook zum Beispiel all die ganze Zeit über völlig außer Acht gelassen hat: Facebook wollte selbst bestimmen, was Nutzerïnnen bei der App (vor-) finden. Bei TikTok scheint die Sache etwas anders gelagert zu sein. Was Unternehmen und Creator deshalb am besten schon jetzt beachten sollten, steht hier: Kommt jetzt Tiktok SEO? So läuft der Ranking-Kampf in der Suche der App schon jetzt (OMR).

Neue Features bei den Plattformen

WhatsApp

YouTube

  • Quizze: Ausgewählte Creator können bei YouTube jetzt auch Quizze hinterlegen (YouTube / Creator Insider) – etwa um Wissen abzufragen, das im Video vermittelt wurde. Aber wir sind uns sicher, es werden sich auch viele andere Anwendungsoptionen ergeben…

Lecture: Social Media 2022 / 2023

Liebe Kollegïnnen, in unserer E-Mail vom Donnerstag vergangener Woche hatten wir bereits angekündigt, dass wir bei unserer nächsten Lecture einen Blick darauf werfen wollen, wie sich die Social-Media-Landschaft gerade wandelt. Gern möchten wir zeigen, warum Social Media noch lange nicht tot ist, sich aber einige Dinge recht grundsätzlich verändern.

Die Lecture findet am 8.12.2022 von 17:00 bis 18:00 Uhr wie üblich via Zoom statt. Zunächst gebe ich, Martin, einen rund 30-minütigen Input, im Anschluss haben wir eine weitere halbe Stunde Zeit, um miteinander ins Gespräch zu kommen. Bei Bedarf gern auch länger.

Wenn du bei der Lecture dabei sein möchtest, dann melde dich bitte mit der E-Mail-Adresse an, mit der du auch dieses Briefing erhalten hast. Im Anschluss an die Anmeldung erhältst du automatisch via Zoom den Link zum Meeting sowie die Möglichkeit, den Termin im Kalender einzutragen.

Die Lecture wird nicht aufgezeichnet und ist zahlenden Mitgliedern wie dir vorbehalten – bitte daher den Link zur Anmeldung nicht all zu freimütig weiterreichen.

Wir freuen uns sehr, wenn du bei der Lecture dabei bist!


Header-Foto von Mahdi Bafande