Was ist

  • Das alte Twitter ist tot. Allen Abgesängen zum Trotz hält sich X hartnäckig und bleibt die einzige textbasierte Plattform mit politischem Einfluss. Zuletzt ließ sich das nach dem Terrorangriff auf Israel beobachten (SMWB).
  • Klar ist aber auch: Dieser Einfluss sinkt. Solange Elon Musk das Unternehmen führt, lautet die Frage nicht, ob die Plattform irrelevant wird – sondern wann.
  • Seit der Übernahme haben sich etliche Konkurrenten um die Twitter-Nachfolge beworben. Einige sind bereits gescheitert, andere siechen vor sich hin. Die größten Hoffnungen ruhen auf Bluesky, Mastodon und Threads.
  • Wir beleuchten, wo diese drei Plattformen aktuell stehen. Dann schließen wir eine These an, mit der wir uns womöglich unbeliebt machen.

Mastodon: Nichts Neues in der Nische

  • In den vergangenen Monaten ist es ruhig geworden um Mastodon. Das könnte man als negative Nachricht deuten: kein Wachstum, keine Relevanz, keine Chance.
  • Wir haben uns an viele Nullen gewöhnt. Wenn Plattformen keine sieben- oder achtstelligen Nutzerzahlen erreichen, wirkt das im Vergleich zu Instagram oder TikTok wie ein Misserfolg.
  • Doch gerade bei einem Projekt wie Mastodon muss Stagnation nichts Schlechtes sein. Man könnte es auch als Stabilität deuten. Wenn ein paar Millionen Menschen ein dezentrales, nicht kommerzielles Netzwerk nutzen, dann ist das ein Erfolg.
  • Trotzdem ist Mastodon kein Twitter-Ersatz und wird es auch nie werden. Das größte Potenzial liegt aktuell im ActivityPub-Protokoll, das es ermöglicht, Mastodon und andere Plattformen wie Threads zu verbinden.
  • Gründer Eugen Rochko sagte dazu im Gespräch mit Zoë Schiffer (Platformer):
I think it's reasonable to worry a little about what big companies are doing in the ecosystem, but I also think that it's a net benefit to Mastodon for this to happen. Because this is what we're fighting for. The future that we want is where every social media platform is interoperable, and users aren’t locked into any specific one. (…)
And so a large company like Meta adopting this protocol is a good thing. I know that they're working on this, and I believe that it's going to be available in the summer: two-way federation between Threads and Mastodon, and I'm looking forward to it.

Bluesky: Endlich offen für alle

  • Wisst ihr noch, damals, als alle so verdammt scharf auf Bluesky waren und man um Einladungen betteln musste (SMWB)?
  • Was uns vorkommt wie eine neue Auflage von "Opa erzählt vom Krieg", liegt tatsächlich weniger als ein halbes Jahr zurück. Seitdem ist die Begeisterung deutlich abgeflaut. Als sich Bluesky Anfang Februar für alle Interessierten öffnete, war das den meisten Medien nur noch eine knappe Meldung wert.
  • Ähnlich wie bei Mastodon gilt: Es wäre falsch, jedes neue Netzwerk an TikToks rasantem Wachstum zu messen. Tatsächlich zeigt Bluesky viele vielversprechende Ansätze (Platformer).
  • Die Community ist (vergleichsweise) klein, aber fein. Man findet echten Humor, originelle Shitposts und fundierte Diskussionen über Politik. Die meisten Debatten laufen zivilisiert ab, manchmal enden sie sogar mit echtem Erkenntnisgewinn.
  • Die Architektur ist dezentral, aber anders als bei Mastodon bekommen Nutzerïnnen wenig davon mit. Man muss sich nicht damit beschäftigen, bei welcher Instanz man sich anmeldet, der Nerd-Faktor ist kleiner. Das sind gute Voraussetzungen, um nicht nur Early Adopter anzusprechen.
  • Bluesky-Chefin Jay Graber sagt vernünftige Dinge und wirkt, als habe sie eine langfristige Strategie (TechCrunch, Washington Post). Wir sind insbesondere darauf gespannt, ob es gelingt, Nutzerïnnen die Wahl zu überlassen, welche Standards für Content-Moderation in ihrem eigenen Feed gelten sollen.
  • Gleichzeitig ist Bluesky weit davon entfernt, sich zu einem neuen Twitter zu entwickeln. Vor der Öffnung sanken die Nutzerzahlen leicht, Prominente wie Chrissy Teigen und Alexandria Ocasio-Cortez lassen ihre Konten brachliegen. Jack Dorsey, wichtiger Geldgeber und nach wie vor Teil des Bluesky-Boards, hat seinen Account gleich ganz gelöscht.
  • Nichts, was auf Bluesky geschieht, fühlt sich relevant an. Überwiegend linksliberale Menschen unterhalten sich weitgehend freundlich, aber auch folgenlos. Was auf Bluesky geschieht, bleibt auf Bluesky, die Debatten ziehen keine Kreise.
  • Das wichtigste Argument für Bluesky lautet: Der Eigentümer heißt nicht Elon Musk. Die meisten Menschen landen bei Bluesky, weil sie sich nach dem sehnen, was Twitter nicht mehr ist (Garbage Day):
None of that makes Bluesky seem like the social medium of the future. People aren’t attracted to the platform, they’re repelled away from X and looking for anywhere else. In fact, I’d argue the only identity Bluesky has right now is a place of refuge for people who thrived on older declining social platforms and had to move on, but don’t like any of the newer ones.

Threads: Bitte keine Politik

  • Vor zwei Wochen setzte Adam Mosseri vier Posts ab, die große Empörung auslösten (Threads). Instagram und Threads werden künftig keine politischen Inhalte von Accounts empfehlen, denen man nicht folgt.
  • Das betrifft alle Orte, an denen man bislang auf neue Inhalte aufmerksam werden konnte: Empfehlungen innerhalb des Feeds, Entdecken, Reels und vorgeschlagene Account (About Instagram).
  • Die erwartbare Kritik von Journalistinnen und Aktivisten kam prompt: Das sei feige, Meta stehle sich aus der Verantwortung. Und wer definiert überhaupt, was "politisch" bedeutet?
  • Wir haben dazu selbst noch keine abschließende Meinung und möchten nur einige Beobachtungen teilen.
  • Der Einfluss könnte geringer sein als befürchtet. Wer bestimmten Accounts folgt, sieht deren Inhalte weiter im Feed. Wenn man weiter politische Inhalte empfohlen bekommen möchte, kann man das in den Einstellungen aktivieren. (Allerdings zeigt die Erfahrung bei Datenschutzfunktionen, dass nur ein Bruchteil der Nutzerïnnen den Standard bewusst ändert – aber immerhin, die Option ist vorhanden.)
  • Zudem testet Threads gerade eine Art Trending Topics in der Suche und im Feed – in denen auch politische Inhalte auftauchen sollen (TechCrunch). Ein Blick auf Instagram zeigt ebenfalls: Jede globale Plattform ist politisch relevant, Meta bekommt die Zahnpasta nicht zurück in die Tube (NYT).
  • Letztlich ist die Entscheidung nur konsequent. Meta lässt seit Jahren wenig Zweifel, dass man keine Lust auf News und Politik mehr hat. Diese Themen bringen nur Ärger und vergleichsweise wenig Umsatz. Wenn jemand die Daten hat, um das zu belegen, dann wohl Meta.
  • Zuletzt zeigte sich diese Haltung bei der Einstellung des News-Tabs und dem Streit um das kanadische Mediengesetz (SMWB). Als Threads im Juli in den USA startete, schrieb Mosseri (Threads):
The goal isn't to replace Twitter. The goal is to create a public square for communities on Instagram that never really embraced Twitter and for communities on Twitter (and other platforms) that are interested in a less angry place for conversations, but not all of Twitter. Politics and hard news are inevitably going to show up on Threads – they have on Instagram as well to some extent – but we're not going to do anything to encourage those verticals.
  • Es ist ein wenig ironisch, dass ein Teil der Menschen, die Meta jahrelang dafür verdammt haben, die falschen politischen Inhalte zu verstärken, jetzt sauer sind, weil Meta auf die Bremse tritt (Platformer):
Within Meta, there is low-level exasperation at the idea that reporters would now criticize the company for being more cautious in how it promotes politics, after journalists spent the past half-decade excoriating Meta for amplifying politics without regard for the consequences. Isn’t this what we were asking for?
  • Am meisten wundert uns, dass sich Meta offenbar kaum Gedanken darum gemacht hat, welche Inhalte denn als politisch gelten sollen. Im Blogpost heißt es dazu nur vage: "potentially related to things like laws, elections, or social topics". Auch auf Nachfrage wurde ein Sprecher kaum konkreter:
Informed by research, our definition of political content is content likely to be about topics related to government or elections; for example, posts about laws, elections, or social topics. These global issues are complex and dynamic, which means this definition will evolve as we continue to engage with the people and communities who use our platforms and external experts to refine our approach.
The statement only raised more questions than answers. A lot can be categorized under the banner of “social topics.” For example, does climate change fall under this umbrella? Women’s rights issues? LGBTQ issues? Meta simply won’t say.
  • Auch eine Woche später geizte eine Sprecherin mit Details (Washington Post):
Social topics can include content that identifies a problem that impacts people and is caused by the action or inaction of others, which can include issues like international relations or crime.
  • Wir sind ziemlich sicher, dass es keine allgemeingültige Definition gibt, die alle Nutzerïnnen zufriedenstellt. Entscheidend für die Bewertung sind deshalb drei Fragen, die Michael Seemann stellt (mspr0):
Was ist politisch? Dass diese Grenze schwer bis gar nicht zu ziehen ist, ist zur Genüge erläutert worden. Daher finde ich die Folgefrage viel relevanter, die da lautet:
Was halten Menschen für politisch? Und diese Frage ist sogar recht leicht zu beantworten: alles, was von der Norm abweicht. Der männliche Körper ist nicht politisch, der weibliche schon. Heterosexuelle Beziehungen sind nicht politisch, homosexuelle schon. Deutsche in Deutschland sind nicht politisch, Ausländer schon etc. Es gilt die Hegemonie des Normalen.
Diese Schwierigkeiten im Kopf stellt sich die dritte Frage: Habe ich genügend Zutrauen in den Konzern Meta, diese Frage zu beantworten? Und damit meine ich nicht nur, sie für mich zu beantworten, sondern für die Gesellschaft als ganzes, denn alles, was Meta tut, passiert auf Gesellschaftsebene.

Steile These: Fast niemand braucht ein neues Twitter

  • Kurzer Blick auf die Social-Media-Landschaft:
  • Facebook ist eine kulturell und politisch irrelevante Gelddruckmaschine, auf der sich Boomer zum Geburtstag gratulieren.
  • LinkedIn ist eine kulturell und politisch irrelevante Gelddruckmaschine, auf der Millennials ihren inneren Boomer ausleben.
  • Snapchat ist ein kulturell und politisch irrelevanter Messenger für Teenager, der bis heute nicht darauf klargekommen ist, dass alle Stories nachgebaut haben.
  • Twitter heißt jetzt X und gehört Elon Musk.
  • Threads will alles sein, aber bloß kein zweites Twitter.
  • Bluesky und Mastodon … wer?
  • Wer fehlt? Richtig, Instagram und TikTok beeinflussen Popkultur, Mode, Literatur, Konsumverhalten – und auch politische Diskurse.
  • TikTok ist längst keine reine Gen-Z-Plattform mehr (Pew Research Center, Garbage Day), auf beiden Plattformen reden und informieren sich Menschen über Politik – ob die Betreiber es wollen oder nicht.
  • Anders als auf Twitter tummeln sich dort Hunderte Millionen normale Menschen. Statt zu schreiben, teilen sie Fotos und Videos, sie posten Stories und Reels.
  • Auch wir trauern dem alten Twitter hinterher. Es war nicht nur wirklich lustig und bereichernd, sondern auch praktisch, so vielen "Entscheidern" folgen zu können, deren mehr oder weniger relevante Takes fast von selbst journalistische Inhalte generierten.
  • Journalisten wie wir neigen dazu, den gesellschaftlichen Einfluss von Twitter im Nachhinein zu überschätzen. Ein Teil der Relevanz entstand im Wechselspiel mit Medien, die aus Tweets Geschichten machten.
  • Vielleicht ist es endgültig Zeit, uns einzugestehen, dass sich die Welt weitergedreht hat. Text ist nicht tot, aber eine Nische (SMWB). News allein sind kein Produkt, das skaliert, sondern bestenfalls Beifang.
  • Unsere ersten Jahre im Netz waren geprägt von Foren und Blogs – von Text. Das hat nichts mehr mit der Plattformwelt von heute zu tun. Die meisten Menschen brauchen kein neues Twitter. Sie wollen nicht lesen, sondern sehen und hören.
  • Wir können die nächsten Jahre damit verbringen, einer Sehnsucht hinterherzulaufen, die sich nie materialisieren wird. Oder wir finden uns damit ab, dass es längst Plattformen gibt, die vieles erfüllen, was Twitter vermeintlich einzigartig gemacht hat: Sie geben Minderheiten eine Stimme, formen Gemeinschaften, ermöglichen Austausch und Vernetzung. Sie heißen Instagram und TikTok.

Social Media & Politik

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