Was ist

Twitter is going great:

  • Die Personalkosten sind massiv gesunken.
  • Dafür tummeln sich mehr Menschen auf der Plattform als je zuvor. (Sagt zumindest Elon Musk.)
  • Die Fußball-WM, historisch eines der wichtigsten Ereignisse für Twitter, fängt gerade an.
  • An der Spitze steht der reichste Mann der Welt, der mit fast jedem seiner Tweets Schlagzeilen schreibt.
  • Musks Spiel mit den Medien erinnert an Donald Trump … der jetzt seinen Account zurückerhält und Twitter weitere Aufmerksamkeit bescheren könnte.

So blickt womöglich Musk selbst auf sein Unternehmen. Wir halten es eher mit der – ironisch benannten – Webseite "Twitter is Going Great!", die derzeit stündlich aktualisiert werden muss, um die überschlagende Nachrichtenlage abzubilden. Was gerade bei Twitter geschieht, ist traurig. Für aktuelle und ehemalige Angestellte, für aktiv Nutzende, für passiv Rezipierende, für alle.

Die Shitshow im Überblick

Trump darf zurückkommen

  • Das Empörendste an der Entscheidung ist nicht das Ergebnis, sondern der Prozess.
  • Hunderttausende Menschen wurden für weniger gravierende Verstöße gesperrt als der Ex-Präsident, der sich Dutzende Male über Twitters Richtlinien hinwegsetzte. Es gab und gibt gute Gründe, Trump dauerhaft zu verbannen.
  • Es ist aber nicht völlig abwegig, ihm seinen Account zurückzugeben. Argumente dafür finden sich bei Katie Harbath, die dazu vor einigen Wochen einen Newsletter verschickte (Anchor Change) und ein ausführliches Paper schrieb (Box.com).
  • Wir stören uns vor allem am Wie. Nachdem Musk zunächst angekündigt hatte, ein Content Moderation Council zu gründen, das unter anderem über Trumps Account entscheiden sollte, überlegte er sich anders – und wählte die schlechteste aller Möglichkeiten.
  • Am Wochenende ließ er darüber abstimmen. Die Umfrage lief 24 Stunden, rund 15 Millionen Konten beteiligten sich. Wir sagen bewusst nicht Menschen, weil unklar ist, ob hinter jedem Konto ein Mensch steckt. Ironischerweise scheint Musk dieses Risiko plötzlich völlig egal zu sein, nachdem er monatelang versucht hatte, den Twitter-Kauf rückgängig zu machen, weil angeblich alles voller Bots und Fake-Accounts sei.
  • Knapp 52 Prozent sagten ja. "Vox Populi, Vox Dei", verkündete Musk, und zack, schon hatte Trump seinen Account zurück.
  • Dass es nichts mit Volkes Stimme zu tun hat, wenn Musk seine eigenen Follower dazu auffordert, sich während eines willkürlich gewählten 24-Stunden-Fensters an einer vier-Wort-Umfrage ("Reinstate former President Trump") zu beteiligen, müssen wir nicht erklären. Patrick Beuth bringt es in seinem Kommentar auf den Punkt (Spiegel):

Unter Musks Führung können sie nichts mehr erwarten, müssen aber mit allem rechnen. Der neue Twitter-Eigentümer und CEO hat aus dem sozialen Netzwerk sein persönliches Spielzeug gemacht. Auf der Basis einer Umfrage eigenmächtig zu entscheiden, ob Trumps seit Januar 2021 gesperrtes Profil wiederhergestellt werden sollte, unterminiert Twitters Nutzungsbedingungen. Die sollten die Macht der Stärkeren begrenzen, zum Schutz der Schwächeren. Nun wurden sie nach einem nicht repräsentativen Votum ausgehebelt. Egal, wie die Mehrheit der Teilnehmenden abgestimmt und egal, wessen Profil es betroffen hätte: Es handelt sich um einen Akt der Willkür durch Musk.

  • Ob Trump am Ende zurückkehrt, oder ob er trotzig bei Truth Social bleibt, wie er es gerade behauptet, klammern wir an dieser Stelle aus. Entscheidend ist, was die Entscheidung über Musk aussagt. Seine Scheindemokratie lässt Übles für die kommenden Wochen und Monate befürchten (Techdirt):

Conducting a poll is the stupidest possible way to make that decision. It’s Musk’s platform, and he’s free to run it however he wants, even making the stupidest possible decisions. But it should raise questions among its users whether or not they wish to embrace such a platform, and just how much damage Musk will do in pursuit of stunts. Making serious decisions, which can have massive impact on people’s lives, through stunts is not just reckless, but it foreshadows much more dangerous decision-making to come.

  • Neben Trump erhielten bereits weitere Rechtsradikale und Antisemiten ihre Konten zurück – natürlich, ohne dass ein externes Gremium darüber beraten hätte. Zumindest einem Verschwörungsideologen möchte Musk keine Bühne bieten. Auf die Forderung, Alex Jones zurückzuholen, antwortete er:

My firstborn child died in my arms. I felt his last heartbeat. I have no mercy for anyone who would use the deaths of children for gain, politics or fame.

  • Das ist tragisch, menschlich nachvollziehbar und inhaltlich richtig – aber es zeigt erneut, welche Werte und Kriterien Musk zugrundelegt, wenn er über Dinge entscheidet, die mehr als 200 Millionen Nutzerïnnen betreffen: allein seine eigenen.

Die Content-Moderation funktioniert nicht

  • Zwei Schlagzeilen reichen, um zu verdeutlichen, wie dysfunktional Twitters Moderation von Inhalten derzeit ist: "Twitter fails to delete 99% of racist tweets aimed at footballers in run-up to World Cup" (Guardian) und "Twitter’s Broken Its Copyright Strike System, Users Are Uploading Full Movies" (Forbes).
  • Von außen lässt sich schlecht beurteilen, ob und wie sehr die Massenentlassungen dabei eine Rolle spielen, die nicht nur Twitters Abteilung für Trust and Safety dezimierten, sondern auch Tausende externe Mitarbeiterïnnen trafen, die Inhalte prüften.
  • Es liegt aber nahe zu vermuten, dass Musk mit seinem Tabula Rasa zumindest dazu beigetragen hat, dass Twitter momentan kaum in der Lage zu sein scheint, seine eigenen Regeln durchzusetzen.
  • Das merken übrigens auch die Werbekunden. Auf der Plattform Blind schreibt ein anonymer Marketingchef eines Unternehmens, das seit 2016 knapp zehn Prozent seines jährlichen Werbebudgets von 80 Millionen Dollar auf Twitter ausgab:

Serious brand safety issues. Our organic social and CS teams got dozens of screenshots of our ads next to awful content. Replies to our posts with hardcore antisemitism and adult spam remained up for days even when flagged.

  • Neben einer Reihe weiterer Gründe führt das dazu, dass er vorerst keine Anzeigen mehr auf Twitter buchen lässt – und damit dürfte er nur einer von vielen Werbern sein, die ihr Geld lieber auf andere Plattformen verteilen.

Hire and Fire … and Hire

  • Mittlerweile könnte man allein mit dem Kündigungschaos ein halbes Buch füllen. Hochrangige Angestellte wie die Marketing-Chefin Robin Wheeler verkünden öffentlich ihren Abschied, dann überredet Musk sie zum Bleiben – und schmeißt sie kurz darauf doch wieder raus.
  • Musk setzt Tausende Menschen vor die Tür, holt einen Teil davon wieder zurück, vergrault mit absurden Ultimaten die engagiertesten Angestellten und bietet ihnen wenige Tage später massive Gehaltserhöhungen an, damit sie es sich anders überlegen.
  • Wer noch bei Twitter arbeitet, muss jederzeit damit rechnen, dass Musk vorbeikommt, Code-Schnipsel inspizieren möchte und das als Grundlage für die Entscheidung nimmt, ob man bleiben darf oder gehen muss. Anwesenheit bis in die Nacht wird als selbstverständlich vorausgesetzt, Twitter ist schließlich kein gewöhnlicher Job, sondern "purpose".
  • Kurzum: Es ist ein riesengroßes Chaos, das für die Betroffenen schlimm sein muss. Vielleicht verbirgt sich dahinter aber doch eine (perfide, zynische) Strategie. Casey Newton und Zoë Schiffer schreiben (Platformer):

We’re told that part of this was Musk’s plan all along. He’d wanted to lay off significantly more than 50 percent of the company earlier this month, but was talked into starting with roughly 3,700 roles, sources familiar with the matter told Platformer. The "hardcore" email was a way to thin the ranks even further.

  • Doch es sieht so aus, als habe Musk sich verkalkuliert. Was bei Tesla funktioniert haben mag, stößt Twitter Angestellte ab. Sie sind eine andere Unternehmenskultur gewohnt und haben keine Lust, zum Spielball von Musks Willkür zu werden.
  • Ganze Teams reichen geschlossen ihre Kündigungen ein, wichtige Abteilungen haben sich fast vollständig aufgelöst. Neben Sales und Trust and Safety trifft es auch Teams, die am technischen Fundament der Plattform arbeiten.
  • Zahlreiche Entwicklerïnnen erklären gerade in Threads und Newslettern, warum Twitters Infrastruktur akut bedroht ist.
  • Viele Menschen, die wussten, wie man Fehler behebt und Lücken stopft, sind nicht mehr da. Dieses Wissen lässt sich nicht so einfach ersetzen. Die anstehende WM bedeutet höchste Last für Twitters Systeme und könnte die Plattform an den Rand ihrer Belastungsgrenze bringen (The Information).
  • Nach allem, was wir gelesen und gehört haben, ist es unwahrscheinlich, dass Twitter für längere Zeit offline geht. Vermutlich häufen sich die Bugs und Glitches, Nachrichten erscheinen verzögert, die App lädt nicht oder Tweets verschwinden.
  • Kurzzeitig ist das verkraftbar. Wenn dieser Zustand länger anhält, werden Menschen die Lust verlieren. Dann könnte Musks Sparprogramm mehr Geld kosten, als es Gehaltskosten reduziert.
  • Gleichzeitig sind angeblich zahlreiche neue Funktionen geplant (Twitter). Twitter soll Ende-zu-Ende-verschlüsselte Direktnachrichten inklusive Audio- und Video-Chats bekommen.
  • Das klingt gut, steht aber auch schon seit Jahren auf Twitters Todo-Liste, ohne dass etwas passiert. Vielleicht gelingt es Musk, trotz halbierter Belegschaft und etlicher anderer Baustellen, Twitter DMs entscheidend zu verbessern. Wir glauben es erst, wenn wir es selbst ausprobieren können.

Das Blue-Chaos

  • Als wir vergangene Woche über das absurde Hin und Her bei Twitters Verifizierung und dem Bezahlmodell Blue schrieben (#840), hatten wir schon eine Vorahnung:

Dafür pausiert das Twitter-Blue-Abo und soll überarbeitet werden. Wer seinen Namen ändert, soll das Symbol zwischenzeitlich verlieren, schreibt Musk. Den neuen Versuch startet Twitter am 29. November, es werde "rock solid". Wir sind gespannt und stellen schon mal Popcorn bereit.

  • Die Tüte mit Popcorn müssen wir leider nochmal verschließen. Zur großen Überraschung von exakt niemandem hat Musk es sich mal wieder anders überlegt:

Holding off relaunch of Blue Verified until there is high confidence of stopping impersonation. Will probably use different color check for organizations than individuals.


Warum Medien nicht auf Plattformen vertrauen sollten

  • Wir treten kurz einen Schritt zurück und blicken auf eine Nachricht, die vergangene Woche angesichts des Twitter-Dramas etwas unterging. Die Massenentlassungen bei Meta trafen unter anderem große Teile der Teams, die für Medienpartnerschaften zuständig waren.
  • In Deutschland gingen unter anderem Jesper Doub und Torsten Beeck, die beide vom Spiegel gekommen waren. Auf Nachfrage der Welt antwortete ein Sprecher:

Nachrichten sind für die Mehrheit der Menschen nur ein Bruchteil dessen, wofür sie unsere Plattformen nutzen. Facebook- und Instagram-Nutzerinnen interessieren sich zunehmend für Inhalte, die von Creatorinnen erstellt werden, insbesondere für Videos.

  • Rasmus Kleis Nielsen, Direktor des Reuters Institute in Oxford, ordnet das so ein:

Ich denke, das reflektiert die Tatsache, dass Journalismus für ihre Hauptangebote und das Kerngeschäft nicht besonders wichtig ist, und dass das Unternehmen – sogar bevor die Umsätze sanken – gespürt hat, dass die Investitionen in den vergangenen Jahren nicht viel hinsichtlich der Anerkennung bewirkt haben, die man sich als Unternehmen erhofft, wenn man sich mit Themen wie gesellschaftlicher Verantwortung oder Wohltätigkeit engagiert.

The layoffs are another step in Meta’s journey to get the heck away from news. Meta, which promised $300 million in support of local journalism back in 2019 when it was still Facebook, has shifted resources away from its News tab, shuttered the Bulletin newsletter program, ended support for Instant Articles, eliminated human-curation in favor of algorithms, and stopped paying U.S. publishers to use their news content.

  • Als Facebook News vergangenes Jahr in Deutschland startete, schrieben wir (#723):

Öffentlich beteuert man das Gegenteil, aber für Facebook spielt Journalismus keine Rolle. (…) Wir wollen das aktuelle Engagement von Facebook und Google nicht diskreditieren. Die Angestellten, die an den Initiativen beteiligt sind, haben sicher gute Absichten. Nur hat die Vergangenheit auch gezeigt, dass insbesondere Facebook nicht der zuverlässigste Partner für Verlage ist – und wenn Mark Zuckerberg das Interesse an einer Kooperation verliert, dann helfen auch die tollsten Projektleiterïnnen nicht.

  • Meta blickte bereits damals auf eine jahrelange Geschichte falscher Versprechungen, geänderter Algorithmen und gescheiterter Projekte zurück (#663), die man teils schnell wieder beerdigte – und die beteiligten Medien gleich mit.
  • Was nun geschieht, bestätigt diese Einschätzung: Ein Geschäftsmodell, das auf von Mark Zuckerbergs gutem Willen abhängt, ist ungefähr so nachhaltig wie Musks Versprechen, alle wichtigen Entscheidungen zu Content-Moderation und gesperrten Konten an ein unabhängiges Gremium aus Expertïnnen zu übertragen.
  • Und mit dieser mehr oder weniger eleganten Überleitung schlagen wir den Bogen zurück zu Musk und Twitter. Auch diese Plattform ist für Medien und Journalistïnnen wichtig, wenn auch auf eine andere Art als Facebook. Dort erreicht man nicht unbedingt die breite Masse, findet aber Geschichten und Expertïnnen.
  • Während Zuckerberg das Schicksal der Medien schlicht egal ist, hat Musk sogar ein aktives Interesse daran, Verlage scheitern zu sehen. Er führt eine Privatfehde gegen mehrere US-Medien, die kritisch über ihn und Tesla berichtet hatten. In seinen drei Wochen als Twitter-Chef hat er eindrücklich demonstriert, wie willkürlich er entscheidet. Was Musk heute verspricht, kann morgen vergessen sein.
  • Wenn Medien bei Meta vorsichtig sein sollten, gilt das bei Twitter also erst recht. Wir rufen nicht dazu auf, Twitter komplett den Rücken zu kehren. Dafür ist die Plattform immer noch zu wichtig und zu hilfreich. Passend dazu listet Laura Hazard Owen elf ´Gründe auf (NiemanLab), warum Medien und Journalistïnnen hoffen sollte, dass Twitter weiter existiert.
  • Sehr wohl glauben wir aber, dass es sinnvoll sein könnte, sich zu überlegen, wie ein (Berufs-)Leben ohne Twitter aussehen könnte. Was passiert mit den Tweets, die man als Embeds in Artikeln verbaut hat? Sollte man seine Daten exportieren und Kontakte sichern? Könnte Mastodon Twitter ersetzen?
  • Wir hoffen, dass solche Vorsichtsmaßnahmen unnötig sind. Aber nach allem, was Musk bereits angerichtet hat, kann Vorsicht nicht schaden.

Header-Foto von Mahdi Bafande