Was war

Hinter diesem Briefing stecken zwei Menschen, aber wir legen nie offen, wer welche Teile des Newsletters geschrieben hat. Das ist in 99 Prozent der Fälle egal, weil sich unsere Einschätzungen eh fast immer ähneln. Die letzte Ausgabe war eine seltene Ausnahme – die wir nutzen, um zur Abwechslung mal Binnenpluralität zu demonstrieren.

Was ist

Am Donnerstag schrieb Martin über Instagrams Broadcast-Channels und WhatsApps neue Kanäle. Er stellte die Frage, ob Medien dort mitmischen sollten:

Wir haben allerdings unsere Zweifel, ob das sein muss. Ist es denn nicht so, dass sich User ganz bewusst an diese Orte zurückgezogen haben, um dem Kampf um Aufmerksamkeit zu entfliehen?

Anstatt sich den immer neuen Botschaften auszusetzen, öffnen sie lieber ihren ausgeruhten Gruppenchat. Anstatt durch die Flut an Content zu tauchen, machen sie es sich in Räumen gemütlich, über die sie selbst die Kontrolle haben. Kein Algorithmus sortiert hier irgendwas. Der Gruppenchat ist der beste For-You-Feed.

Wenn wir Medienmacherïnnen nun aber ebenfalls an diesen Orten auftauchen und User mit unseren – garantiert total gut gemeinten und qualitativ herausragenden – Beiträgen behelligen, kann das imho auch nach hinten losgehen. Fatigue ist real. Oder nicht? Nur mal so als Zwischenruf.

Das sind valide Argumente. Ich, Simon, sehe es trotzdem anders. Es gibt gute Gründe, keine weiteren Ressourcen in eine Plattform zu stecken, hinter der Meta steht. Der Konzern handelt erratisch und schert sich nicht um Journalismus. Die Sorge vor Nachrichtenmüdigkeit zählt aber nicht dazu – im Gegenteil: WhatsApp-Channels sind eine Chance, Menschen niederschwellig zu erreichen, die sonst kaum mit Nachrichten in Kontakt kommen.

Kurze Gedächtnisstütze: Was sind nochmal WhatsApp-Channels?

  • Mitte August schaltete WhatsApp die neuen Kanäle in mehr als 150 Ländern frei, darunter auch in Deutschland (WhatsApp-Blog).
  • Die Funktion erinnert stark an die Kanäle von Telegram. Ein neuer Tab am unteren Bildschirmrand bündelt alle abonnierten Channels.
  • Kanäle sind von Chats getrennt. Die Channels, denen man folgt, sind für niemanden sichtbar.
  • Weitere Hintergründe findest du in Ausgabe #904.

Wer Channels bislang nutzt

  • Keine zwei Wochen nach dem Start hat die New York Times mehr als 1,8 Millionen Follower. Auch Forbes, The Atlantic, Bloomberg oder das WSJ erreichen zwischen 700.000 und knapp anderthalb Millionen Menschen.
  • In Deutschland sind sowohl das Angebot als auch die Nachfrage kleiner. Vogue (104.000), Correctiv (52.000) und Glamour (45.000) sind die einzigen deutschsprachigen Medien mit nennenswerter Reichweite. Correctiv teilt dort etwa Links zu aktuellen Faktenchecks auf der eigenen Webseite.
  • Das dürfte an den Restriktionen liegen, die WhatsApp selbst vorgibt. Aktuell ist es nur für ausgewählte Institutionen und Personen möglich, Channels zu eröffnen. „In den kommenden Monaten“ sollen diese Einschränkungen aufgehoben werden.
  • Kleine Randnotiz: Vor ein paar Jahren wären wohl fast alle großen deutschen Medien zum Start dabei gewesen. Mittlerweile haben mehrere Verantwortliche des News-Partnership-Programms den Konzern verlassen. Meta setzt andere Prioritäten.

Warum Channels ein Gewinn für Medien seien können

  • Martin hat zu Recht die „News-Fatigue“ ins Spiel gebracht. Corona, Krieg, Klimakrise – Menschen haben keine Lust mehr auf all die schlechten Nachrichten und ziehen sich ins Private zurück. Studien wie der Reuters Digital News Report verdeutlichen das Ausmaß dieses Trends (#886)
  • Das ist aus individueller Sicht nachvollziehbar. Für Politik, Gesellschaft und vor allem Verlage ist es ein großes Problem.
  • Während das angeblich sinkende Vertrauen in Medien rauf und runter diskutiert wird, spielt Nachrichtenvermeidung eine vergleichsweise kleine Rolle in der öffentlichen Wahrnehmung.
  • Dabei zieht sich das Phänomen quer durch alle Gesellschaftsschichten und betrifft insbesondere Jüngere – also jene, die Medien so gern erreichen möchten, aber häufig daran scheitern.
  • Politik und Wirtschaft sind anstrengend, manchmal auch deprimierend. Also lässt man sich berieseln oder chattet sich mit Freundinnen.
  • Hier kommen Channels ins Spiel, ob nun auf WhatsApp, Instagram oder Telegram. Wenn Medien dort präsent sind, ist das kein Aufdrängen, sondern ein Angebot.
  • Niemand wird gezwungen, der Times oder Correctiv auf WhatsApp zu folgen. Wer keine Lust darauf hat, abonniert den Kanal einfach nicht. Wenn die Nachrichten zu viel werden, reicht einmal tippen, und man hat seine Ruhe.
  • Was Öffentlichkeitsarbeit angeht, können Medien von Fußballvereinen lernen. Die warten nicht darauf, dass die Fans zu ihnen kommen, sondern sind dort präsent, wo sich das Publikum tummelt. Borussia Dortmund und Bayern München haben eigene WhatsApp-Channels – und bereits 3,4 respektive 2,6 Millionen Follower.
  • Solche Reichweiten werden Verlage wohl kaum erreichen. Trotzdem können sie auf WhatsApp mehr gewinnen als verlieren.
  • Vor einigen Jahren verschickten viele Medien und Marken Newsletter über WhatsApp und bauten teils ansehnliche Reichweiten auf. 2019 schob WhatsApp den Riegel vor, doch der Zuspruch zeigte, dass es eine Zielgruppe für Nachrichten per Messenger gibt.
  • WhatsApp ist die mit Abstand größte Plattform in Deutschland, von jung bis alt erreicht man dort fast jeden – auch Menschen, die sonst kaum mit Journalismus in Berührung kommen.

Warum Medien trotzdem vorsichtig sein sollten

  • Ein Wort sollte reichen: Meta.
  • Der Konzern blickt zurück auf ein Jahrzehnt voller falscher Versprechungen, geänderter Algorithmen und gescheiterter Projekte, die Facebook teils schnell wieder beerdigte – und die beteiligten Medien gleich mit (#572).
  • Erinnert sich noch jemand an Instant Articles, Facebook Watch oder die Zeiten, in denen journalistische Inhalte regelmäßig und organisch viral gingen?
  • Erst Anfang August zog Meta bei Facebook News den Stecker (#902). Die Ankündigung ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Menschen besuchten Facebook eben nicht, um Nachrichten zu lesen. Für die breite Masse spielten News und politische Inhalte keine Rolle auf Social Media.
  • Facebook werde laufende Verträge einhalten und Medienpartner so lange bezahlen, bis die News-Deals auslaufen. Danach sei aber Schluss. Man solle künftig nicht mehr mit Facebook-Produkten rechnen, die sich gezielt an Verlage richteten.
  • Inhalt und Wortwahl machten ein für alle Mal deutlich: Journalismus ist auf Metas Plattformen nur geduldet – wenn überhaupt.
  • Deshalb gilt für die Channels auf Instagram und WhatsApp: nicht zu viele Ressourcen investieren, nicht zu viele Hoffnungen machen, keine langfristige Produktstrategie auf derart volatile Angebote aufbauen. Was Meta heute gibt, kann morgen wieder weg sein.
  • Nur wenige Unternehmen und Verlage können alle Plattformen gleichzeitig mit gleichbleibend hoher Frequenz und Qualität bespielen. Bevor man überall ein bisschen macht, aber nichts richtig, ist es sinnvoller, die eigene Präsenz auf die relevantesten Netzwerke und Messenger zu begrenzen.
  • Um herauszufinden, welche das sind, muss man experimentieren. Aus meiner Sicht spricht wenig dagegen, WhatsApp-Channels zumindest mal auszuprobieren (sobald die Funktion für weitere Medien geöffnet wird).

Social Media & Politik

  • Anlasslose Massenüberwachung: Wer für die Chatkontrolle lobbyiert: In Ausgabe #904 schrieben wir:

Die EU möchte Kindesmissbrauch und die Verbreitung von Child Sexual Abuse Material (CSAM) bekämpfen (Europa.eu). Das ist verständlich. Doch der Zweck heiligt nicht alle Mittel. Die geplante Verordnung — in Deutschland besser bekannt als „Chatkontrolle“ — würde Ende-zu-Ende-Verschlüsselung aushebeln und gefährdet die Privatsphäre von Hunderten Millionen Menschen.

  • Jetzt zeigt eine Recherche von mehreren europäischen Medien, wer maßgeblich für die Pläne lobbyierte: Ein breites Netzwerk aus Tech-Firmen, Stiftungen, Sicherheitsbehörden und PR-Agenturen mit Ashton Kutcher als prominentes „Zugpferd“. (Zeit Online, Netzpolitik)

Follow the money

  • TikTok Shop: Indonesien prüft Verbot: Indonesien gehört zu TikToks wichtigsten Märkten in Sachen E-Commerce. Wenn es nach Indonesiens Handelsminister geht, könnte es damit aber bald vorbei sein. Aus Sorge um die Wettbewerbsfähigkeit lokaler Unternehmen könnte es Social-Media-Plattformen bald verboten werden, E-Commerce-Funktionen anzubieten. Ob und in welchem Umfang ein solches Verbot wirklich kommt, ist noch unklar. (Bloomberg)
  • Snap feiert fünf Millionen Abokunden: Gut 15 Monate nach der Einführung des Abo-Modells Snap+ zählt das Unternehmen nun fünf Millionen zahlende Kundïnnen. Zahlen, von denen Elon Musk nur träumen kann. (Snap)
  • Reddit: Mit goldenen Upvotes Geld verdienen: Reddit hat ein neues „Contributor Program“ installiert, über das User für ihre Posts bezahlt werden können. (Reddit)
  • Tindern für $499 pro Monat: Wer bereit ist, diese stolze Summe zu zahlen, kann über die neue Mitgliedschaft „Tinder Select“ auf zahlreiche neue Features zugreifen: Etwa die Möglichkeit von mehr Nutzerïnnen gesehen zu werden (einschließlich der „begehrtesten Profile“), sowie die Option, anderen eine Direktnachricht zu senden, ohne dass es vorher ein Match gegeben hat. Stalking ist also cool, wenn man dafür bezahlt?! (TechCrunch)

Next (AR, VR, KI, Metaverse)

OpenAI

  • OpenAI gibt ChatGPT Augen und Ohren: ChatGPT kann jetzt sprechen, hören und sehen. Also zumindest dann, wenn man 22,99 Euro im Monat für das neue GPT-4 ausgeben mag. (OpenAI). Bisher konnte der Chatbot bekanntlich nur Texteingaben verarbeiten. Jetzt reagiert der Bot auch auf Sprachbefehle und Fotos. Wer mag, kann sich also fortan mit ChatGPT statt mit Alexa unterhalten. Wie (erschreckend gut) das funktioniert, zeigt Joanna Stern bei The Wall Street Journal.
  • Eine neue Kooperation zwischen OpenAI und Spotify soll es Podcast-Anbietern ermöglichen, ihre Podcasts in bis zu fünf weiteren Sprachen anzubieten. Und zwar nicht nur als stumpfe Übersetzung, sondern mit der Originalstimme. (Reuters) 🤯
  • Übrigens: Nachdem in den Sommermonaten die Nachricht kursierte, dass das Interesse an ChatGPT bereits wieder abgenommen habe, verbucht das Unternehmen nun wieder steigende Zugriffe. Ob diese Entwicklung wohl etwas mit Schülerïnnen und Studierenden zu tun hat? Mmmh, wir haben da so eine Vermutung. (Bloomberg)

Google, Amazon und Microsoft

  • Auch Google, Amazon und Microsoft haben in den letzten Tagen zahlreiche neue KI-Produkte vorgestellt:
    • So können sich jetzt Google-User mit “Bard“ E-Mails zusammenfassen oder Flugdaten raussuchen lassen. (Platformer)
    • Amazon bietet nun eine Art “Alexa“ auf Speed an, die KI-basiert statt vorgefertigte Antworten auf fixe Schlagwörter liefert. (Spiegel)
    • Microsoft baut die hauseigene KI “Copilot“ überall in Windows und Office ein. (Stratechery)
  • Soweit so neu. Allerdings wirken die Produkte oft noch recht unausgereift. Die Unternehmen scheinen einen ziemlichen Druck zu verspüren, neue Tools auf den Markt zu schmeissen. Die Kollegen John Herrman (Intelligencer), Gerrit De Vynck (Washington Post) und Kevin Roose (The New York Times) haben den Überblick, was schon ganz gut funktioniert und welche Funktionen noch zu wünschen übrig lassen — etwa dass Bard E-Mails zusammenfasst, die es gar nicht gibt. 🤪

YouTube

  • Auch YouTube geht in Sachen KI in die Vollen und präsentiert beim diesjährigen Made on YouTube-Event zahlreiche neue Features:
    • So bietet YouTube mit Dream Screen eine neue Funktion, mit der User Fotos und Videos generieren können, die sie dann als Hintergrund für YouTube Shorts nutzen können.
    • Zudem hat YouTube jetzt mit YouTube Create eine eigene Editor-App für Android am Start. Die iOS-Version folgt 2024. (Video: YouTube / Creators, Artikel: The Verge)
    • Mit AI Insights erhalten YouTuber Vorschläge, was für Videos sie (auf der Grundlage der Sehgewohnheiten ihrer Fans) als nächstes produzieren sollten.
    • Das Feature Aloud ermöglicht die Übersetzung der Videos in weitere Sprachen. 👀
    • Das Tool Assistive Search in Creator Music dient dazu, den passenden Soundtrack für Videos zu finden.
    • Hier gibt es eine Zusammenfassung aller neuen Features bei YouTube.

Weitere News

  • Meta launcht KI-Chatbots: Was Snapchat kann, kann Meta schon lange (Gizmodo). Oder wie Futurism es ausdrückt: „Losing Human Users, Facebook Releasing Chatbots for Lonely to Talk To.“
  • Rechenpower = natürliche Ressourcen: Das Weiße Haus erwägt, Cloud-Computing-Firmen wie Microsoft, Google und Amazon dazu zwingen, offenzulegen, wenn ein Kunde Rechenressourcen über einen bestimmten Schwellenwert hinaus einkauft. Rechenpower soll natürlichen Ressourcen gleichgestellt werden. (Semafor)
  • Getty bietet eine Datenbank für angeblich garantiert legale, KI-generierte Fotos. (The Verge)
  • Amazon investiert 4 Milliarden in Anthropic. (Süddeutsche)

Go deep

  • Was sind Large Language Models und wie funktionieren sie? Michael Seemann bietet den wohl besten deutschsprachigen Text zum Thema. (ctrl+verlust)

Schon einmal im Briefing davon gehört

  • Doxxing für Clout. Es gibt auf TikTok einen Account, der mittels gängiger Gesichtserkennungssoftware wie etwa Pimeyes Menschen aus viralen Videos ausfindig macht, um sie dann zu doxxen. TikTok sieht leider keinen Grund, den Account zu sperren. Was ist denn bloß mit solchen Leuten los? (404Media)

Neue Features bei den Plattformen

Facebook

  • Du kannst jetzt mehrere Profile bei Facebook haben. Also falls du noch ein weiteres Profil haben wolltest. Hast du überhaupt noch eins? (Meta)

X

  • Telefonate sollen ein Premium-Feature werden. (TechCrunch)
  • Das Feature Circle wird nächsten Monat beerdigt. (Mashable)

TikTok

  • TikTok testet die Einbindung von Google-Suchergebnissen?! (The Verge)

Mastodon

  • Mastodon hat jetzt eine bessere Suche und ein einfacheres Onboarding. (The Verge)

Threads

  • Threads testet einen Edit-Button, den Wechsel zwischen verschiedenen Accounts und die Möglichkeit, das Profil wieder zu löschen. Das war bislang nicht möglich, ohne dass gleich der gekoppelte Instagram-Account ebenfalls dran glauben musste. (Social Media Today)