Was ist

Der Krieg im Nahen Osten stellt journalistische und soziale Medien auf eine Bewährungsprobe. Die Explosion an einem Krankenhaus in Gaza-Stadt hat gezeigt, welche Risiken das aktuelle Informationsökosystem birgt. Binnen Minuten gingen Gerüchte und Fehlinformationen um die Welt, befeuert von Push-Nachrichten und Nutzerïnnen, die reflexhaft teilten, was ihnen in die Feeds gespült wurde.

Wir sind kein Medienwatchblog. Deshalb gehen wir nur am Rande auf die teils unrühmliche Rolle ein, die einige renommierte und meist seriöse Institutionen gespielt haben. Uns interessiert: Wie agierten Plattformen und ihre Nutzerïnnen? Und wie ließe sich die Nachrichtenapokalypse verhindern?

Was über den Raketeneinschlag bekannt ist

  • Am Dienstagabend deutscher Zeit verschickte die New York Times eine Eilmeldung per Push-Nachricht und E-Mail: „Breaking news: Israeli strike on hospital kills hundreds, Palestinian officials say“. Es war nicht nur die Times, Dutzende Medien eilten und titelten ähnlich, auch in Deutschland.
  • Die einzige Quelle dafür war das Gesundheitsministerium im Gazastreifen, einem von der Hamas kontrollierten Gebiet.
  • Es dauerte nur wenige Minuten, bis in sozialen Medien erste Zweifel laut wurden – sowohl an der Urheberschaft als auch der Zahl der Opfer. Die Times konnte die Eilmeldung nicht mehr zurückholen, passte aber ihre Überschrift an: „At least 500 dead in blast at Gaza hospital, Palestinians say“
  • Bis heute ist nicht endgültig geklärt, wer für die Tragödie verantwortlich ist (Bellingcat). Fast alle Faktenchecks und Open Source Intelligence (OSINT) deuten aber darauf hin, dass eine im Gazastreifen gestartete Rakete der Terrororganisation Islamischer Dschihad auf dem Parkplatz des Krankenhauses einschlug (Zeit). Auch die Zahl der Toten, die offiziell mit 471 angegeben wird, liegt vermutlich niedriger.
  • Sehr vorsichtig formuliert: Abgesehen von der Beschuldigung der palästinensischen Behörden gibt es keine Indizien für ein israelisches Bombardement (WSJ).

Wie sich die Unsicherheit ausbreitete

  • Etliche Medien übernahmen ungeprüft die Darstellung der Hamas-Regierung, für die es zu diesem Zeitpunkt nur eine Quelle gab – und Millionen Menschen verbreiteten die Nachricht auf Twitter, Instagram, TikTok und anderen Plattformen.
  • Gleichzeitig erfolgten Zurückweisungen und Gegendarstellungen. Wer zwischen 20 und 23 Uhr soziale Medien nutzte, sah einen erbitterten Kampf um Deutungshoheit. Gezielte Fehlinformationen wurden gestreut, alte Videos als vermeintliche Beweise präsentiert. Auch der offizielle Account der israelischen Regierung teilte ein aus dem Zusammenhang gerissenes Video, das später entfernt wurde (Rolling Stone).
  • Obwohl zunächst niemand mit Sicherheit sagen konnte, was geschehen war, wurden Forderungen nach politischen Konsequenzen laut. Es gab auch besonnene Stimmen, die aber von Schuldzuweisungen überlagert wurden. Bekannte deutsche Politikerïnnen und Aktivistïnnen teilten Tweets, in denen von zionistischem Genozid oder israelischem Terror die Rede war.
  • Man konnte den Eindruck gewinnen, dass manchen die politische Profilierung wichtiger war als das Schicksal der Opfer. Denn ganz egal, wer nun verantwortlich ist und wie viele Menschen gestorben sind: Was im Al-Ahli-Arabi-Krankenhaus geschah, ist eine fürchterliche Katastrophe.
  • Es wirkt, als bestätige sich ein Mechanismus, der bereits im Ersten Weltkrieg zum geflügelten Wort wurde: Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit. Das gilt erst recht bei einem derart emotionalen Konflikt, zu dem Menschen in der gesamten westlichen und arabischen Welt eine ausgeprägte Meinung haben.
  • Viele glauben nur noch, was sie glauben wollen. Wenige Stunden nach dem Raketeneinschlag wurden israelische Botschaften angegriffen, die Polizei in Berlin musste das Holocaust-Mahnmal schützen. Wahrheit scheint zur Interpretationssache geworden zu sein, Fakten spielen keine Rolle mehr.

Wie Plattformen zur Polarisierung beitragen

  • An dieser Entwicklung sind weder Medien noch soziale Medien allein schuld. Aber beide wirken daran mit.
  • Im konkreten Fall sind Redaktionen ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden und haben den essenziellen zweiten Teil einer journalistischen Kernkompetenz vergessen: Get it first – but first, get it right (ADL). Es fehlten Ressourcen und die Kompetenz, die Behauptungen unabhängig zu überprüfen (Twitter / John Burn-Murdoch).
  • Das wird verstärkt durch die Funktionsweise sozialer Medien, die ausgelegt sind auf größtmögliche Viralität (New Yorker). Auf den meisten Plattformen lassen sich Inhalte mit minimalem Aufwand weiterverbreiten.
  • Wenn der Schneeballeffekt erstmal losgeht, ist er kaum noch aufzuhalten. Algorithmen verstärken die Dynamik, weil sie nach dem Matthäus-Effekt funktionieren: „Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen.“ Was gerade die Runde macht, wird noch mehr Menschen vorgesetzt, offenbar scheint es ja viele zu interessieren.
  • Die TikTokisierung verschärft das Problem. Jede und jeder kann viral gehen, die Zahl der Follower ist nicht mehr entscheidend. Natürlich verbreiten auch Accounts mit großer Reichweite Unsinn, aber der Wandel von sozialen Netzwerken zu Content-Plattformen macht es noch einfacher, Gerüchte in die Welt zu setzen.
  • Die Tech-Konzerne stehen vor einem Dilemma. Perfekte Content-Moderation in globalem Ausmaß ist unmöglich. Automatisierte Systeme können – wenn überhaupt – nur die eindeutigsten Verstöße zuverlässig erkennen. Den großen Graubereich zwischen legalen Inhalten und gezielter Desinformation oder Gewaltverherrlichung müssen Menschen moderieren – und die machen Fehler.
  • Damit wollen wir Plattformen nicht aus der Verantwortung nehmen. Meta und vor allem Twitter haben in diesem Bereich massiv gespart, massenhaft Leute gefeuert und ganze Teams aufgelöst.
  • Insbesondere bei Twitter sieht man, wohin das führt: Desinformation verbreitet sich in noch nie dagewesener Geschwindigkeit (Science Media Scenter). Vermeintlich verifizierte „OSINT-Accounts“ verbreiten voreilige Bullshit-Analysen (404 Media). Den Betreibern geht es oft nicht um die Wahrheitsfindung, sondern um Geld: Wer für X Premium bezahlt, wird an den Werbeeinnahmen der eigenen Reichweite beteiligt.
  • Meta reagiert, indem etwa die Kommentarfunktionen für Nutzerïnnen in Nahost eingeschränkt wird (Meta Newsroom). Twitter verlässt sich auf Community Notes. Das ist bestenfalls Symptombekämpfung, teils verschlimmern die Faktenchecks von Freiwilligen die Situation sogar (Wired).
  • Wir haben oft davor gewarnt, die Auswirkung von Fehlinformationen zu überschätzen. Nur weil etwas im Netz steht, heißt es nicht, dass Menschen massenhaft ihre Meinung ändern. In der aktuellen Lage sind wir aber ziemlich sicher, dass gezielte Fehlinformation zur Verwirrung beitragen und das Gefühl verstärken, dass man gar nichts mehr glauben kann. Dieser sekundäre Effekt, das latente Misstrauen auch gegenüber Fakten, ist unserer Meinung nach die größte Gefahr.
  • Trotzdem: Nur zu fordern, dass Plattformen mehr und konsequenter löschen sollen, ist auch keine Lösung. Das führt schnell zu Overblocking und beantwortet die schwierige Frage nicht, wer die Grenze zwischen legalen Falschbehauptungen und gezielten Lügen ziehen soll (Übermedien).
  • Aus gutem Grund verlangt der DSA auch Transparenz und das Bereitstellen einer ausreichenden Moderations-Infrastruktur, die mit Krisensituationen umgehen kann. In diesem Bereich haben alle Plattformen Nachholbedarf.

Was Nutzerïnnen tun können

  • Wenn etwas Schreckliches (oder auch: Schönes) geschieht, öffnen viele Menschen soziale Medien. Klassische Medien müssen Behauptungen erst überprüfen, bevor sie berichten (nicht alle halten sich daran). Auf Social Media kann man sich schneller und ungefilterter informieren.
  • Das muss nichts Schlechtes sein, setzt aber Medienkompetenz voraus: Wer ist der Absender? Sind die Behauptungen glaubwürdig? Gibt es eine zweite Quelle?
  • Längst nicht alle Menschen stellen sich diese Fragen, erst recht nicht bei so grauenhaften Ereignissen wie am Dienstagabend.
  • Die Gefühle schalten den Verstand aus. Man sieht entsetzliche Fotos und Videos, liest angebliche Augenzeugenberichte und fühlt mit den Menschen, die unter dem Krieg leiden. Der erste Impuls: Ich kann nichts tun, aber ich kann diese Nachricht zumindest in die Welt tragen. Eine Sekunde später ist der Post oder Tweet geteilt.
  • Fast niemand ist davor sicher. Manche Menschen sind vielleicht beim Nahostkonflikt vorsichtiger oder weniger emotional, dafür teilen sie Fehlinformationen über die AfD, Geflüchtete oder liken unbemerkt einen Fake-Account – weil es ins Weltbild passt und bestätigt, was man schon immer zu wissen glaubte.
  • Plattformen könnten diesen Impuls einschränken, indem sie Viralität bewusst ausbremsen, zumindest in Breaking-News-Situationen das ungeprüfte Teilen erschweren oder seriöse Quellen algorithmisch bevorzugen. Letzteres testet YouTube gerade für bestimmte Themen, der nachrichtliche Feed ist allerdings nur optional und dürfte deshalb wenig bewirken (YouTube-Blog).
  • Die EFF listet weitere sinnvolle Maßnahmen auf, mit denen Meta, TikTok und Twitter in Kriegs- und Krisenzeiten reagieren sollten.
  • Genauso wichtig ist es, dass Nutzerïnnen ihr eigenes Verhalten hinterfragen. Einzelne können das Problem zwar nicht lösen, aber zumindest verhindern, selbst dazu beizutragen. Dafür braucht es journalistische Tugenden und Kompetenzen, denn im Zeitalter sozialer Medien trägt jede und jeder eine Mitverantwortung, welche Informationen um die Welt gehen.
  • Das bedeutet: Im Zweifel lieber die Finger stillhalten und nichts ungeprüft teilen. Oder auch einfach: weg mit dem Handy, analoge Ablenkung suchen und sich am nächsten Tag informieren.

Follow the money

  • Mehr Shopping bei YouTube: Alphabets Video-Plattform wartet mit neuen Features auf, die zu mehr Konsum verleiten sollen. Creator können jetzt in ihren Videos an relevanten Stellen auf die besprochenen Produkte verlinken. Zudem überarbeitet YouTube seine Statistiken: Künftig können Kreative einfacher überprüfen, welche Affiliate Links funktioniert haben (und welche Produkte sie künftig nicht mehr zu erwähnen brauchen). (The Verge)
  • TikToks everywhere: Plattformen wie TikTok brauchen permanent neue Features, um Nutzerïnnen bei Laune halten zu können Anzeigen platzieren zu können. Schließlich kann ja nicht jedes Video im Feed oder in der Story eine Werbung sein. TikTok geht daher im Rahmen des Projekts „Out of Phone“ neue Partnerschaften ein und wächst über den Smartphone-Screen hinaus: Künftig können einem TikTok-Videos auch auf Billboards, in Kinos, Restaurants, Flughäfen, Tankstellen und Einzelhandelsgeschäften begegnen. (TikTok-Video, TikTok Newsroom)
  • Patreon kaut Livestreaming-App Moment: Das Startup ist vor allem dafür bekannt, Tickets für Live-Events wie Musik-Performances oder Podcast-Aufnahmen zu verkaufen. Dinge, die bei Patreon gut aufgehoben scheinen. (Patreon Newsroom)

X-Watch

  • X für neue User kostenpflichtig: Müssen künftig alle neuen X-User einen Dollar pro Jahr bezahlen, um X zu nutzen? Derzeit läuft ein entsprechender Test in Neuseeland und auf den Philippinen. Laut X sei dies die effektivste Strategie, um Bots und Spam-Accounts von der Plattform fernzuhalten (Twitter/X). Das mag stimmen. Uns fehlen die Zahlen, um das einschätzen zu können. Sehr wohl sehen wir aber, dass es weiter die Anzahl der Stimmen einschränken wird, die sich auf X Gehör verschaffen. Nur sehr wenige dürften bereit sein, Elon Musk Geld zu überweisen – sei es auch nur ein symbolischer Dollar pro Jahr.
    • Weitere Hintergründe zur Einführung von Bezahl-Modellen bei Social-Media-Plattformen findest du in Ausgabe #912.
  • Verlässt X die EU? Business Insider hat einen Artikel veröffentlicht, nachdem Elon Musk aufgrund seiner Verärgerung über den Digital Services Act darüber nachdenkt, X in der EU nicht länger anzubieten. Völliger Quatsch sei das, schreibt Musk dazu auf X. Wer, wie, was und warum ist auch an dieser Stelle nicht wirklich nachzuvollziehen. Hat Musk das wirklich gesagt? Hat jemand etwas falsch verstanden und Business Insider daraus direkt eine Geschichte gemacht? Ist es eine Nebelkerze, um von den schlechten Zahlen bei Tesla abzulenken? Ist es ein Test, um die Stimmung auszuloten? Wir haben keine verlässlichen Antworten. Aktuell wissen wir nur, dass bei allen Nachrichten rund um X und Musk maximale Vorsicht geboten ist.
  • X im Abwärtstrend: Ein Jahr nach Musks Twitter-Übernahme deuten laut Similarweb alle Zahlen bei X nach unten. So sei der Traffic zu twitter.com im September 2023 in den USA um 19 Prozent niedriger als im September 2022. In Deutschland sei ein Minus von 17,9 Prozent zu verzeichnen. Auch im Jahresvergleich sei der Traffic eingebrochen: in den USA bei iOS & Android um 17,8 Prozent, weltweit bei Android um 14,8 Prozent. Auf Bluesky weißt Kollege Tibor Martini darauf hin, dass die Zahlen von Similarweb stets mit Vorsicht zu genießen seien. Dem wollen wir uns anschließen. Der Trend sieht aber so oder so nicht gut aus.

Next (AR, VR, KI, Metaverse)

  • Erinnert sich noch jemand an die Debatte um Googles Glassholes? Es sieht ganz so aus, als würde sich die Geschichte wiederholen. In den USA tauchen vermehrt Videos von Menschen auf, die mit ihrem Meta-Quest-3-Device in freier Wildbahn unterwegs sind und wahllos Leute für Likes und Retweets filmen. Nun ja. Das können wir nicht ändern. Schade eigentlich. Denn die Anwendungsbeispiele als solches sind ja wirklich beeindruckend – The Verge zeigt einige spannende Beispiele.

Tipps fürs Wochenende

Extra für Christian und alle anderen, die die Lesetipps vermisst haben:

  • How a billionaire-backed network of AI advisers took over Washington: A sprawling network spread across Congress, federal agencies and think tanks is pushing policymakers to put AI apocalypse at the top of the agenda — potentially boxing out other worries and benefiting top AI companies with ties to the network: (Politico)
  • How to fix the internet: If we want online discourse to improve, we need to move beyond the big platforms. (MIT Technology Review)
  • Wir müssen darüber reden, wie wir über Künstliche Intelligenz berichten: Ein Jahr nach dem Hype um DALL-E und ChatGPT steht der Journalismus immer noch vor der Frage, wie eine gute Berichterstattung aussehen sollte. (wissenschaftskommunikation.de)

Neue Features bei den Plattformen

Meta

  • Neues Account-Center: Instagram-User können jetzt einfacher erklären, dass sie von Meta nicht durchs ganze Netz verfolgt werden wollen. Zudem lässt sich nun gleichzeitig das Facebook- und das Instagram-Archiv downloaden (Meta Newsroom). DMA lässt grüßen!
  • Die neuen Broadcast Channels gibt es nun auch bei Facebook und Messenger (Meta Newsroom). Was Broadcast Channels sind und warum Medien sie nutzen, bzw. nicht nutzen sollten, haben wir in Briefing #907 und #906 erörtert.

WhatsApp

  • WhatsApp testet Sprachnachrichten, die verschwinden, nachdem der Empfänger sie gehört hat (The Verge). Haben wir was gesagt?

YouTube

  • Besser liken! Wer regelmäßig YouTube-Videos guckt, kennt die unumgänglichen Hinweise, dass man doch bitte auf den Gefällt-mir-Button und auf Subscribe drücken möge. Klick. Fair enough. Um das Spiel jetzt auf das nächste Level zu heben, gibt es bei YouTube auf die Wörter „Like“ und „Subscribe” künftig einen visuellen Hinweis, wo denn diese beiden wirklich schwer zu findenden Buttons sind. Dieses Gif bei Vox zeigt, wie das aussieht. Nun ja.

Discord

  • Discord beerdigt die Komplimente-App Gas. Ist wohl gerade nicht die richtige Zeit, um nett miteinander zu sein. Wie schade. (The Information $)