Die Corona-App ist da: Was sie kann – und was nicht

Was ist

Seit Dienstagmorgen steht die offizielle "Corona-Warn-App" in den App-Stores von Apple und Google bereit. Man kann sie herunterladen, installieren und nutzen.

Und wir glauben: Es spricht wenig dagegen, das zu tun. In diesem Briefing erklären wir, warum wir die Corona-App trotz einiger Bedenken empfehlen. Davor werfen wir aber einen Blick zurück:

Was war

Im Laufe der vergangenen Monate haben wir das Thema intensiv begleitet. Es passt zwar nicht ganz zu unserem Namen (das R in Tracing steht für Social Media), fällt aber direkt in unsere Kernkompetenz: ein komplexes digitales Phänomen an der Schnittstelle zwischen Technik, Politik und Gesellschaft erklären, das große Tech-Unternehmen involviert und Fragen des Datenschutzes und der IT-Sicherheit aufwirft.

Unter anderem sind wir ausführlich auf Risiken, Nebenwirkungen und die begrenzte Wirksamkeit von Tracing-Apps eingegangen:

  • Was aus der deutschen Contact-Tracing-App geworden ist (#641)
  • Warum Deutschland jetzt doch eine dezentrale Corona-App will (#634)
  • Der erbitterte Streit um die „richtige“ Anti-Corona-App (#632)
  • Warum Tracing-Apps die Corona-Krise nicht lösen werden (#630)
  • Deutschland will Covid-19 mit einer App eindämmen (#627)
  • Grundrechtseingriffe gegen Covid-19 (#626)
  • Weniger Datenschutz – besserer Seuchenschutz? (#624)

Die Inhalte dieser Briefings setzen wir als bekannt voraus und gehen deshalb nicht erneut auf die Funktionsweise, den Unterschied zwischen zentraler und dezentraler Lösung und den heftigen Richtungsstreit ein, den sich Forscherïnnen geliefert haben.

Stattdessen versuchen wir, die Stärken und Schwächen der neuen Corona-App darzulegen, damit du selbst entscheiden kannst, ob du sie nutzen willst.

Was die App schlecht macht

  • Sie läuft nicht auf allen Smartphones. Apple und Google setzen iOS 13.5 bzw. Android 6.0 voraus – für ältere Versionen der Betriebssysteme stehen die entsprechenden Bluetooth-Schnittstellen nicht zu Verfügung.
  • Android-Nutzerïnnen müssen die Google-Play-Dienste aktivieren. Auch das verkleinert die Zielgruppe: Neue Huawei-Geräte oder Google-freie Android-Versionen wie LineageOS bleiben außen vor.
  • Nutzerïnnen müssen mindestens 16 Jahre alt sein. Jüngere Kinder und Jugendliche bräuchten eine dokumentierte Einwilligung der Eltern – das steht im Widerspruch zur pseudonymen Nutzung.
  • Nochmal anders sieht es in den App-Stores aus: Apple setzt mindestens 17 Jahre voraus, Google nennt gar keine Altersbeschränkung. Das ist aber nur theoretisch: Bei der Installation wird das Alter aber nicht abgefragt oder geprüft. Ob und wie die App in Schulen eingesetzt wird, ist derzeit noch unklar.
  • Auch wer im Ausland lebt oder sein Apple- oder Google-Konto aus anderen Gründen nicht auf Deutschland eingestellt hat, kann die App nicht installieren.
  • Mittelfristig wollen Telekom und SAP das System mit den Tracing-Apps anderer europäischer Länder verknüpfen, damit Nutzerïnnen grenzüberschreitend gewarnt werden können.
  • Aktuell funktioniert das aber noch nicht, und es wird wohl auch noch etwas dauern. Bereits eine App zu entwickeln, ist komplex – Interoperabilität herzustellen, ist ein Mammutprojekt.
  • Die App verwirrt und irritiert manche Android-Nutzerïnnen: Obwohl sie ausdrücklich keine Positionsdaten aufzeichnet oder speichert, muss man den Standortzugriff aktivieren.
  • Das liegt aber nicht an den Entwicklerïnnen, sondern an Android. Google koppelt die beiden Berechtigungen für Bluetooth und den Standortzugriff, deshalb ist eine Freigabe nötig (Spiegel).
  • Weil noch nicht alle Testlabore in der Lage sind, QR-Codes auszuhändigen, müssen manche Infizierte ihre Diagnose über eine Telefon-Hotline bestätigen. Das ist nicht nur Symptom eines Gesundheitssystems, das die Digitalisierung verschlafen hat, sondern auch ein potenzielles Einfallstor für Trolle.
  • Ein Begleitgesetz, wie es etwa die Grünen (PDF) und Bürgerrechtlerïnnen (Netzpolitik) fordern, lehnt die Regierung bislang ab. Das ist schade, weil es nicht nur sinnvoll wäre, die Nutzung der Daten gesetzlich zu regeln – es könnte auch zusätzliches Vertrauen schaffen und Skeptikerïnnen beruhigen.
  • Hinzu kommen natürlich grundlegende Einschränkungen der Tracing-Technologie, die wir in Briefing #630 beschrieben haben – etwa die mangelnde Genauigkeit des Bluetooth-Standards, mit dem Entfernungen eher geschätzt als gemessen werden.
  • Bei der Corona-Warn-App soll die Fehlerquote 20 Prozent betragen (Golem). Das wäre deutlich besser als ursprünglich befürchtet und würde dennoch etliche Fehlalarme bedeuten. In diesem Fall sehen wir es aber ähnlich wie Jens Spahn: „Lieber einmal zu viel testen als einmal zu wenig.”
  • Ein weiteres Gegenargument, das wir selbst genannt hatten, greift dagegen nur eingeschränkt: der bestenfalls überschaubare Nutzen bei geringem Nutzunsgrad – mehr dazu im nächsten Kapitel:

Was die App gut macht

  • Sie braucht weniger Nutzerïnnen als angenommen, um zumindest dazu beizutragen, die Pandemie zu bekämpfen. Etliche Medien, darunter auch wir selbst, hatten im Laufe der vergangenen Monate eine Studie der Universität Oxford zitiert und dabei einen Satz herausgegriffen: „Unsere Modelle zeigen, dass wir die Epidemie stoppen können, wenn etwa 60 Prozent der Bevölkerung die App nutzen.”
  • Das Zitat geht aber noch weiter: „… und selbst bei einem geringeren Anteil gehen wir davon aus, dass die Zahl der Infektionen und Todesfälle sinkt.”
  • Nachdem vor einigen Tagen Heise darauf aufmerksam machte, habe ich mit Lucie Abeler-Dörner gesprochen (SZ), die an der Untersuchung beteiligt war. Sie sagt: „Unsere Simulationen zeigen, dass die App anfängt zu wirken, sobald 15 Prozent der Bevölkerung mitmachen. (…) In unserem Modell verhindern jeweils ein bis zwei Menschen, die die App nutzen, eine Neuansteckung.”
  • Natürlich gilt nach wie vor: Je mehr Menschen die App einsetzen, desto wirksamer ist sie. Aber es braucht eben keinen illusorisch hohen Anteil, der vermutlich ohnehin nie erreicht würde. Immerhin: Bereits am Dienstagabend verzeichnete die App mehr als zwei Millionen Downloads (ZDF).
  • Das liegt sicher auch an der guten Arbeit, die die Entwicklerïnnen leisteten – und die sich in entsprechend wohlwollenden Schlagzeilen niederschlägt.
  • Nachdem manche Medien in der Vergangenheit oft verkürzt oder alarmistisch berichteten, ist die Resonanz nun überwiegend positiv. Für viele Menschen dürfte das ein wichtiges Entscheidungskriterium sein.
  • Aus unserer Sicht ist der Zuspruch gerechtfertigt. Wir haben in den vergangenen Tagen mit mehreren IT-Sicherheitsexpertïnnen und Datenschützerïnnen gesprochen. Die Kritikpunkte sind minimal, fast alle loben den transparenten Entwicklungsprozess und die hervorragende Dokumentation auf Github.
  • Selbst der CCC, der „aus grundsätzlichen Erwägungen noch nie ein Produkt oder eine Dienstleistung empfohlen” hat, kommt einer Empfehlung so nah wie möglich.
  • Die Hackerïnnen hatten angekündigt, bei Bedenken vor der App zu warnen. Sie tun es nicht. Stattdessen loben sie die Transparenz der Entwicklung: „Die App ist das erste große öffentlich finanzierte Open Source Projekt in Deutschland”, sagt Sprecher Linus Neumann. „Da kann sich die Bundesregierung doch auch mal auf die Schulter klopfen.”
  • Was die Datenschutzbedenken angeht, halten wir es mit Markus Beckedahl (Netzpolitik): „Wer Whatsapp auf dem eigenen Smartphone installiert hat, schenkt Facebook (und wahrscheinlich der NSA) viel detailliertere Daten über die eigenen sozialen Verbindungen, als es diese App jemals könnte.”
  • Auch die Kritik von Digitalcourage, der TU Darmstadt, und des TÜVs liefert unserer Einschätzung nach keine wesentlichen Argumente gegen die App. Die Sicherheitslücken sind relativ theoretischer Natur und stellen keine Gefahr für die Daten einzelner Nutzerinnen dar.
  • Wir nutzen die App seit Dienstagmorgen und haben sie bislang erst zwölf Stunden im Einsatz. Deshalb können wir noch nicht seriös abschätzen, wie sie sich auf die Akkulaufzeit auswirkt.
  • Auf Grundlage des heutigen Tages können wir aber sagen: Ob mit oder ohne App, ein Google Pixel 4 XL hält locker bis zum Abend durch, wenn man nicht ständig draufstarrt. Die gelegentlichen Bluetooth-Scans im Hintergrund haben keinen merklichen Einfluss auf den Energieverbrauch.
  • Was wir dagegen mit Sicherheit sagen können: Die App ist einfach aufgebaut, intuitiv zu bedienen und erklärt die wichtigsten Funktionen von selbst – eindeutig (Groß-) Elternkompatibel.
  • Wer sich für die Nutzung entscheidet, geht kein Risiko ein: Man kann das Tracing jederzeit deaktivieren oder alle Daten löschen. Da alles zunächst nur lokal gespeichert wird, kann niemand davon erfahren. Das sollte selbst Aluhutträgerïnnen beruhigen.
  • Nach einer positiven Diagnose kann man frei entscheiden, ob man das Testergebnis und seine pseudonyme ID freigibt, damit mögliche Kontaktpersonen benachrichtigt werden können. Jeder Schritt ist absolut freiwillig, es gibt weder Zwang noch sanftes Nudging, etwa durch finanzielle Vorteile für Menschen, die die App nutzen.
  • Wir hoffen sehr, dass das so bleibt: Umfragen zeigen (SZ), dass die Akzeptanz der Maßnahme vor allem von zwei Kriterien abhängt: Datensicherheit und Freiwilligkeit. Politikerïnnen, die daran rütteln, zerstören Vertrauen und Schaden der Sache.
  • Last but not least: Die App eignet sich für Witze – für richtig gute Witze. Wir zitieren den geschätzten Watchblog-Abonnenten Ralf Heimann, der mit seinem Tweet den Sparwitz von Jan Böhmermann eindeutig aussticht: „Die Corona-App ist im Grunde wie Tinder rückwärts. Erst trifft man sich. Dann meldet die App ein Match. Und kurz darauf fühlt man sich sehr einsam.”

Be smart

Es ist gut, dass alle Menschen selbst entscheiden können, ob sie die App nutzen möchten. Wir können und wollen niemand überzeugen oder gar drängen.

Zumindest unsere Entscheidung haben wir aber bereits getroffen. Der wichtigste Grund dafür steht in diesem Kommentar, den ich für die SZ geschrieben haben:

"Für den Einzelnen ist das Risiko gering, für die Gesellschaft ist die Chance groß. Keine Technologie der Welt wird eine Pandemie im Alleingang aufhalten, aber selbst wenn sie nur einen geringen Beitrag leistet, waren die 20 Millionen Euro Entwicklungskosten gut investiert. Wer die Warnungen beherzigt, schützt nicht nur sich selbst, sondern auch andere: Kranke, Alte und Menschen, die keine geeigneten Smartphones besitzen."


Digital News Report

Aus gesundheitlichen Gründen und wegen anderer beruflicher Verpflichtungen konnten wir uns den Digital-News-Report, den das Reuters-Institut am Dienstag veröffentlicht hat, bislang nur oberflächlich ansehen. Natürlich könnten wir die Executive Summary von der Oxford-Webseite abschreiben, aber das entspricht nicht unserem Anspruch an uns selbst: Wenn wir etwas machen, dann richtig. Deshalb lesen wir den Report heute in Ruhe und veröffentlichen Donnerstagmorgen einfach direkt das nächste Briefing, in der wir die wichtigsten Fakten und Trends herausgreifen. ✌🏻


Social Media & Politik

  • BlackLivesMatter 1: Instagram möchte nicht nur reden, sondern auch handeln. Deshalb überprüft das Unternehmen, inwieweit seine Regeln in den Bereichen Harrassment, Account Verification, Distribution & Algorithmic Bias womöglich schwarze Kreative benachteiligen.

Social Media & Journalismus

  • Facebook braucht keine News & wird auch nicht für sie bezahlen: Australien wollte gern, dass Facebook (und Google) für Nachrichten zahlt, die auf der Plattform zu finden sind. Facebooks Antwort (PDF) hat sich gewaschen:

"We welcome the opportunity to provide more information about the value exchange between Facebook and Australian news publishers. This consideration should be informed by empirical and objective analysis, as the available evidence to date does not necessarily indicate that the value exchange favours Facebook. For example, we made a change to our News Feed ranking algorithm in January 2018 to prioritise content from friends and family. These changes had the effect of reducing audience exposure to public content from all Pages, including news. Notwithstanding this reduction in news content on our services, the past two years have seen an increase in people engaging on our services and increased revenues, suggesting both that news content is highly substitutable with other content for our users and that news does not drive significant long-term commercial value for our business…"

"If there were no news content available on Facebook in Australia, we are confident the impact on Facebook’s community metrics and revenues in Australia would not be significant, because news content is highly substitutable and most users do not come to Facebook with the intention of viewing news. But the absence of news on Facebook would mean publishers miss out on the commercial benefits of reaching a wide and diverse audience, and social value would be diminished because news would be harder to access for millions of Australians."

Zack! Was für eine Watsche. Wer sich direkt näher mit dem Thema beschäftigen möchte, dem seien die Artikel im Guardian und bei Splice Media empfohlen. Ansonsten werden wir aber in einer der kommenden Ausgaben auch noch einmal einen genaueren Blick auf das Thema richten.


Video Boom

  • Schlechte Prognose für Quibi: Laut Wall Street Journal wird Quibi bei der aktuellen Entwicklung der Nutzerzahlen lediglich 2 Millionen Subscriber am Ende des Jahres verbuchen – geplant waren eigentlich 7,4 Millionen. Kein Wunder, dass da die Fetzen fliegen. Insbesondere die beiden Chefs – Jeffrey Katzenberg (US-amerikanischer Filmproduzent und Mitbegründer von DreamWorks) und Meg Whitman (ehemalige Präsidentin von Hewlett-Packard) sollen enorme Probleme miteinander haben, heißt es. Keine gute Grundlage, um einen ̶t̶̶u̶̶r̶̶n̶̶s̶̶t̶̶y̶̶l̶̶e̶ Turnaround hinzubekommen.

Follow the money

  • Influencer Matching: Plattformen sind sehr daran interessiert, dass Unternehmen passende Influencer finden, um mit ihnen Kampagnen zu starten. Facebook und Instagram haben ihr Brands Collab Manager Tool, TikTok hat seinen Creator Marketplace. Auch YouTube möchte bei der Vermittlung von Kreativen jetzt eine größere Rolle spielen und relauncht daher sein bereits bestehendes Angebot FameBit als YouTube BrandConnect.
  • WhatsApp Payments startet in Brasilien: Nach monatelangen Diskussionen und Probeläufen startet WhatsApp tatsächlich sein Bezahl-Feature (FB Newsroom). Zunächst können Nutzerinnen in Brasilien auf die neue Funktion zugreifen und sich über den Messenger auf der Grundlage von Facebook Pay Geld schicken. Für die private Nutzung werden keine Gebühren fällig, Businesses zahlen 3,99 Prozent Gebühren, wenn sie Geld empfangen. Techcrunch hat die ganze Geschichte.


Studie

  • Nacktfotos bevorzugt: Eine Studie von AlgorithmWatch und dem European Data Journalism Network legt nahe, dass Instagram Fotos leicht bekleideter NutzerInnen priorisiert. Zwar sei es ohne Zugang zu Facebooks internen Daten unmöglich, endgültige Schlussfolgerungen zu ziehen. Ihre eigenen Beoachtungen ließen allerdings kaum einen anderen Schluss zu – mit ernsten Konsequenzen für die User:

"Refusing to show body parts dramatically curtails one’s audience. Male and female entrepreneurs must abide by the rules set by Facebook’s engineers if they want to stand a chance of making a living."


Schon einmal im Briefing davon gehört


Neues von den Plattformen

YouTube

  • Creator Mixes, Channel Customization: YouTube arbeitet an neuen Möglichkeiten, damit Kreative mehr aus ihrem Auftritt rausholen. So können User laut Creator Insider zum einen künftig ihren Kanal noch stärker individualisieren, zum anderen führt YouTube jetzt flächendeckend die Option sogenannter Creator Mixes ein – eine für jeden Nutzer individuell zusammengestellte Best-of-Playlist des Kanals.

ByteDance

Facebook

  • New Portal Features: Falls jemand aus der Runde einen Portal besitzt, bitte melden! Wir wären wirklich daran interessiert zu hören, was Portal im Alltag taugt. Facebook jedenfalls arbeitet kräftig weiter am Produkt und erweitert die Feature-Palette (FB Newsroom) um Messenger Rooms, neue Hintergrund-Optionen, Voice-Commands, AR-Effekte und Live-Broadcast-Optionen.

Header-Foto von John Cameron bei Unsplash