Was ist

Der große Hype um TikTok ist vorbei. Jede Zeitung hat ihren obligatorischen „Was Sie über die neue App wissen müssen, auf die ihre Kinder gerade abfahren”-Artikel veröffentlicht. Doch das Ende der TikTok-Explainer für Eltern bedeutet nicht das Ende von TikTok – im Gegenteil:

  • Statt über die App und den Entwickler ByteDance zu berichten, schreiben Medien mittlerweile ganz selbstverständlich über die Kultur und die Inhalte der Plattform, die für viele junge Menschen Teil ihres Social-Media-Alltags geworden sind.
  • Das gilt nicht nur für Beat-Reporterïnnen wie Taylor Lorenz, die für die New York Times so tief in die Netzkultur eintaucht wie kaum jemand sonst.
  • Selbst die FAZ spricht mit Younes Zarou und Onkel Banjou und nennt die beiden einfach nur „TikTok-Influencer” – ohne einmal zu erklären, wer oder was dieses TikTok überhaupt sein soll.

Warum das wichtig ist

Wer dieses Briefing liest, weiß seit langem, dass TikTok mehr ist als ein kurzfristiges Social-Media-Phänomen. Wir haben unter anderem:

  • im Februar 2019 die Gründe für den Erfolg der App erklärt (#524).
  • im März 2019 bei 1Live nachgefragt, die als einer der ersten großen deutschen Medienanbieter auf TikTok präsent waren (#533).
  • im August 2019 den TikTok-Algorithmus unter die Lupe genommen (#573).
  • im September 2019 über geleakte Richtlinien für Content-Moderation berichtet (#582).
  • im November 2019 den TikTok-Account der Tagesschau ausführlich vorgestellt (#594).
  • gegen Ende des Jahres gleich dreimal nacheinander den Blick auf Zensurvorwürfe, fragwürdige Moderationsregeln, Datenschutzverstöße und andere unerfreuliche Nachrichten geworfen (#596, #597, #598).
  • im Februar 2020 zehn Dinge beschrieben, die TikTok von seinen Konkurrenten abhebt (#613).

Doch während der Corona-Krise hat sich TikTok endgültig als weiteres Schwergewicht im Plattform-Boxring etabliert – und zwar als eines, das auf absehbare Zeit nicht k.o. gehen wird, obwohl YouTube, Snapchat und vor allem Facebook alles daran setzen, einen Kinnhaken anzubringen.

Seitdem Facebook den rasanten Aufstieg von Snapchat stoppte, indem es alle Funktionen kopierte und Instagram als Konkurrenten aufbaute, herrschte ein Kräftegleichgewicht. Wenn TikTok weiter wächst, könnte das den westlichen Social-Media-Markt durcheinanderwirbeln. Das betrifft nicht nur die konkurrierenden Unternehmen, sondern alle, die soziale Netzwerke privat oder beruflich nutzen.

Wie sich der Erfolg von TikTok äußert

Es gibt eine Reihe von Zahlen und Entwicklungen, die verdeutlichen, dass ByteDance weiß, was es tut:

  • Viele Start-ups verbrennen jahrelang Geld und vertrauen darauf, das sie schon irgendwann ein Geschäftsmodell finden werden. Bis dahin leben sie von Risikokapital. Oft genug geht das schief.
  • Auch ByteDance fährt eine ultra-aggressive Expansionsstrategie und gibt viel Geld für Anzeigen aus, die es bei seinen direkten Rivalen Facebook, Instagram und Snapchat schaltet.
  • Doch TikTok und sein chinesisches Pendant Douyin werfen Gewinn ab: Im vergangenen Jahr verdiente ByteDance drei Milliarden Dollar (Bloomberg) bei einem Umsatz von 17 Milliarden.
  • Im ersten Quartal 2020 wurde TikTok 315 Millionen Mal heruntergeladen (Forbes) – öfter als je eine andere App in einem solchen Zeitraum.
  • In den USA, Großbritannien und Spanien verbringen Kinder zwischen vier und 15 Jahren mittlerweile 80 Minuten pro Tag mit TikTok (#644). Damit hat die App YouTube fast schon eingeholt.
  • Lange Zeit galt TikTok als reine Unterhaltungsplattform. Das ist längst passé: Videos mit den Hashtags #BlackLivesMatter und #GeorgeFloyd wurden jeweils mehrere Milliarden Mal angeschaut
  • Der schwarze Comedian Kareem Rahma sagt etwa (Bento): „TikTok ist eine sehr responsive Plattform. Deshalb bewegt sie sich dahin, wo die globale Konversation sie hinführt. Twitter ist für alte Leute.”
  • Immer mehr Medien, Unternehmen, Prominente und Influencerïnnen toben sich auf TikTok aus. Obwohl TikTok seinen Gewinn nicht an die Creators weitergibt, verdienen TikTok-Stars viel Geld (Digital Trends) über Werbeverträge oder direkte Geldgeschenke der Nutzerïnnen (Spiegel).
  • ByteDance weiß auch, dass ihm als chinesisches Unternehmen im Westen viel Misstrauen entgegenschlägt. Deshalb investiert es viel Geld und Mühe in Lobbying (Politico), um drohende Regulierung zu vermeiden.
  • Kürzlich heuerte ByteDance etwa den früheren Disney-Manager Kevin Mayer an (SZ) an. Er wird Chef von TikTok und soll bei ByteDance das operative Geschäft leiten.
  • Außerdem verkündete ByteDance, dass chinesische Entwicklerïnnen keinen Zugriff mehr auf sensible Daten (PingWest) und den Code von TikTok und anderen Apps hätten, die außerhalb Chinas angeboten werden. Auch das soll eine vertrauensbildende Maßnahme sein.

Welche Gefahren TikTok drohen

Mit großer Reichweite kommt großes Misstrauen, erst recht bei einem chinesischen Eigentümer. Zwar beteuert ByteDance, dass für seine westliche App TikTok auch westliche Standards gälten, doch in den vergangenen Jahren gab es zu viele Berichte über fragwürdige Moderationsregeln und staatliche Zensur, um sie einfach wegzuwischen.

Vor allem in den USA wird ByteDance die Vorbehalte vermutlich niemals ganz ausräumen können. Den meisten Nutzerïnnen ist das vermutlich egal, dafür schauen Politikerïnnen und Sicherheitsbehörden umso genauer hin. Auch die EU will den Datenschutz der App überprüfen (Golem) und hat dafür eine TikTok-Taskforce eingerichtet (European Data Protection Board).

Und dann ist da natürlich noch die Konkurrenz, allen voran Facebook. Mark Zuckerberg wird sicher nicht tatenlos zusehen, wie TikTok den US-Markt erobert. Auch bei Snapchat dauerte es eine Weile, bis Facebook mit Instagrams Story-Funktion die richtige Antwort fand, um den Rivalen auszubremsen.

Bislang konnten Facebooks Kopierversuche TikTok nichts anhaben – aber wenn es jemanden gibt, der alles daransetzen wird, ByteDance zurückzudrängen, dann ist das Mark (Wired) „Domination!” (New Yorker) Zuckerberg (The Atlantic).

Be smart

TikTok ist nicht das einzige Phänomen, das die etablierten Social-Media-Plattformen unter Druck setzt. Für viele jüngere Menschen sind Games nicht nur Unterhaltung, sondern eine wichtige Kommunikationsplattform: Sie feiern Graduierungspartys in Minecraft (Wired) oder lauschen virtuellen Konzerten in Fortnite (Tobias van Schneider), die etwa der Rapper Travis Scott als mächtiges Marketing-Mittel einsetzt:

„Players celebrated with custom in-game items designed for this event, and the new single, titled „THE SCOTTS,“ rocketed to #1 on Billboard charts. Across four replays over three days, 27.7 million unique players attended the event 45.8 million times. The video captured in Fortnite has already reached more than 24 million views and is trending in 44 countries.“

Was Tobias van Schneider über Games als Plattform schreibt, ist absolut faszinierend – und führt dazu, dass wir uns ein bisschen alt fühlen.