Salut und herzlich Willkommen zur 613. Ausgabe des Social-Media-Watchblog-Briefings. Heute blicken wir darauf, wie sich das Silicon Valley am Safer Internet Day selbst feiert, wie sich TikTok von anderen Social-Media-Plattformen unterscheidet und warum immer mehr Medien Big Tech auf die Finger schauen. Wir bedanken uns für das Interesse an unserer Arbeit und wünschen eine gewinnbringende Lektüre, Simon, Tilman und Martin

Safer Internet Day: Das Silicon Valley feiert sich selbst

Was ist: Am Dienstag war Safer Internet Day. Viele Unternehmen haben das zum Anlass genommen, ihr eigenes Engagement für Sicherheit und Datenschutz vorzustellen. Das ist sinnvoll – und gleichzeitig nur einer von ungefähr 73 Schritten, die nötig wären, um Privatsphäre und Wohlergehen der Nutzerïnnen wirklich zu schützen.

Was die Plattformen tun:

  • Die interessanteste Ankündigung kommt von Snapchat – genauer gesagt von Sara Fischer, die über eine Reihe von Werkzeugen und Maßnahmen berichtet, mit denen Snapchat die psychische Gesundheit seiner Nutzerïnnen adressieren will (Axios). Wer etwa Suchbegriffe eingibt, die auf psychische Probleme hindeuten, soll automatisch Hilfe zu Themen wie Depressionen und Seelsorge angeboten bekommen.
  • Damit folgt Snapchat einem Weg, den andere Plattformen eingeschlagen haben. Pinterest will Nutzerïnnen helfen, Stress und Ängste zu lindern (TechCrunch), Instagram will Mobbing verhindern (CNN), und Twitter, Facebook und Instagram testen den Verzicht auf öffentlich sichtbare Metriken (Axios / Briefing #552).
  • Microsoft veröffentlicht anlässlich des Safer Internet Days die vierte Auflage des Digital Civility Index. Demnach sagen 70 Prozent der Befragten, dass sie im letzten Jahr unangebrachtem Verhalten im Netz ausgesetzt waren – mehr als je zuvor. Im weltweiten Vergleich scheint es im deutschsprachigen Teil des Netzes noch verhältnismäßig gesittet zuzugehen. Aber auch in Deutschland werden insbesondere Millennials regelmäßig online beleidigt und bedroht.
  • Facebook und Google beschränken sich auf Eigenwerbung: Facebook zählt auf, wie es Daten und Konten seiner Nutzerïnnen schützt, Google gibt „7 Tipps, um eure Privatsphäre zu schützen – mit Google„. Es folgt Werbung für Google Chrome, Googles Passwortmanager, Googles Inkognito-Modus, Googles Zwei-Faktor-Authentisierung, Googles Sicherheitscheck, Googles Privatsphärecheck und Googles Digital-Wellbeing-Werkzeuge.

Meanwhile: Alle vorgestellten Maßnahmen sind schön und gut. Noch schöner und besser wäre es, wenn sie nicht von solchen Berichten konterkariert würden:

  • Facebook wusste angeblich monatelang von einer Sicherheitslücke, die es Hackern schließlich ermöglichte, persönliche Daten von 29 Millionen Menschen zu erbeuten. Obwohl Angestellte bereits im Dezember 2017 gewarnt hätten, sei die Schwachstelle bis September 2018 offen geblieben. (Telegraph)
  • DSGVO und CCPA (das kalifornische Pendant) ermöglichen es Nutzerïnnen, die Daten abzufragen, die Unternehmen über sie gespeichert haben. Es sind sehr, sehr viele. (OneZero)
  • A propos DSGVO: Fast alle großen Webseiten und Dienste nutzen manipulative Pop-ups, Dark Patterns und irreführende Opt-out-Dialoge, um Nutzerïnnen dazu zu bringen, der maximal möglichen Datensammlung zuzustimmen. (Fast Company)
  • Mit seinem Plugin für Kommentare wollte Facebook das Niveau von Online-Diskussionen steigern, auch dank seinem „best-in class“ Spam-Schutz. Die Realität: Webseiten, die das Plugin nutzen, werden von Spammerïnnen und Scammerïnnen überrannt. (Business Insider)
  • In einem Gutachten werfen vier Landesmedienanstalten Facebook, Twitter und Google vor, dass die Unternehmen ihre eigenen Selbstverpflichtungen nicht einhalten, was Maßnahmen gegen Desinformation angeht. Die LfM Nordrhein-Westfalen spricht von einem „Systemversagen“. (Tagesschau)
  • Michael Blume, Antisemitismus-Beauftragter von Baden-Württemberg, ist aus den „werbefinanzierten, asozialen Medien voller vor allem rechtsgerichteter Hater, Trolle und Wichtigtuer“ ausgestiegen. Sein Fazit: weniger Hass, mehr Gelassenheit. (Spektrum)
  • Im Gegensatz zu Blume besitzt Ann-Kathrin Nezik noch einen Facebook-Account – und fühlt sich damit zunehmend unwohl: „Facebook weiß auch Dinge über mich, die so intim sind, dass ich überlegt habe, ob ich darüber schreiben will.“ Unter anderem empfängt und verarbeitet Facebook Daten von Zyklus-Apps, in denen Frauen eintragen, wie sie verhüten und wann sie Sex haben. (Zeit Online)

Das ist nur eine Auswahl der Links, die sich seit unserem letzten Briefing in unserem Slack-Channel gesammelt haben. Safer Internet Day? Es bleibt noch einiges zu tun.

10 Dinge, die TikTok anders macht

Was ist: TikTok ist gekommen, um zu bleiben. Das ahnten wir schon im Frühjahr 2019, als wir in einer Sonderausgabe den Hype um TikTok ausführlich einordneten. Aufgrund des anhaltenden Erfolgs (Sensortower) lohnt es sich, noch einmal die wesentlichen Unterschiede zu anderen Social-Media-Plattformen aufzuzeigen. Genau das hat Sam Lessin¹ getan (The Information $). In der Folge unsere Zusammenfassung, gewürzt mit eigenen Anmerkungen.

Was TikTok unterscheidet:

    1. Konsum steht an erster Stelle: Wer TikTok herunterlädt und zum ersten Mal öffnet, kann direkt Videos gucken. Nutzerïnnen müssen dafür keinen Account anlegen – ein fundamentaler Unterschied zu Facebook, Instagram und Co, bei denen ein Signup unumgänglich ist. TikTok reagiert damit auf einen Trend, den Lessin als „account and identity fatigue“ beschreibt – Menschen haben einfach immer weniger Lust, sich irgendwo neu zu registrieren, bzw. neue Online-Identitäten aufzusetzen.

 

    1. Ranking durch Handlung: Im Gegensatz zu Facebook oder Instagram geht es bei TikTok nicht primär darum, wen Nutzerïnnen kennen / liken, sondern darum, wie sie mit Inhalten interagieren. Per Design kann immer nur ein Video entweder angeschaut oder weggewischt werden – jede Entscheidung wird von TikTok registriert und dafür genutzt, weitere Videos vorzuschlagen.

 

    1. Nur ein Feed: Während Facebook, Instagram und Snapchat verschiedene Orte anbieten, wo Inhalte konsumiert werden können, ist bei TikTok der Feed zentral. Zwar gibt es auch bei TikTok Überlegungen, ob analog zu Snapchat Discover ein Ort für professionelle Medieninhalte angeboten werden sollte (Briefing #606). Bislang bekommen Nutzerïnnen aber alles zentral und integriert serviert: Inhalte von Menschen, denen sie folgen und Inhalte, die TikTok vorschlägt.

 

    1. Müheloser Konsum: Lange Zeit galt Facebooks News Feed als das Nonplusultra der Distribution von Inhalten. Aus geschäftlicher Sicht mag das auch weiterhin stimmen. Nutzerïnnen hingegen stehen zunehmend vor der Aufgabe, aus einer Masse an unterschiedlichen Formaten (Videos, Fotos, Posts, Links, Stories, etc.) die für sie passenden herauszufiltern. Nun wollen wir nicht suggerieren, dass das Scrollen durch den News Feed eine fordernde Aufgabe darstellt. Aber das Zappen von TikTok-Videos ist im Vergleich mit nahezu null Aufwand verbunden.

 

    1. Trennung von Konsum und Produktion: „Was gibt’s Neues“, fragt mich Twitter. „Schreib etwas“, fordert mich Facebook auf. Die Social-Media-Plattformen versuchen seit Jahren mit immer neuen Kniffen, Nutzerïnnen dazu zu bringen, selbst Inhalte zu produzieren. Bei TikTok ist das anders: dort wird niemand aufgefordert, etwas zu posten. Aus gutem Grund, denn bei Social-Media-Plattformen gilt das Paretoprinzip – ein Großteil der Inhalte wird von einer Minderheit der Nutzerïnnen produziert. Dadurch, dass TikTok diese Tatsache akzeptiert, kann die Plattform Tools für jene anbieten, die wirklich Inhalte produzieren wollen.

 

    1. Produktion als soziales Event: Während bei Instagram primär Inhalte von und mit Einzelpersonen zu finden sind, bestehen TikTok-Videos sehr häufig aus einer Vielzahl von Akteuren. Somit ist auch die Produktion der Inhalte – insbesondere bei Challenges – viel stärker ein soziales Event. Klar, auch bei TikTok geht es um Wettbewerb. Trotzdem scheint die Plattform bislang weniger narzistisch.

 

    1. Lob der Kopie: Normalerweise ist es verpönt, Inhalte von anderen zu kopieren. Bei TikTok aber steht die Kopie im Zentrum. Egal ob bei Challenges, Duetts, Lipsync, Tanzmoves oder Fingerspielereien – die eigene Interpretation bekannter Themen ist elementarer Bestandteil der Plattform-Logik. Genau das macht es für Nutzerïnnen recht einfach, eigene Inhalte zu kreieren.

 

    1. Talent-basiert: Anders als bei den etablierten Social-Media-Angeboten geht es bei TikTok nicht nur um den Status, sondern darum wie gut die Inhalte sind, die geteilt werden. Daher ist die Plattform gerade für all jene interessant, die bislang vielleicht nur die zweite Geige spielten.

 

    1. Lotterie-Logik: Auf Social-Media-Plattformen gehen natürlich immer mal wieder Inhalte viral, die von ganz gewöhnlichen Menschen geteilt wurden. In der Regel verhält es sich aber so, dass denen gegeben wird, die bereits die Aufmerksamkeit auf ihrer Seite haben. Bei TikTok aber scheint eine Art Lotterie-Prinzip fest in die Plattform eingebaut zu sein. Immer wieder schaffen es Videos von regulären Nutzerïnnen in die Feeds von Millionen Menschen. Das kann kein Zufall sein, sondern eher eine Art perfides Anreizsystem.

 

  1. Amateure stehen im Fokus: In einer Welt, die voller Stars ist, fallen die vielen Krankenschwestern, Polizisten und Angestellten, die bei TikTok Videos teilen, extrem auf. Dieser Fokus auf Amateure und der Blick ins Private unterscheidet sich stark von den anderen Angeboten.

Be smart: Facebook, Instagram und Snapchat schauen sich ganz genau an, warum TikTok so schnell so populär wurde. Wir können daher sicher sein, dass wir viele der hier aufgeführten TikTok-Merkmale künftig auch bei den bereits etablierten Social-Media-Angeboten sehen werden.

 

¹ Sam Lessin ist der Ehemann von Jessica Lessin, Herausgeberin und Gründerin von The Information. Von 2010 bis 2014 arbeitete Lessin als Vice President of Product Management bei Facebook. Bei The Information wird er als Praktikant geführt.

Immer mehr Medien schauen Big Tech auf die Finger

Medien mögen ihre Gatekeeper-Funktion verloren haben. Umso wichtiger ist es, dass Journalistïnnen ganz genau hinschauen, was die neuen Gatekeeper veranstalten. Deshalb ist es gut, dass sich neue Start-ups gründen und sich Projekte etablieren, die Insider-Informationen liefern.

Ein Überblick der aktuellen Entwicklungen:

  • Kein anderes Medium ist so nah dran am Silicon Valley wie The Information. Ein Abo kostet 399 Dollar pro Jahr. Es gibt keine Werbung, aber jede Menge exklusive Einblicke. Während andere Verlage schrumpfen, rechnet Gründerin Jessica Lessin für Ende 2020 mit 20 Millionen Dollar Umsatz und kann die Redaktion ausbauen. Edmund Lee erzählt die Erfolgsgeschichte mit der großartigen Überschrift „Maybe Information Actually Doesn’t Want to Be Free“. (NYT)
  • Vergangene Woche ist The Protocol gestartet. „We’ll focus on the people, power and politics of tech, with no agenda and just one goal: to arm decision-makers in tech, business and public policy with the unbiased, fact-based news and analysis they need to navigate a world in rapid change.“, schreibt Chefredakteur Tim Grieve. Es ist noch zu früh, um zu bewerten, ob die Redaktion dieses Versprechen einlösen kann.
  • The Markup war bereits mehrfach Thema in diesem Briefing. Nach zahlreichen Personalrochaden, unter anderem wurde Mitgründerin Julia Angwin erst gefeuert und dann wieder eingestellt, will der Watchdog für Tech-Unternehmen bald loslegen. Wer zuerst davon erfahren will, kann sich für den Newsletter anmelden.
  • Im Dezember hat Recode Open Sourced ins Leben gerufen. Das Projekt wird unter anderem vom Omidyar Network finanziert, der Stiftung des Ebay-Gründer Pierre Omidyar. Das Recherchenetzwerk ist offen für Journalistïnnen aus aller Welt und konzentriert sich auf Analysen, Hintergründe und investigative Tech-Berichterstattung.

Social Media & Journalismus

The Economist und Instagram: The Economist hat auf Instagram 4,6 Millionen Follower – für einen jetzt eher nicht ganz so leicht zu lesenden Wirtschaftstitel ist das eine ziemlich krasse Hausnummer! Welche Rolle dabei Infografiken spielen, erklären die Macher auf ihrem Medium-Blog: Charting New Terrirory.

Neue Features

Instagram

  • Video Trimmer: Instagram arbeitet an einem Tool, um Videos in Stories zu trimmen. Das hat – Trommelwirbel – wieder einmal Jane Manchun Wong entdeckt. (Twitter)
  • IGTV Creator Programm: Es sieht ganz so aus, als könnten Kreative, die ihre Inhalte bei IGTV teilen, damit bald Geld verdienen. (Techcrunch)

Facebook

  • Desktop Redesign: Bereis häufiger mal in unseren Briefings erwähnt, nun tatsächlich vor dem ganz großen Rollout: das neue Facebook-Desktop-Design (Input Mag)

Snapchat

One more thing

Hey, ein Liebesbrief an die E-Mail: Die Basecamp-Gründer Jason Fried und David Heinemeier Hansson halten E-Mails für ein großartiges Kommunikationsmittel – aber sie fürchten, dass sich das ändern könnte:

„You started getting stuff you didn’t want from people you didn’t know. You lost control over who could reach you. You were forced to inherit other people’s bad communication habits. An avalanche of automated emails amplified the clutter.“

Deshalb haben die beiden die Domain hey.com reserviert und machen dort neugierig:

It’s a redo, a rethink, a simplified, potent reintroduction of email. A fresh start, the way it should be. HEY is our love letter to email, and we’re sending it to you. Coming April 2020 to the web, iOS, and Android.

Wer eine Einladung will, muss – natürlich – eine Mail an iwant@hey.com schreiben und die eigene Gefühlslage beschreiben, was E-Mails angeht:

Could be a love story, or a hate story — or both. Could be long, could be short. It’s your story, so it’s up to you.

Dirk von Gehlen hat das bereits getan und seinen Liebesbrief auf seinem Blog veröffentlicht. Worüber wir uns freuen würden: Wenn ihr an Hey schreibt, dann setzt uns Cc, Bcc oder leitet uns die Mail weiter (hallo@socialmediawatchblog.de). Dann veröffentlichen wir ein Best-of eurer Antworten in einer der kommenden Ausgaben: eine E-Mail, voll mit E-Mails über E-Mails – ziemlich meta, aber wir würden das wirklich gern lesen.

Header-Foto von Samuel-Elias bei Unsplash