Warum das EU-Verfahren gegen Google das ganze Netz verändern könnte

Was ist

Die EU-Kommission nimmt Googles Werbegeschäft ins Visier, ein Datenschutz-Aktivist klagt gegen das System, über das Online-Anzeigen in Echtzeit versteigert werden. Wir geben zu: Das klingt eher nach Gute-Nacht-Lektüre als nach Thriller. Aber wir versprechen: Das Thema ist wirklich spannend und könnte Auswirkungen haben, die weit über Google und das Hamburger Landesgericht hinausgehen, wo der Fall verhandelt wird.

Warum das wichtig ist

Online-Medien wird oft Clickbaiting unterstellt – das kann man dem Spiegel nun wirklich nicht vorwerfen: "EU startet noch ein Verfahren gegen Google" ist garantiert keine Überschrift, die allzu viele Menschen zum Klicken bringt. In dem Fall ist das schade, denn die "Untersuchung zu mutmaßlich wettbewerbswidrigen Verhaltensweisen von Google im Bereich der Online-Werbetechnologie", wie es die EU-Kommission ebenfalls eher langatmig ausdrückt, trifft Google dort, wo es am meisten zu verlieren hat.

Nach Google Shopping (2017), Android (2018) und AdSense (2019) befasst sich die EU nun mit Googles Kerngeschäft. Rund 147 Milliarden Dollar pro Jahr setzt der Konzern mit digitaler Werbung um. "Wir vermuten, dass Google es konkurrierenden Online-Werbediensten erschwert haben könnte, am Wettbewerb im Bereich der Werbetechnologie teilzunehmen", sagt Vize-Kommissionspräsidentin Margrethe Vestager. Wenn sich der Verdacht erhärtet, könnte es teuer werden.

Auch die zweite Spiegel-Überschrift ist etwas unterverkauft: "Ein Ire verklagt die Schaltstellen der Werbeindustrie". Zwar klagt nur Johnny Ryan, doch er ist mehr als ein renitenter Einzelkämpfer. Hinter Ryan steht das Irish Council for Civil Liberties (ICCL), das dieses Verfahren seit vielen Jahren vorbereitet hat. Falls die Klage Erfolg hat, könnte sich das System der Online-Werbung verändern. Adtech-Anbieter, Media-Agenturen und Verlage müssten umdenken – und natürlich auch Google, Facebook und Amazon, die größten Werbeverkäufer der Welt.

Was Google droht

Im Wesentlichen geht es um die Frage, ob Google Werbetreibende mit unfairen Methoden dazu nötigt, seine eigenen Adtech-Produkte und Dienste wie Google Ads zu nutzen. Unter anderem werden der Ad Manager, Ad Exchange und Google FLoC (#707, #728) untersucht. Es droht eine Strafe von bis zu zehn Prozent des jährlichen Umsatzes, also fast 20 Milliarden Dollar.

Für den Moment gehen wir nicht weiter ins Detail, das hat zwei Gründe:

  1. Wir möchten Ereignisse einordnen, nicht nur aufzählen und abbilden. Derzeit sprechen wir mit Menschen, die sich besser mit der Branche auskennen als wir und die Erfolgsaussichten und möglichen Konsequenzen der Kartellermittlungen abschätzen können. Sobald wir uns ein eigenes Urteil zutrauen, greifen wir das Thema noch mal auf.
  2. Solche Verfahren dauern meist Jahre. Die Untersuchung soll zwar "vorrangig behandelt" werden, dürfte sich aber trotzdem lange hinziehen. Es bleibt also noch reichlich Zeit für eine detailliertere Analyse.

Brüssel ist ohnehin nicht die einzige Front, an der sich Google verteidigen muss. In Ausgabe #691 fassten wir Kartellklagen zusammen, die US-Regierung und US-Bundesstaaten gegen Google eingereicht haben. Auch dabei geht es im Kern um Googles Anzeigengeschäft, allerdings mit Fokus auf die Suche (WSJ).

Im April wurde dann eine Sammelklage vor dem Bundesbezirksgericht in San José erhoben (Heise), bei der es ebenfalls um Programmatic Advertising und mutmaßlich missbräuchliche Weitergabe von Daten geht. Und es ist noch keinen Monat her, dass das Bundeskartellamt zwei Verfahren gegen Google einleitete. Die Einschläge kommen näher.

Warum Johnny Ryan klagt

Wir halten es ähnlich wie bei der EU-Untersuchung: fürs Erste nur das Grobe. Details und Hintergründe folgen, sobald wir genug Hintergrundgespräche geführt haben. Ryan und die Bürgerrechtler der ICCL stellen das "Real-Time Bidding"-System (RTB) infrage (ICCL), über das ein Großteil der Werbung automatisiert verkauft wird.

Dabei bieten Werbetreibende für Anzeigenflächen, über die sie Gruppen von Nutzerïnnen erreichen, die sich angeblich für die Werbung interessieren. Man ersteigert aber nicht die Schaltung auf einer bestimmten Webseite, sondern kauft den Kontakt zu einer bestimmten Zielgruppe. Im Hintergrund dieser Echtzeit-Marktplätze werkelt ein komplexes System aus etlichen Agenturen, Adtech-Anbietern und anderen Zwischenhändlern. Alle erhalten Provision – und sammeln Daten.

Ryan hält RTB für eine Gefahr für die Privatsphäre:

These secret dossiers about you – based on what you think is private – could prompt an algorithm to remove you from the shortlist for your dream job. A retailer might use the data to single you out for a higher price online. A political group might micro target you with personalised disinformation.

Die Klage richtet sich gegen das IAB Tech Lab, die Online-Werbebörse Xandr und die OnlineMarketing.de GmbH, der Streitwert ist im Gerichtsdokument (PDF) auf 10.000 Euro festgesetzt.

Tatsächlich geht es aber um viel mehr. Das ICCL hat selbst Daten erhoben und bringt interne Dokumente aus der Werbebranche in die Klage mit ein, die zeigen sollen, dass pro Tag Hunderte Milliarden Datenschutzverstöße begangen würden. Die wahren Adressaten sind bekannter als die Verklagten:

ICCL’s lawsuit takes aim at Google, Facebook, Amazon, Twitter, Verizon, AT&T, and the entire online advertising and tracking industry, by challenging industry rules.

Be smart

Die Werbebranche ist schwerfällig. Bevor Unternehmen und Media-Agenturen ihre Budgets umverteilen, muss einiges passieren. Wir haben nichts gegen Werbung – wohl aber gegen ein System, das Nutzerïnnen überwacht und ausspioniert, nur um angeblich passendere Anzeigen auszuspielen. Deshalb hoffen wir, dass die aktuellen Entwicklungen Anlass sind, um die übelsten Auswüchse programmatischer und verhaltensbasierter Werbung zu beenden.

Ob das aber wirklich geschieht, ist fraglich. Als wir uns Anfang des Jahres dem Thema ausführlicher widmeten (#693), zogen wir ein Fazit, das nach wie vor aktuell ist:

Wenn Werbetreibende realisieren, dass ein Teil ihrer Ausgaben auf leeren Versprechen beruht, dann könnte es ein mieses Jahr für Online-Werbung werden. Das galt allerdings auch schon in jedem der vergangenen Jahre.


ZDF Sport macht seine Facebook-Seite dich

  • Seit zwölf Jahren am Ball, mehr als 500.000 Fans: Das klingt nach einer erfolgreichen Facebook-Seite. Doch pünktlich zum Start der Fußball-EM setzte ZDF Sport seinen letzten Post ab: "Wir stellen die Berichterstattung auf unserer Facebook-Seite mit dem heutigen Tage ein."
  • Stattdessen will sich das ZDF mit seinem Sportprogramm auf Instagram, YouTube, Twitter, TikTok und die eigene Homepage konzentrieren.
  • Die Seite war deutlich größer als die anderen Kanäle. Deshalb ärgern sich nicht nur viele Nutzerïnnen, die in den Facebook-Kommentaren unter dem Post die Entscheidung kritisieren. Auch andere Journalistïnnen wie Tobias Kimmel, Teamleiter Social Media bei Das Erste, wundert sich (Twitter): "Entscheidender als die Frage, welche Plattform jünger ist und als angesagter gilt, ist doch, wo ich mit meiner Marke meine Zielgruppe erreiche, und das ist bei älteren Zielgruppen in der breiten Masse durchaus nach wie vor Facebook."
  • Der Fall erinnert zunächst an die Cooking-Community der New York Times, die im März geschlossen wurde, obwohl die Gruppe 77.000 Mitglieder hatte und ständig etwas los war.
  • Bei genauerem Hinsehen stellte sich aber heraus, dass es in der Gruppe kaum noch ums Kochen ging (Nieman Lab), sich die Diskussionskultur zunehmend verschlechterte und die Times schlicht das Interesse daran verloren hatte, weiter Ressourcen in die aufwändige Moderation der Diskussionen zu stecken (Twitter / Ben Smith).
  • Gregor Schmalzried drückte es damals so aus (Cool genug): "Für jeden, der mal Community Management gemacht hat, ist die Geschichte aber sofort einleuchtend: Viel zu viel Arbeit für zu wenig Ertrag."
  • Die Hintergründe sind beim ZDF weniger eindeutig. Natürlich hat auch ein öffentlich-rechtlicher Sender begrenzte Ressourcen – aber eben auch einen Programmauftrag, der lautet, möglichst viele Menschen mit qualitativ hochwertigen Inhalten zu erreichen. Und die sind, allen Abgesängen zum Trotz, nach wie vor auch auf Facebook zu finden.
  • 2014 sammelte die Facebook-Seite von ZDF Sport aufgrund eines Missverständnisses Hunderttausende arabische Fans (Welt). Womöglich sind aus dieser Zeit noch einige Karteileichen übrig, die die wahre Reichweite verzerren.
  • Trotzdem: Die Interaktionsraten waren nicht berauschend, aber auch nicht katastrophal schlecht. Viele Posts wurden tausendfach gelikt und Hunderte Male kommentiert und geteilt.
  • Wir haben deshalb Christian Hoffrichter gefragt, der die Online-Redaktion von ZDF Sport leitet. Hier ist seine leicht gekürzte Antwort:

Wir haben mit Beginn der Fußball-EM das "Sportstudio" zur neuen Dachmarke gemacht. Wir bündeln unsere Inhalte nun auf sportstudio.de. Im gleichen Schritt haben wir die Social-Media-Strategie angepasst und neben TikTok auch die Auftritte auf Twitter, Instagram und YouTube in @sportstudio umbenannt und uns von Facebook verabschiedet. Wir erreichen mit Twitter, Instagram und YouTube weiterhin eine breite Öffentlichkeit. Gleichzeitig ist es unser Anspruch, innovativ zu sein und möglichst neue Zielgruppen zu erreichen. Wir wollen mit unseren Social-Media-Kanälen die Reichweite unserer Marke und unserer Inhalte vergrößern. Wir möchten vor allem mit jenen Menschen in Kontakt kommen, die wir auf anderen Wegen (ZDFmediathek, TV) nicht so leicht erreichen, und diese für unsere Marke und unsere Inhalte begeistern. Um diese Menschen zu erreichen, müssen wir dort präsent sein, wo diese Zielgruppe sich aufhält.


Kampf gegen Desinformation

  • TikTok und Beauty-Tipps: Die New York Times berichtet über Ärzte, die sich Sorgen um TikTok-Beauty-Trends machen. Selektives Einschmieren mit Sonnencreme, das Trinken von Chlorophyll oder die Nutzung von zentimeterdicker Vaseline, um die Haut vor dem Austrocknen zu „schützen“, gehören noch zu den harmloseren Trends, die auf TikTok immer mal wieder die Runde machen.
  • Was darf Satire? Facebook kündigt an, die Gemeinschaftsstandards zu aktualisieren, um zu definieren, welche Inhalte die Grenzen zwischen Satire, Falschinformation und Hassrede überschreiten (Transparency Facebook). Zu bestimmen, was Satire ist und was nicht, ist für die freie Meinungsäußerung unerlässlich. Genau Facebook diese Entscheidung zu überlassen, ist #nichtlustig.

Audio Boom

  • Clubhouse arbeitet an Messaging-Funktion: Yes, it is what it is: Das nächste Feature, das bei Clubhouse eingeführt werden soll, ist eine Messaging-Funktion (The Verge). So kann man sich nach einer Session direkt auf der Plattform noch einmal connecten. Oder während einer Session über einen Redebeitrag echauffieren. As you like.
  • Facebook rollt Clubhouse-Konkurrenten in USA aus: Facebook macht ernst mit seinem Clubhouse-Konkurrenten „Live Audio Rooms“ (Facebook Newsroom). Personen des öffentlichen Lebens und ausgewählte Gruppen können das neue Social-Audio-Feature als erstes nutzen. Notiz an uns selbst: In einer der kommenden Ausgaben einmal die ganzen unterschiedlichen Social-Audio-Angebote miteinander vergleichen. Hier schon einmal ein Überblick:

  • Spotify kauft Podz: Die App Podz kann mittels Machine Learning anscheined so gut automatisiert Schlüsselmomente innerhalb einer Podcast-Episode ermitteln, dass Spotify jetzt zugeschlagen hat und das junge Team übernimmt (Newsroom Spotify). An sich geht es dabei vor allem um die Frage, wie Userïnnen neue Podcasts für sich entdecken können: allein bei Spotify gibt es 2,6 Millionen Podcasts. Ein bissl viel. Podz Highlight-Clips sollen bei der Discovery helfen.

Video Boom

  • TikTok goes TV: Um jenseits von digitalen Werbegeldern weiter zu wachsen, peilt ByteDance eine stärkere Verzahnung von TikTok und TV (Protocol) an. Künftig könnten deine Kids also TikTok auf dem Smart TV laufen haben, während sie auf ihrem Second (First?!) Screen das Reaction-TikTok aufnehmen.

Follow the money

  • ByteDance um die 400 Milliarden Dollar wert: TikToks Mutterkonzern hat seinen Mitarbeiterïnnen (und der Presse) dargelegt, wie stark sie im vergangen Jahr gewachsen sind – um unfassbare 100 Prozent (The Information). Damit kommt das Unternehmen auf eine Bewertung von rund 400 Milliarden Dollar. Zum Vergleich: Facebooks Marktbewertung liegt bei 950 Milliarden Dollar.
  • TikTok kann jetzt auch Mini-Apps: Analog zu Snapchats Mini-Apps holt TikTok das sogenannte "Jump"-Programm aus der Testphase heraus. Das Feature ermöglicht es, innerhalb von Videos auf Rezepte, Lernkarten, Workouts und mehr zu verlinken. Im Moment erhalten nur einige wenige ausgewählte Partner Zugang zum Feature. Künftig soll „Jump“ aber allen zur Verfügung stehen und zahlreiche HTML-5-Anwendungen innerhalb von TikTok ermöglichen – quasi Apps innerhalb der App.
  • Reels jetzt weltweit mit Werbung: Es ist, wie es immer ist: Die Plattformen erfinden ein neues Format, geben ausgewählten Nutzerïnnen frühzeitig einen Zugang, erzeugen ein bissl Fomo, gewähren dann allen Zugang, geben vielen viel Reichweite, geben einigen viel Reichweite, gewöhnen alle an das neue Format, führen Werbung ein (Techcrunch), spielen immer mehr Werbung aus, Nutzerïnnen sind genervt und ziehen weiter. Bei Instagram Reels sind wir gerade beim vorvorletzen Schritt.
  • Livestreaming FTW! Das TikTok-Power-Geschwister-Duo Charli und Dixie D'Amelio zeigt einmal mehr, wie es läuft: Den Start ihrer zweiten Kollektion feierten sie mit einem TikTok-Livestream-Event, bei dem Fans die Klamotten direkt in Echtzeit wegshoppen konnten (Hollister). Zudem gab es Tanzeinlagen und Sketche von anderen TikTok-Creatorn wie Avani Gregg, Madi Monroe und Curtis Newbill. Last but not least frohlockte Dixie mit einem Teaser für ihren kommenden Song "The Real Thing". Wowsi. Was in China schon Gang und Gäbe ist (100 Millionen Shopping-Livestream-Viewer pro Monat, 400 Milliaden Dollar Umsatz in Sachen E-Commerce für 2022 prognostiziert), geht jetzt auch in den USA langsam los: 138.000 Userïnnen schalteten sich bei Charli und Dixie in der Spitze gleichzeitig ein.

Neue Features bei den Plattformen

Twitter

– Tweets bei Instagram Stories teilen: Bekanntlich ist es ziemlich beliebt, Tweets bei Instagram zu teilen. Da das nativ nicht funktioniert, sind bei Insta hunderttausende Screenshots von Tweets zu finden. Twitter selbst hat daraus eine Tugend gemacht und bespielt die eigene Instagram-Seite sogar ausschließlich mit Tweets. Nun aber gibt es die Option, Tweets direkt in Instagram Stories zu teilen. Immerhin.


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