Was ist

  • Am Mittwochabend um 19 Uhr deutscher Zeit beginnt Googles jährliche Entwicklerkonferenz. Auf der zweistündigen Keynote werden etliche neue Produkte und Entwicklungen vorgestellt. Am spannendsten sind die Fortschritte im Bereich des maschinellen Lernens.
  • Für Google kommt die I/O zu einem kritischen Zeitpunkt. Obwohl das Unternehmen jahrelang als führend in der KI-Entwicklung galt, sieht es so aus, als hätten Microsoft und OpenAI Google nicht nur eingeholt, sondern überholt.
  • Gleichzeitig verändert sich die Art und Weise, wie Menschen das Netz nutzen. Vor allem Jüngere suchen Informationen in Apps wie TikTok. Beides zusammen bedroht Googles mit Abstand wichtigste Einnahmequelle: die Websuche, die neben dem iPhone wohl lukrativste Erfindung der Geschichte.
  • Wir werfen einen kurzen und einen längeren Blick voraus: Zum einen auf die Ankündigungen der I/O, zum anderen auf deren Einfluss auf Googles Zukunft.

Warum das wichtig ist

  • Google prägt das World Wide Web wie kaum ein anderer Konzern. Einerseits steht Googeln synonym für Suchen. Die Websuche ordnet einen Teil des Weltwissens und macht es zugänglich.
  • Google fungiert als Wegweiser und Türsteher in unserem digitalen Informationsökosystem. Wenn sich die Suche verändert, hat das direkten Einfluss auf Milliarden Menschen, die mithilfe von Google recherchieren und sich informieren.
  • Andererseits prägt Google nicht nur die Nutzerïnnen, sondern fast das gesamte Netz. Schließlich richten sich Entwicklerinnen, SEO-Experten und Designerïnnen nach Googles Vorgaben.
  • Für viele Verlage, Portale, Blogs und Dienstleister ist Google-Traffic überlebenswichtig. Also tun sie alles, um möglichst weit oben in den Suchergebnissen aufzutauchen.
  • Auch solche Geschäftsmodelle sind bedroht. Im Zeitalter von TikTok und KI ist unklar, wie Menschen durchs offene Web navigieren.
  • Wird es neben SEO-Expertinnen bald LLM-Gurus geben, weil Bard, Bing und ChatGPT eine immer größere Rolle spielen? Aber wer verdient überhaupt noch daran, wenn Chatbots die wichtigsten Informationen extrahieren und niemand mehr zu den Quellen navigiert?

Was Google vorstellen könnte

  • Wir sind in einer seltsamen Situation: Google hat in den vergangenen Tagen zu mehreren Hintergrundgesprächen geladen, um Journalistïnnen über die Ankündigungen der I/O zu informieren.
  • Diese Informationen unterliegen aber eine Sperrfrist, die erst um 21 Uhr fällt. Deshalb kennen wir einen Teil der News, können aber noch nichts darüber schreiben.
  • Mehrere US-Medien haben aber bereits einen Teil der Ankündigungen geleakt. Teils decken sie sich mit unseren Informationen, teils gehen sie darüber hinaus. Vielleicht hat Google in den Vorab-Briefings noch nicht alle Details enthüllt, vielleicht sind manche der Leaks falsch.
  • Wir beschränken uns jedenfalls auf das, was bereits öffentlich bekannt ist. Konkret geht es um Artikel des Wall Street Journal und von CNBC.
  • CNBC berichtet über Neuerungen für Bard. Der Google-Chatbot soll kräftig aufgebohrt werden. Er beruht auf dem neuen Sprachmodell PaLM 2, das mehr als 100 Sprachen, Mathe und Coding beherrscht.
  • Demnach werden KI-Werkzeuge in etliche Google-Produkte integriert, darunter Gmail, Docs, Meet, Sheets und Slides. Man kann sich etwa beim Schreiben von E-Mails unterstützen lassen oder die KI bitten, Bilder für eine Präsentation zu generieren.
  • Die Informationen des WSJ beziehen sich nicht unmittelbar auf die I/O. Sie drehen sich größtenteils darum, wie Google die Websuche umbauen möchte. Der Text lässt offen, ob und welche der Veränderungen Google auf der I/O ankündigen wird.
  • Angeblich plant Google, die Darstellung der Suchergebnisse drastisch zu verändern. Mit den zehn blauen Links der Anfangstage hat das heutige Google ohnehin kaum noch etwas zu tun. Es wimmelt von Infoboxen, Knowledge Panels und Werbung, wohin das Auge blickt. Diese Evolution haben wir ausführlich in den Ausgaben #713 und #778 beschrieben.
  • Bald könnten weitere Umbauten anstehen. Dahinter steckt ein Projekt, das intern unter dem Codenamen Magi bekannt ist. Darüber berichtete die NYT bereits Mitte April, allerdings ohne weitere Details.
  • Dem WSJ zufolge soll die Suche "visual, snackable, personal, and human" werden, der Fokus soll auf jüngeren Zielgruppen liegen:

Google plans to place greater emphasis on responding to queries that can’t be easily answered by traditional web results, according to internal reference documents outlining the company’s strategy for making changes to the search engine this year.

Google search visitors might be more frequently prompted to ask follow-up questions or swipe through visuals such as TikTok videos in response to their queries.

  • Ein Teil der Maßnahmen wirkt wie eine direkte Reaktion auf die Bedrohung, die TikTok darstellt (mehr dazu in #815):

The company has already moved to integrate some online forum posts and short videos in search results, but it plans to emphasize such material even more in the future, according to the internal documents and people familiar with the matter.

Google executives have stressed to employees that the number of active websites has plateaued in recent years, said people familiar with the discussions. Internet users are increasingly turning to other apps to find information on everything from popular local restaurants to advice on how to be more productive.

  • Unabhängig davon, ob und wann diese Änderungen in Kraft treten, ist Googles Strategie klar: Bard soll enger in die Suche integriert werden.
  • Anfang April sagte Google-Chef Sundar Pichai (WSJ)

Will people be able to ask questions to Google and engage with LLMs in the context of search? Absolutely.

  • Bislang sind Googles Chatbot und die Websuche nicht miteinander verzahnt – anders als das Microsoft mit Bing und Bing Chat macht.

Warum Google unter großem Druck steht

  • Im Vergleich zu Google ist Bing ein Zwerg, doch jeder Prozentpunkt, den Microsoft an Marktanteil gewinnt, entspricht zusätzlichem Werbeumsatz von rund zwei Milliarden Dollar.
  • Glaubt man Konzernchef Pichai, ist das kein Grund, sich Sorgen zu machen. Alphabet habe die KI-Entwicklung seit Jahren vorangetrieben und stehe gut da.
  • Trotzdem ist der Konzern nach wie vor abhängig vom Werbegeschäft und dabei insbesondere von seiner Suchmaschine. Der Anzeigenverkauf macht den Großteil des Umsatzes aus. Dadurch wird Google verwundbar. Als Samsung kürzlich erwog, die Standardsuche auf seinen Smartphones von Google zu Bing zu ändern, brach bei Google "Panik" aus (NYT).
  • Wie groß die Sorge ist, wurde durch mehrere Leaks und Berichte in den vergangenen Monaten deutlich. Im Dezember rief man intern "Alarmstufe rot" aus, um der Bedrohung durch Microsoft zu begegnen. Offenbar wurde Google durch das Vorpreschen von OpenAI und der Veröffentlichung von ChatGPT überrascht.
  • Hektisch wurde ein eigener Chatbot veröffentlicht, obwohl manche Mitarbeiter eindringlich davor warnten. Bard sei "peinlich" und ein "pathologischer Lügner", zitierte Bloomberg Angestellte, die das Sprachmodell getestet hatten.
  • Tatsächlich ist Bard noch unzuverlässiger als ChatGPT und Bing, der Chatbot erfindet regelmäßig Antworten, die überzeugend klingen, aber komplett falsch sind.
  • Im Februar änderte Google seine KI-Strategie. Jahrelang hatte man auf Transparenz und Open Source gesetzt und Hunderte Forschungsberichte veröffentlicht. Mit dem Transformer-Modell legte man den Grundstein für heutige LLMs, das T und ChatGPT steht für Transformer.
  • Damit soll nun Schluss sein (WaPo):

In February, Jeff Dean, Google’s longtime head of artificial intelligence, announced a stunning policy shift to his staff: They had to hold off sharing their work with the outside world. (…) Google would take advantage of its own AI discoveries, sharing papers only after the lab work had been turned into products.

  • Dahinter stehen wirtschaftliche Interessen und die Sorge, von der Konkurrenz überholt zu werden:

The policy change is part of a larger shift inside Google. Long considered the leader in AI, the tech giant has lurched into defensive mode — first to fend off a fleet of nimble AI competitors, and now to protect its core search business, stock price, and, potentially, its future, which executives have said is intertwined with AI.

  • Exakt gegensätzlich argumentiert ein internes Memo des Google-Entwicklers Luke Sernau, das unter Googlern Tausende Male geteilt wurde (Bloomberg). In dem geleakten Dokument (SemiAnalysis) plädiert Sernau dafür, die KI-Entwicklung zu öffnen.
  • Langfristig hätten die proprietären, geschlossenen Modelle von OpenAI oder Google keine Chance gegen Open Source. Davon profitiere ausgerechnet Meta:

Paradoxically, the one clear winner in all of this is Meta. Because the leaked model was theirs, they have effectively garnered an entire planet's worth of free labor. Since most open source innovation is happening on top of their architecture, there is nothing stopping them from directly incorporating it into their products.

  • Kürzlich fusionierte Google seine beiden KI-Teams. Aus Google Brain und DeepMind wurde Google DeepMind (Google-Blod). Die Ankündigung überraschte viele Google-Angestellte. Die beiden Abteilungen wurden komplett unterschiedlich geführt und hatten gegensätzliche Philosophien. Der ehemalige Google-Brain-Forscher Biran Kihoon Lee ist skeptisch (Modern Descartes), ob die Zusammenlegung aufgeht:

Neither side "won" this merger. I think both Brain and DeepMind lose. I expect to see many project cancellations, project mergers, and reallocations of headcount over the next few months, as well as attrition.

  • Zu diesen internen Querelen gesellt sich eine weitere Kontroverse. Immer mehr KI-Forscherïnnen warnen öffentlich vor den Konsequenzen, die ihre Schöpfungen haben könnten. Deshalb kündigte etwa der KI-Pionier Geoffrey Hinton bei Google (NYT):

Dr. Hinton said he has quit his job at Google, where he has worked for more than a decade and became one of the most respected voices in the field, so he can freely speak out about the risks of A.I. A part of him, he said, now regrets his life’s work.

Be smart

Unsere bisherigen Erfahrungen mit LLMs als Suchmaschinen-Ersatz sind ernüchternd. Bard, Bing und ChatGPT sind notorische Bullshitter. Sie erzeugen Antworten, die glaubwürdig klingen, aber regelmäßig frei erfunden sind.

Am Ende muss man jede Antwort manuell nachprüfen. Das macht mehr Arbeit, als es abnimmt. Zur gezielten Recherche eignen sie sich deshalb nicht.

Genauer gesagt: noch nicht. Wir zitieren aus Ausgabe #869:

Manche Diskussionen fokussieren sich auf die Unzulänglichkeiten von KI. In diesem und jenen Examen versagt ChatGPT, außerdem komponieren Menschen immer noch bessere Songs. Wir halten das für wenig hilfreich. Zum einen muss man sich bei vielen Dingen ein "noch" dazudenken. Zum anderen ist die entscheidende Frage nicht, was KI nicht kann – sondern was sie bereits kann (und bald können wird).

Wir sind ziemlich sicher, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis Sprachmodelle die Websuche verändern – und damit nicht nur Google zum Umdenken zwingen, sondern auch Millionen Webseiten, die auf SEO-Traffic angewiesen sind.


Social Media & Politik

  • TikTok führte eine Liste mit Nutzerïnnen, die sich LGBTQ-Inhalte angesehen haben: Herzlich willkommen zu einer neuen Episode aus der Reihe „Really, TikTok?! Das hilft jetzt wirklich überhaupt nicht, Vertrauen aufzubauen!“ Wie das Wall Street Journal berichtet, konnten TikTok-Angestellte über ein internes Dashboard eine Liste von Usern einsehen, die sich LGBTQ-Inhalte auf der Plattform angeschaut haben. Laut Aussagen der Mitarbeiterïnnen soll die Liste mindestens ein Jahr einsehbar gewesen sein. In der Zwischenzeit sei die Liste in den USA gelöscht worden, lässt TikTok wissen. Auch würde die App keine potenziell sensiblen Informationen, wie z. B. die sexuelle Orientierung, auf der Grundlage der angesehenen Videos identifizieren oder ableiten. Ok, kann man glauben. Wenn man denn Vertrauen hat… Die Befürworter eines TikTok-Verbots haben jedenfalls ein Argument mehr. (Wall Street Journal)

Follow the money

  • Meta: Erfolgsabhängige Prämien bei Reels: Je erfolgreicher die Videos, desto mehr gibt es zu verdienen — so lautet Metas neuestes Versprechen, um Creator von TikTok wegzulocken. (Bloomberg)
  • WhatsApp: Hauseigenes In-App-Bezahlsystem ist nach erfolgreichen Tests in Brasilien und Indien jetzt auch in Singapur verfügbar. Wann wir wohl in Deutschland mit WhatsApp beim Bäcker zahlen können? (TechCrunch)
  • TikTok: Neue Website soll Brands besser mit Kreativen zusammenführen. Wir hatten gar nicht den Eindruck, dass es da irgendwelche Probleme gibt — ads everywhere. (TikTok)
  • Amazon Inspire kann jetzt von allen US-Usern genutzt werden. Also so lange sie Bock darauf haben, sich einen Feed anzuschauen, der zwar an TikTok erinnert, im Gegensatz zu TT aber tatsächlich zu 100 Prozent dafür gedacht ist, dass Leute etwas shoppen. (TechCrunch)
  • YouTube: 50 Prozent der US-Views stammen von TV-Geräten. Eine erstaunlich hohe Zahl. Gleichzeitig entspricht es auch unserem eigenen Konsum — die YouTube-App wird auf dem Fernseher gefühlt mindestens genauso oft geöffnet wie am Rechner oder Tablet. Vielleicht sogar öfter mittlerweile. Schon spannend, wie es YouTube „aus dem Internet ins Fernsehen“ geschafft hat. (The Information)

Social Media & Journalismus

  • Geschasster Fox-Moderator möchte jetzt bei Twitter senden: Na, das dürfte Elon Musk insgeheim doch sehr freuen, dass der jüngst von Fox-News vor die Tür gesetzte US-Moderator, Tucker Carlson, fortan bei Twitter auf Sendung gehen möchte. So oft wie Musk schon selbst Verschwörungskrams verbreitet hat. Das passt doch prima… (Ankündigung @TuckerCarlson, Reaktion @elonmusk, Hintergrund Tagesschau)

Next (AR, VR, KI, Metaverse)

  • Spotify nimmt Tausende KI-generierte Songs von der Plattform: Schon klar, dass Spotify das machen muss. Schließlich wollen sie in keinen Copyright-Krieg mit Künstlerïnnen und Labels geraten. Aber ein bissl schade ist es auch: Viele Songs könnten durchaus mehr Intelligenz vertragen. (ArsTechnica)
  • China: Erste Verhaftung wegen ChatGPT-Nutzung: Es sieht ganz danach aus, als habe China erstmalig jemanden verhaftet, der mittels ChatGPT Falschinformationen generiert und dann verbreitet hat. (Bloomberg)

Der blaue Vogel und die anderen

  • Elon Musk droht inaktiven Accounts: User, die schon seit Jahren nicht mehr getwittert haben, könnten bald ihren Twitter-Account los sein. Das jedenfalls wünscht sich Twitter-Boss Musk, um Nutzernamen neu vergeben zu können. Wie es um Twitter-Handle bestellt ist, die historisch relevant sind oder deren Inhaber verstorben sind, überlegt sich Musk dann nächste Woche. Bestimmt. (Twitter / @elonmusk )
  • Bluesky: Bitte keine Staatsoberhäupter: In den USA erlebt der von Jack Dorsey unterstützte Twitter-Herausforderer Bluesky ja bekanntlich gerade seine 15 Minuten Ruhm (Briefing #878). Jetzt haben die Gründer erklärt, dass Regierungschefs aktuell noch unerwünscht wären auf der Plattform. Das Bluesky-Team müsse erst einmal schauen, wie sie überhaupt mit dem aktuellen Wachstum und dem dadurch entstehenden Bedarf an Content Moderation umgehen sollen. (Fortune)
  • Die Tagesschau ist jetzt auch bei Mastodon und unternimmt „erste Schritte in eine Digitalwelt jenseits kommerzieller Plattformen“. Wir wünschen viele gute Erfahrungen und freuen uns schon auf einen baldigen Austausch zum Thema 🙂 (Tagesschau)
  • Mozilla hat jetzt auch einen eigenen Mastodon-Server und moderiert dort mit harter Hand. Mozilla, ey. Was die immer alles machen. Es ist bestimmt ganz lustig, dort zu arbeiten. (The Verge)

Neue Features bei den Plattformen

Soundcloud

  • Nachrichten an Fans und Follower: Die Musik-Plattform SoundCloud hat eine neue Funktion veröffentlicht, die es Künstlerïnnen ermöglicht, Fans und Followern je nach Engagement Nachrichten zu senden. Es ist einfach einer der ganz zentralen Trends der letzten Monate: Services, die nicht social per se sind, führen immer öfter Social-Elemente ein. (TechCrunch)