Was ist

Heute vor fünf Monaten wechselte Twitter den Eigentümer. Seitdem hat Musk das Unternehmen auf den Kopf gestellt. Er feuerte den Großteil der Angestellten und verwandelte Twitter in eine ziemlich einzigartige Shitshow.

Das Chaos war weithin sichtbar, doch bislang wirkte Musks Willkürherrschaft vorwiegend nach Innen. Wenn Tausende Entwicklerinnen gehen, reihenweise Werbekunden fernbleiben oder Twitter offene Rechnungen nicht bezahlt, bekommen Nutzer das nicht unmittelbar mit. In den vergangenen Wochen häuften sich zwar die technischen Pannen (#865), bislang waren die Ausfälle aber so begrenzt, dass es die meisten Menschen nur am Rande mitbekommen haben dürften.

Jetzt beginnt offenbar Phase zwei der Muskschen Maßnahmen. In den kommenden Wochen wird sich nicht nur Twitter, das Unternehmen, sondern auch Twitter, das Produkt, drastisch verändern. Im Zentrum steht dabei das Bezahlmodell Twitter Blue.

Wie Twitter Abos gewinnen möchte

  • Am 1. April verlieren alle Accounts den blauen Haken, die Twitter als Legacy Verified bezeichnet (Twitter / Verified). Also etwa Prominente, Politikerinnen und Journalisten, bei denen die Verifikation für Authentizität steht.
  • Künftig besagt der blaue Haken nur noch: Dieser Account bezahlt für Twitter Blue. Die Identität spielt keine Rolle mehr. Man muss lediglich acht Dollar pro Monat (sieben bei jährlicher Zahlung, elf bei Abschluss über Android/iOS) für Twitter übrig haben.
  • Zwei Wochen später, am 15. April, wird Twitter Blue zur Voraussetzung, um an Abstimmungen teilzunehmen und algorithmisch empfohlen zu werden (Twitter / Elon Musk). Die For-You-Timeline wird künftig also ausschließlich aus Tweets bestehen, die von Blue-Abonnentïnnen verfasst wurden.
  • Das ist der bislang wichtigste Anreiz, ein Abo abzuschließen. Ein Großteil der Blue-Vorteile sind Schnickschnack, lediglich die höhere Sichtbarkeit in Antworten, Erwähnungen und der Suche war ein Mehrwert für Menschen, die kein Problem mit Pay for Reach haben.
  • Wer viral gehen möchte, wird es ohne Twitter Blue bald schwer haben. Die Tweets tauchen zwar weiter im chronologisch sortierten Following-Feed auf, die meisten Nutzerïnnen dürften aber auf die voreingestellte For-You-Timeline vertrauen.

Was Musk sagt

  • Wenige Tage nach dem Twitter-Kauf schrieb Musk (Twitter):

Twitter’s current lords & peasants system for who has or doesn’t have a blue checkmark is bullshit. Power to the people! Blue for $8/month.

  • Er verkauft die Änderungen also als Demokratisierung und beteuert, Twitter Blue sei die einzige Möglichkeit, dem angeblichen Ansturm der Bots zu begegnen (Twitter / Elon Musk). Sein Fazit:

Obvious conclusion: paid account social media will be the only social media that matters.

Warum wir skeptisch sind

  • Twitter ist nicht die einzige Plattform, die für Aufmerksamkeit Geld sehen will. Als Facebook vor fünf Jahren Inhalte von Freundinnen und Bekannten im Feed bevorzugte, verloren Posts von Medien und Unternehmen stark an organischer Reichweite. Wer weiter viele Menschen erreichen wollte, musste die eigenen Beiträge bewerben.
  • Vergangene Woche startete Meta Verified, ein Bezahlmodell für Facebook und Instagram (#862). Mit Snapchat, Telegram, Discord, Reddit, YouTube und Twitch bieten viele weitere Plattformen Abos an.
  • Dienste, die sich jahrelang ausschließlich durch Werbung finanzierten, suchen nach neuen Einnahmequellen. Man könnte also sagen: Musk hat die Zeichen der Zeit erkannt, der Fokus auf Twitter Blue ist ein logischer und wirtschaftlich gebotener Schritt.
  • Twitter lässt sich aber nur eingeschränkt mit seinen Konkurrenten vergleichen. Meta Verified richtet sich primär an Creator oder Menschen, die beruflich auf Instagram angewiesen sind. Diese Zielgruppe sehen wir auf Twitter kaum.
  • Bei Snapchat und YouTube ergänzen die Premium-Abos das Werbemodell, das weiter die wichtigste Einnahmequelle bildet. Twitter, das unter Musk mehr als die Hälfte seiner wichtigsten Werbekunden verloren hat, scheint dagegen große Hoffnungen auf Blue zu setzen.
  • Wir bezweifeln, dass sich diese Hoffnungen erfüllen werden. Bislang verdient Twitter mit Blue kaum Geld (TechCrunch), rund 385.000 Menschen bezahlen über Android oder iOS (die Zahl der Abo-Abschlüsse außerhalb der Apps ist nicht bekannt).
  • Bevor Musk Twitter übernahm, lag der Umsatz bei rund fünf Milliarden Dollar pro Jahr. Damit Blue auch nur die Hälfte der Einnahmen einbringt, bräuchte es rund 25 Millionen Abonnentïnnen. Anders ausgedrückt: Jede neunte Nutzerin müsste für Twitter bezahlen.
  • Das halten wir für unwahrscheinlich – und das liegt in erster Linie an Musk selbst, denn seine Eskapaden haben Twitters Ruf beschädigt. Wer Blue abonniert, überweist Musk Geld. Für viele Menschen könnte das ein Ausschlusskriterium sein.
  • Vielleicht unterschätzen wir aber auch die Menge der Musk-Fans und überschätzen die abschreckende Wirkung seines Verhaltens. Womöglich reicht es, wenn Tesla-Jünger, Republikaner und politisch desinteressierte Tech-Bros für Twitter zahlen.
  • Klar ist jedenfalls: Wenn bislang verifizierte Accounts ihre blauen Haken verlieren, werden Scammer ihre Chance wittern. Wird Barack Obama dafür zahlen, seinen Haken zu behalten? Keine Ahnung. Wird es Dutzende Betrüger geben, die versuchen, mit einem gefälschten Profil einen blauen Haken zu bekommen? Garantiert.
  • Angeblich prüft Twitter, ob Blue-Kundïnnen andere Accounts imitieren. Die vergangenen Monate haben aber gezeigt, dass darauf kein Verlass ist. Das wird alles ein großer Spaß (Twitter / Monica Lewinsky).
  • Es gibt bereits Tools, um alle Abonnentïnnen automatisch zu blockieren (Github). Interessanterweise scheint Twitter zu verstehen, dass der blaue Haken in bestimmten Kreisen zu einem unerwünschten Symbol werden könnte. Deshalb arbeitet man an einer Möglichkeit, den Haken zu verbergen, damit andere Nutzerïnnen nichts davon mitbekommen (The Verge).
  • Unabhängig davon, ob Twitter Blue ein Erfolg wird, sind wir ziemlich sicher, dass wir unsere Standard-Timeline dann endgültig auf den Following-Feed umstellen müssen. For You dürfte zu einem eher unerfreulichen Ort werden (BuzzFeed News):

Both changes together may drive more subscribers (Twitter hopes), but it also guarantees that the For You page will become an orgy of self-promoting hucksters, assholes, and anyone else who wants to pay for Twitter. Oh, and brands. By limiting amplification to only a small amount of paid users, it makes the For You page way more open, and brands can get way more traction and amplification on a free tweet for just paying for Blue instead of buying ads.

Be smart

Twitter hat ein paar gute Nachrichten dringend nötig. Davon gab es in den vergangenen Tagen eher wenig:

  • Musk gibt selbst zu, dass er den Wert des Unternehmens seit der Übernahme mehr als halbiert hat – und das dürfte noch optimistisch gerechnet sein (WSJ).
  • Ein Teil des Source Codes stand mehr als drei Monate lang auf GitHub online (NYT). Twitter sucht jetzt nach dem Leaker, der sich ironischerweise "FreeSpeechEnthusiast" nennt – Musk dürfte genau wissen, wer mit der Anspielung gemeint ist.
  • Apropos Free Speech: In Indien hat Twitter auf Druck der Regierung 122 Accounts von Journalistinnen und Politikern blockiert (Rest of World).
  • Twitter pflegt offenbar eine interne Liste mit rund drei Dutzend Konten, deren Tweets bevorzugt behandelt werden (Platformer). Darunter befinden sich etwa LeBron James, Ben Shapiro, Joe Biden und Alexandria Ocasio-Cortez. Wenige Stunden, bevor Zoë Schiffer die intransparente Ungleichbehandlung enthüllt, schrieb Musk (Twitter):

It’s more about treating everyone equally. There shouldn’t be a different standard for celebrities imo.


Social Media & Politik

TikTok: Befragung vor US-Kongress

Vergangene Woche Donnerstag hatte TikToks CEO Shou Zi Chew das zweifelhafte Vergnügen vor dem US-Kongress Rede und Antwort zu stehen. Zweifelhaft deshalb, weil man als Zuschauer bei solchen Befragungen nie das Gefühl bekommt, dass die Herren und Damen Politiker auch nur eine Sekunde an einer ernsthaften Auseinandersetzung interessiert sind. Vielmehr scheint es darum zu gehen, starke Bilder zu produzieren, die dann auf just den Plattformen geteilt werden können, um die es bei den Befragungen geht. Ein seltsames Ritual.

Da wir in der vergangenen Woche nur ein (euren Zuschriften zufolge sehr starkes) Briefing zum Themenkomplex KI verschickt haben, haben wir den geeigneten Zeitpunkt für eine rein nachrichtliche Aufarbeitung der Anhörung verpasst. Unser Briefing vom 16.3. ist aber gut gealtert. Viel Neues ist nicht zutage gefördert worden. Wer sich einen Überblick über den Stand der Debatte um ein TikTok-Verbot verschaffen möchte, ist mit unserem Briefing weiterhin gut beraten.

Wir werden auf Chews Auftritt vor dem US-Kongress sicher noch einmal zu sprechen kommen, wenn auf die Show der US-Politikerïnnen Taten folgen. Zwei News sind aber erwähnenswert:

  • TikTok hat eigenen Angaben zufolge 150 Millionen US-Nutzerïnnen (The Hollywood Reporter). Das war so vorher nicht bekannt. Bei 331 Millionen US-Amerikanern eine wahrlich beeindruckende Zahl.
  • Rund um die Anhörung wurde bekannt, dass die chinesische Regierung einen Zwangsverkauf von TikTok entschieden ablehnt (CNN). Das entschärft natürlich nicht gerade die Bedenken, wie es um die Verflechtungen von TikTok zum chinesischen Regime bestellt ist.

Wer sich die gesamte Anhörung noch einmal antun möchte, hier gibt es die Aufzeichnung (YouTube / CNBC) — Dauer: 5:24:00.

Wer nicht ganz so viel Zeit investieren möchte, kann sich auch dieses TikTok der Washington Post anschauen. Es fasst einwandfrei zusammen, wie die Anhörung abgelaufen ist — Dauer: 01:00.

Phasenweise glich die Befragung leider wirklich (wieder einmal) einer Realsatire (Gizmodo):

“Mr, Chew, does TikTok access the home wifi network?” Hudson asked.

Chew paused for a moment before answering. “Only if the user turns on the wifi,” he said. “I’m sorry, I may not understand the question.”

“So, if I have the TikTok app on my phone and my phone is on my home wifi network, does TikTok access that network?” Hudson said.

Visibly confused, Chew responded. “It would have to—to access the network to get connections to the internet, if that’s the question,” he said.

Wir bleiben dran.


Follow the money

  • Instagram: Anzeigen in Suchergebnissen: Wer dachte, mehr Werbung geht nicht, der wird von Mosseris Team eines Besseren belehrt. Testweise gibt es jetzt auch Anzeigen in Suchergebnissen (TechCrunch).
  • Snap: AR Enterprise Services: Viele von euch haben bei Snapchat bestimmt schon einmal einen Sonnenbrillen-Filter genutzt oder einen lustigen digitalen Hut aufgesetzt. Diese AR-Anwendungen sind unlängst mehr als wilde Spielereien. Viele Hersteller machen von der Funktion Gebrauch, um Kunden zur virtuellen Anprobe zu bitten (brand eins). Bald auch außerhalb von Snapchat: Unternehmen können mittels Snaps neuen AR Enterprise Services entsprechende Funktionen nun bei sich auf der eigenen Seite integrieren (TechCrunch). Smarter Move von Snap!

Next (AR, VR, AI)

  • TikTok: Hinweis auf KI-generierte Inhalte: TikTok hat seine Community-Richtlinien aktualisiert. Ab dem 21. April müssen User eindeutig auf KI-generierte oder manipulierte Inhalte hinweisen. Mit Begriffen wie „verändert“, "synthetisch", "nicht echt" oder "gefälscht" soll entweder in der Bildunterschrift oder via Sticker darauf hingewiesen werden (TikTok Newsroom). Auch wenn der Ansatz richtig ist, wird sich erst in der Umsetzung zeigen, wie gut die Guidelines funktionieren — für uns sind die Richtlinien zum Umgang mit synthetischen Medien (TikTok) bislang wenig handfest. Aber immerhin macht man sich dort Gedanken über das Thema. Das können nicht alle von sich behaupten. Looking at you, Elon!

Schon einmal im Briefing davon gehört

  • CapCut feiert 200 Millionen monatlich aktive User: Wer hauptberuflich Videos für Social Media produziert, ist CapCut garantiert schon begegnet. Es ist eines der gängigsten Tools, um (Kurz-) Videos für TikTok, Instagram und YouTube zu schneiden. Weltweit zählt die App nun 200 Millionen User. Was viele nicht wissen: CapCut gehört ebenfalls zu ByteDance und steht mit Blick auf ein potenzielles TikTok-Verbot womöglich ebenfalls bald im Kreuzfeuer der Kritik (Technode).
  • Instagram bevorzugt übrigens ohnehin Videos, die In-App geschnitten wurden, heißt es im Newsletter von Lia Haberman. Die weiteren Tipps für einen erfolgreichen Instagram-Auftritt lauten (Shorts):

Post to the Feed twice a day, everyday

Post Stories 6 x a day

Use 3 to 5 hashtags maximum

Captions should emphasize keywords that relate to your video topic

Use the app’s trending audio, not imported audio

  • Übersicht über Internet-Abkürzungen: Okay, das hier ist ein absoluter Boomer-Bookmark: Buffer hat aufgeschrieben, was diese ganzen komischen Abkürzungen im Internet bedeuten. BSAAW!

Neue Features bei den Plattformen

Instagram

  • Anzahl der Shares bei Reels: Instagram zeigt manchen Nutzerïnnen jetzt bei Reels die Anzahl der Shares (Lindsey Gamble). Ob diese Metrik bald allen aufgetischt wird, ist bislang unklar. Da es bei TikTok aber bereits seit Langem gelebte Praxis ist, ist davon auszugehen, dass die lieben Social-Media-Kollegen bald noch eine Spalte in ihren Excel-Tabellen ausfüllen müssen.

Twitter

  • Anzahl der Bookmarks: Auch bei Twitter gibt es eine neue Metrik (Twitter / Support). Ob es hierfür allerdings eine Extra-Spalte benötigt, erscheint uns fraglich.

WhatsApp

  • Neue Windows-App: WhatsApp für Windows wartet mit einer neuen Version auf: schnelleres Laden, Video-Calls mit bis zu acht und Audio-Calls mit bis zu 32 Personen, so die Verheißungen. (Meta)

LinkedIn

  • Neue Features für Unternehmensseiten: Es lassen sich nun Inhalte planen und automatisiert Posts teilen, wenn eine neue Stellenanzeige online ist. Zudem können Pages anderen Unternehmensseiten folgen und Live-Audio-Events auf der Plattform veranstalten. (Martech)

Canva

  • Integration von KI-Features: Auch Canva kommt am Hype um KI nicht vorbei und präsentiert neue Features, mit denen sich die Produktion von Social-Media-Posts und Präsentationen automatisieren lässt. (The Verge) Alles so durchschnittlich hier!

One more thing

Balenciaga Pope: Okay, jetzt ist es mir, Martin, auch passiert. Ich habe tatsächlich gedacht, dass der Papst diese absurde weiße Jacke wirklich im Kleiderschrank hat. Das ist aber Quatsch. Vielmehr handelt es sich um das erste richtige Midjourney-Meme (Garbage Day). Ein Blick auf das Subreddit r/midjourney vermittelt einen Eindruck, wozu der Bildergenerator bereits in der Lage ist.