Ausgabe #868 | 16.3.2023
Was ist
Die US-Regierung erhöht den Druck auf TikToks chinesischen Mutterkonzern ByteDance. Das Unternehmen müsse vollständig verkauft werden, ByteDance dürfe keine Anteile mehr daran halten. Andernfalls werde man die App in den USA verbieten (WSJ). Damit eskaliert der Konflikt zwischen TikTok und der US-Politik, der seit Monaten schwelt.
Warum die US-Regierung auf einen Verkauf drängt
- Bereits seit 2019 prüft das Committee on Foreign Investment in the United States (CFIUS) TikTok. Das Gremium setzt sich unter anderem aus Vertreterïnnen von Finanz-, Justiz-, Verteidigungs- und Handelsministerium zusammen. Es kann ausländische Beteiligungen und Übernahmen von US-Unternehmen blockieren oder deren Geschäfte in den USA einschränken, wie es etwa bei Huawei geschah.
- Was als Untersuchung der Übernahme von Musical.ly begann, weitete sich 2020 aus. Der damalige US-Präsident Trump drohte erstmals mit einem TikTok-Verbot. CFIUS sollte feststellen, ob TikTok eine Gefahr für die nationale Sicherheit darstellt.
- Trump verlor die Wahl, das drohende Verbot geriet in Vergessenheit, TikTok wuchs weitgehend unbehelligt weiter. Doch vergangenes Jahr kam die alte Diskussion erneut auf. Das hatte zwei Gründe.
- Zum einen zeigten Recherchen der Investigativreporterin Emily Baker-White, dass der chinesische Einfluss auf TikTok deutlich größer ist, als das Unternehmen öffentlich beteuert (Buzzfeed). Besonders übel: Angestellte spionierten gezielt Nutzerïnnen und Journalistïnnen aus – darunter ausgerechnet Baker-White (Forbes).
- Zum anderen griff Russland die Ukraine an, und Xi Jinping unterstützte Wladimir Putin. Das verschärfte die Spannung zwischen China und dem Westen. Auch in Deutschland wuchs die Sorge über den chinesischen Einfluss auf die deutsche Wirtschaft und Infrastruktur. Besonders stark litten die Beziehungen zwischen den USA und China. Der Abschuss des chinesischen Spionageballons und die gegenseitigen Beschuldigungen verdeutlichten, wie wenig sich die beiden Länder über den Weg trauen.
- Die Kombination aus den besorgniserregenden Enthüllungen und dem geopolitischen Konflikt verschärfte den Argwohn, mit dem US-Politikerïnnen auf TikTok blicken. Nach wie vor existieren keine (öffentlichen) Beweise, dass China die App als Spionagewerkzeug nutzt – aber es sieht zunehmend so aus, als könnte allein die Befürchtung, dass Daten abfließen könnten, zu einem Verbot führen.
Wie TikTok reagiert
- Mit Blick auf die aktuelle Situation in den USA sagt eine Sprecherin: "Wenn der Schutz der nationalen Sicherheit das Ziel ist, tragen weder ein Verbot noch eine Veräußerung dazu bei, die Problematik des Datenzugriffs oder -transfers zu lösen."
- Zumindest US-Politikerïnnen dürften das anders sehen. Deren Sorge entzündet sich schließlich in erster Linie an den chinesischen Eigentümerstruktur.
- Zwar betont TikTok bei jeder Gelegenheit, ByteDance sei gar kein chinesisches Unternehmen, sondern auf den Cayman Island registriert. Zudem seien mehr als die Hälfte des Konzerns in der Hand internationaler Investorïnnen und Fonds, im Vorstand säßen auch Amerikaner.
- Das lenkt aber vom eigentlichen Problem ab. Fakt ist, dass ByteDance seine operative Firmenzentrale in Peking hat, die chinesische Regierung hält einen kleinen Anteil an dem chinesischen Ableger, der Douyin Group.
- Darüber kann sie direkten Einfluss ausüben und hat das in der Vergangenheit bereits getan. ByteDance-Gründer Zhang Yiming äußerte sich jahrelang immer wieder vergleichsweise liberal und prowestlich, bis er 2018 eine schockierend unterwürfige Entschuldigung veröffentliche (China Media Project).
- Nach schlaflosen Nächten voller Reue und Schuldgefühl habe er schließlich erkannt, dass es ihm an Erziehung zu den sozialistischen Kernwerten mangele. Er habe zu sehr auf Technologie vertraut und zu wenig auf die Kommunistische Partei von Xi. Man braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, was zu Zhangs Sinneswandel geführt hatte.
- Sollte TikTok komplett verkauft und sämtliche Verflechtungen zu ByteDance gekappt werden, könnte das eine mögliche Einflussnahme aus China verhindern. Deshalb kommt uns TikToks Statement etwas deplatziert vor, schließlich dürfte ein Verkauf (und erst recht ein Verbot) die US-Sorgen sehr wohl besänftigen.
Wie TikTok argumentiert
- Wir haben am Mittwoch länger mit Theo Bertram gesprochen, der in Europa für TikToks Public Policy und politische Beziehungen zuständig ist. Er war in den vergangenen Tagen in Europa und Deutschland unterwegs, um Regierungsvertreterïnnen zu treffen.
- Immer wieder verwies er auf Project Texas und Project Clover. Die beiden Initiativen in den USA (Lawfare) und Europa (Politico) sollen sicherstellen, dass die chinesische Regierung nicht auf TikTok-Daten zugreifen kann.
- In den USA sollen Daten ausschließlich auf Servern von Oracle gespeichert werden. Zusätzlich prüft das US-Unternehmen den Quellcode der TikTok-App und kann die Schnittstellen einsehen, über die TikTok-Angestellte außerhalb der USA – darunter auch in China – auf angeblich streng limitierte und anonymisierte Daten zugreifen können. Allein in den USA investiert TikTok rund anderthalb Milliarden Dollar.
- Project Clover ist das europäische Pendant. Die Datenzentren stehen in Dublin und Norwegen, auch hier gibt es einen externen europäischen Partner für Datensicherheit, der das Projekt prüft und überwacht. Zudem sollen alle Auflagen der DSGVO erfüllt sein (TikTok-Newsroom).
- "What we ask is that we judged on the facts not fears", sagt Bertram. Bei allzu vielen Politikerïnnen scheint diese Botschaft nicht zu verfangen. Angeblich hat niemand aus den EU-Institutionen mit TikTok gesprochen, bevor Kommission, Rat und Parlament TikTok von Dienstgeräten verbannten (#864).
- Bertram sagt, man habe mehrfach angeboten, über die Anschuldigungen zu sprechen. Bis heute wisse TikTok nicht genau, was ihnen vorgeworfen werde. Er vermutet eine Mischung aus Furcht ("Menschen haben Angst vor uns, weil wir neu sind und aus China kommen") und politischem Gehorsam: Wenn die USA TikTok auf Dienstgeräten verbieten, dann sollten wir das auch machen.
- Tatsächlich deuten die bisherigen Äußerungen von Politikerïnnen aus den USA und Europa nicht darauf hin, dass es substanzielle Beweise gibt, die über die bekannten Befürchtungen hinausgehen. Immer wieder werden eine Handvoll journalistischer Recherchen aus den vergangenen Jahren zitiert, von belastendem Material der Geheimdienste ist nichts zu hören.
- Auf einen möglichen Verkauf angesprochen zieht Bertram einen Fußballvergleich: "I would say the accuracy of the discussion about TikTok is similar to the accuracy of discussion about football transfers." Als Fan von Liverpool habe er gelernt, dass es meist besser sei, sich nicht zu früh über mögliche Verpflichtungen zu freuen, sondern bis zum Start der neuen Saison zu warten. Deshalb halte er es für sinnlos, über einen Verkauf oder mögliche Interessenten zu spekulieren.
- Die Analogie kommt uns eher schief vor, aber zumindest die Geschichte gibt ihm recht. Vor zweieinhalb Jahren galt es auch schon als beschlossene Sache, dass Oracle und Walmart TikTok kaufen. Bekanntlich kam es anders.
- Zumindest intern scheint TikTok aber sehr wohl über einen Verkauf als letzten Ausweg nachzudenken (Bloomberg):
A divestiture, which could result in a sale or initial public offering, is considered a last resort, to be pursued only if the company’s existing proposal with national security officials doesn’t get approved, according to people familiar with the matter, who asked not to be identified discussing non-public information. Even then, the Chinese government would have to agree to such a transaction, the people said.
Was TikTok tut
- Neben Project Texas und Clover versucht TikTok, positivere Schlagzeilen zu schreiben. Künftig wird es möglich sein, die For You Page zurückzusetzen (TikTok-Newsroom). Die Algorithmen fangen dann bei null an, und man kann die Empfehlungen mit seinem Verhalten neu beeinflussen.
- Das könnte tatsächlich eine praktische Funktion sein. Manchmal ändern sich Interessen und Vorlieben schneller als TikToks Vorschläge, manchmal nerven Inhalte und Themen, von denen man früher kaum genug bekommen konnte.
- In den USA führt TikTok einen STEM Feed ein, der Inhalte aus den Bereichen Science, Tech, Engineering und Math enthält (The Verge). Das könnte auf Bedenken abzielen, wonach TikToks chinesisches Pendant Douyin Teenagern deutlich mehr Lern- und Bildungsinhalte vorsetze, während TikTok in erster Linie auf Unterhaltung setze – und damit, so die Befürchtung, China einen Vorteil verschaffe.
- Anfang des Monats lancierte TikTok neue Jugendschutzfunktionen, die Bildschirmzeit für Minderjährige begrenzen und Eltern mehr Kontrolle geben sollen (TikTok-Newsroom).
- Das soll einem weiteren Vorwurf entgegentreten, der TikTok oft entgegenschlägt und auch in der Verbotsdiskussion in den USA eine Rolle spielt: Die App mache süchtig und schade der mentalen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen.
- Nach 60 Minuten Nutzung blendet TikTok standardmäßig einen Hinweis ein, dass die tägliche Bildschirmzeit überschritten sei. Die Begrenzung lässt sich aber einfach umgehen, indem man eine PIN eingibt. Wir können uns nicht vorstellen, dass allzu viele 15-Jährige sagen: Oops, schon eine Stunde TikTok heute? Okay, Handy weg.
- Kommende Woche wird TikTok weitere Maßnahmen vorstellen. Diese Informationen stehen aber noch unter einem Embargo, deshalb können wir noch keine Details nennen.
- Wir halten diese Schritte größtenteils für sinnvoll, bezweifeln aber, dass sie nennenswerten Einfluss auf die Debatte in den USA haben werden. TikTok Schicksal hängt nicht am Produkt, sondern an der Politik.
Be smart
Kommende Woche wird TikTok-Chef Shou Zi Chew vor dem US-Kongress aussagen. Mit Blick auf frühere Auftritte von Mark Zuckerberg oder Jack Dorsey bezweifeln wir, dass die Anhörung echten Erkenntnisgewinn liefern wird. Für Chew, der sich bislang selten öffentlich zu Wort geäußert hat und eher auf private Gespräch setzt, dürfte es trotzdem ein entscheidendes Kreuzverhör werden, auf das er jetzt schon vorbereitet wird (Bloomberg).
Chew’s team is preparing him to absorb the legislators’ barbs and “take the tough questions,” according to one person close to the company. (…) He’s trying to combat existential fears about China with cold hard facts, a strategy he’s always favored. But those entreaties may fall on deaf ears, given we already know Cfius is not sold on TikTok’s plan.
Video / Audio
- Video-Podcasts werden immer mehr zum Thema, berichtet Digiday. Es sei für ambitionierte Podcaster einfach zu verlockend, die Reichweiten von YouTube, Instagram und TikTok mitzunehmen.
- Meta begräbt „Audio Channels“: Ab dieser Woche lassen sich in Facebook Gruppen keine neuen Channels mehr erstellen (Twitter / Oncescuradu). Warum ist das Thema Social Audio eigentlich so krass gescheitert?
Next
- Google: AI überall: Die Anwendungen Docs, Gmail und Tabellen sollen bald mit AI-Funktionen angereichert werden. Überhaupt will Google nach Möglichkeit in allen Produkten AI-Features integrieren. Also bald. Möglichst schnell. Los jetzt!!! (The Verge)
- Was GPT-4 kann, schauen wir uns in der kommenden Woche ausführlicher an. Heute nur in aller Kürze der Hinweis, dass ChatGPT ein großes Update erhält. Open AI frohlockt mit längeren Texten, kreativeren Ergebnissen und mehr Sicherheit. Auch könne GPT-4 Bilder verstehen. „AGI that benefits all of humanity“ — also mindestens.
- Kevin Roose findet GPT-4 jedenfalls „exciting and scary“ zugleich (New York Times). Das beschreibt auch ganz gut, was wir bei diesem Thema empfinden. Es ist alles so irre.
- Warum Siri, Alexa und Hey Google übrigens so gar nicht am Start sind beim AI-Wettrennen, erklären Brian X. Chen, Nico Grant und Karen Weise ganz gut (New York Times). Too long, did not read: Was nicht ist, wird noch werden.
- Aufs Metaverse hat jedenfalls sogar Mark Zuckerberg aktuell kaum noch Bock. Bei Calls mit Investoren vermeidet er das Reizwort nur all zu gern (Insider). Hat jemand Metaverse gesagt?
Neue Features bei den Plattformen
YouTube
- Vier Kanäle gleichzeitig gucken? Kein Problem. Jedenfalls für US-Nutzerïnnen, die Lust auf Livesport haben. YouTubes neues Multiview-Feature macht es möglich. (The Verge)
- AI-Profile: LinkedIn bietet jetzt AI-Unterstützung an, um das Profil mal so richtig aufzumotzen. Ganz praktisch für alle, die einfach nicht wissen, was sie in ihren Lebenslauf schreiben sollen. Hihi. (TechCrunch)
Substack
- Die Chat-Funktion gibt es jetzt auch online. Bislang war das Feature nur in der App verfügbar. Sieht ganz so aus, als wird Twitter viele Erben haben. (Substack / Reads)
One more thing
- Kottke feiert 25-jähriges Bestehen. Es gibt diese Adressen im Internet, die einen schon ein halbes Leben lang begleiten. Das Blog von Jason Kottke gehört für uns definitiv dazu. Und während wir uns wundern, dass es das Social Media Watchblog auch schon über zehn Jahre gibt, feiert Jason sogar bereits Silberne Hochzeit — jedenfalls fühlt es sich so an, so eng wie er mit seinem Blog verbunden ist. Schön, dass es ihn gibt. Schön, dass es kottke.org gibt.