Musk dreht durch: Wann wird es Zeit zu gehen?

Was ist

Ist es Zeit, Twitter zu verlassen? Diese Frage stellen wir uns seit Monaten. Woche für Woche liefert Musk neue Argumente, der Plattform keine kostenlosen Inhalte und Aufmerksamkeit zu schenken. Doch was in den vergangenen Tagen geschehen ist, stellt eine neue Eskalationsstufe dar (zugegeben: Das schreiben wir nicht zum ersten Mal).

Damit meinen wir nicht, dass Forbes Musk nur noch als zweitreichsten Mensch der Welt listet (Axios). Auch der 47. Anlauf (Twitter-Blog), das kostenpflichtige Abo Blue zu starten (diesmal mit dreifarbigen Haken), ist uns herzlich egal.

Uns geht es um die offen zur Schau gestellte Menschenfeindlichkeit, mit der Musk seine Angestellten bloßstellt, seine zunehmende (Rechts-)Radikalisierung, die Lügen, Drohungen und den Hass, mit dem er den öffentlichen Diskurs vergiftet. Lange Zeit konnte man versuchen, Musk zu ignorieren, seine Tweets als ironisches Shitposting abzutun. Doch er ist mehr als ein Troll – er ist gefährlich.

Dieses Briefing wird etwas persönlicher als sonst. Wir reflektieren unseren eigenen Umgang mit Twitter und teilen die Gedanken, die uns umtreiben. Spoiler: Wir sind noch nicht zu einer endgültigen Entscheidung gekommen und werden auch keine eindeutigen Empfehlungen abgeben. Vielleicht hilft es dir trotzdem, dich selbst zu positionieren. Unserer Meinung nach gibt es keine richtigen oder falschen Antworten. Letztlich muss jede und jeder das tun, was sich am besten anfühlt.

Davor fassen wir die beispiellose Shitshow zusammen, die Musk abgezogen hat. Seine Worte und Taten sprechen für sich. Deshalb beschränken wir uns auf einen Satz pro Ereignis und verlinken jeweils weiterführende Texte. Für detailliertere Analysen des gesamten Wahnsinns verweisen wir auf unsere vergangenen Ausgaben:

Der Anlass: Musks Shitshow

  • Mit QAnon-Methoden und -Phrasen unterstellt Musk dem früheren Twitter-Sicherheitschef Yoel Roth ohne jegliche Grundlage Sympathie für Pädophile und löst damit eine Welle an Morddrohungen und verbaler Gewalt aus, der sich kurz zuvor kritisch über Musk geäußert hatte: Bloomberg, WaPo, Caroline Orr Bueno
  • In fünf Wörtern ("My pronouns are Prosecute/Fauci") verhöhnt Musk queere und nonbinäre Menschen, bläst die Dogwhistle für Rechtsradikale und hetzt radikale Impfgegnerïnnen auf den Virologen Anthony Fauci, was selbst das sonst zurückhaltende Weiße Haus als "widerlich" bezeichnet: Atlantic, Axios
  • Musk reaktiviert nicht nur massenweise rechtsextreme Accounts, die aus guten Gründen gesperrt wurden, sondern teilt selbst Memes mit Nazi-Symbolik und -Rhetorik, pflichtet mit Verschwörungsideologen bei und fabuliert von einem "woke mind virus", der besiegt werden müsse, um die Menschheit zu retten: Vice, Tom Nichols, Elon Musk
  • Der Twitter-Chef gibt interne Twitter-Dokumente an rechte Journalistïnnen weiter, die das Material als mehrteilige "Twitter Files" veröffentlichen, dabei einen Skandal herbeifantasieren, der gar keiner ist, und ehemalige Twitter-Angestellte einem wütenden Mob aussetzen: New York Magazine, Max Read, Wired, Atlantic, Melissa Ryan, Ed Zitron
  • Zwei Tage, nachdem Musk die "Twitter Files" als angeblichen Beleg für gelebte Transparenz preist, droht er Angestellten, die Interna teilen, mit Schadenersatzklagen: Zoë Schiffer, James Surowiecki
  • Um Spam zu bekämpfen, blockierte Musk rund 30 Mobilfunkanbieter und schneidet damit Hunderttausende Nutzerïnnen in Indonesien, Indien und Russland von Twitter ab: Platformer
  • Nachdem sich Musk immer wieder über Shadowbanning beschwert hatte, stellt sich heraus, dass ein Account, der die Flüge von Musks Privatjet trackte, von Shadowbanning betroffen war, ohne dass der Inhaber etwas davon wusste: Daily Beast, Techdirt

Die Reaktion: Der Rückzug

In den vergangenen Wochen haben sich bereits etliche Journalisten, Politikerinnen und Prominente von Twitter zurückgezogen, um gegen Musk und dessen Führungsstil zu protestieren. Relativierend muss man aber sagen: Seit einem Jahrzehnt verkünden immer wieder Menschen öffentlichkeitswirksam ihren Abschied. Meist geht es um Hass und Hetze, manchmal spielen andere Gründe eine Rolle. Nicht immer sind prominente Nutzerïnnen der beste Maßstab für das eigene Verhalten.

Was am Montag geschah, gibt uns aber zu denken. Mit Nilay Patel und Casey Newton haben zwei Reporter ihre Accounts stillgelegt, die zu den klügsten Beobachtern und am besten informierten Beatwritern zählen.

Der Chefredakteur von The Verge, dessen "Welcome to hell, Elon"-Brief vom Tag der Übernahme mit jedem Tag besser altert, fasst sich kurz:

Whatever relationship I had with Twitter has come to an end, and you can find me at http://theverge.com, where I will be posting much more often, and welcome your comments on my posts.

Newton, der gemeinsam mit Zoë Schiffer seit Wochen nahezu jeden Twitter-Scoop zuerst berichtet und Dutzende Quellen im Unternehmen hat, sortiert seine Gedanken in einer langen und unbedingt lesenswerten Ausgabe des Newsletters Platformer:

Now, awaiting Musk’s latest tweets, I find myself anxious that one of his former employees could be physically assaulted or worse over what the CEO is posting. I don’t know how, in that environment, to make little jokes about Google’s latest failed messaging app, or bad PR pitches, or any of the other bits I have been doing on Twitter forever. I don’t know how to pretend that what is happening is not actually happening. I don’t want to provide, even in the smallest of ways, a respectable backdrop against which hate speech against my fellow LGBTQ people, or Black or Jewish or any other people, can flourish.

Was tun?

Wir sind beide keine typischen Twitter-Nutzer. Martin lässt seinen Account seit dem 21. November komplett ruhen, ich verbringe seit anderthalb Jahren eh kaum noch Zeit auf Twitter. Zumindest in meinem Fall gab es keinen konkreten Anlass. Ich habe einfach festgestellt, dass ich lieber Zeit mit Freundïnnen verbringe oder abends eine Runde auf dem Rad drehe, als noch länger auf kleine und große Bildschirme zu starren.

Für uns persönlich spielt Twitter also ohnehin keine große Rolle mehr. Trotzdem schätzen und mögen wir viele Aspekte der Plattform. Twitter gibt Menschen eine Stimme, die sonst nicht gehört werden, kann politische und gesellschaftliche Veränderung auslösen und ermöglicht Begegnungen, Freundschaften und Beziehung. Manchmal ist Twitter, genauer gesagt seine Nutzerïnnen, auch einfach wahnsinnig witzig.

Obwohl wir selbst wenig bis gar keine Inhalte mehr teilen, ist Twitter beruflich nach wie vor wichtig für uns. Wichtigen Quellen und Beatwritern folgen wir per RSS, regelmäßig suchen wir dort gezielt nach Einschätzungen von Expertïnnen, nicht zuletzt kommt kaum ein Briefing ohne Links auf Tweets und Threads aus.

Auch deshalb würde es uns schwer fallen, die Plattform komplett aus unserem (Berufs-)Leben zu verbannen. Zumindest als Informationsquelle ist Twitter einfach zu nützlich. Solange wir passiv auf Twitter unterwegs sind (oder zumindest über unsere RSS-Reader und andere Umwege von den Inhalten profitieren), wäre es schräg, offen zum Boykott eines Ökosystems aufzurufen, an dem wir indirekt partizipieren.

Wir können aber jede und jeden verstehen, der dort keine Zeit mehr verbringen möchte, weder schreibend noch lesend. Tatsächlich freuen wir uns sogar darüber, denn je mehr Menschen (und Werbekunden) sich zurückziehen, desto größer wird der Druck auf Musk und desto deutlicher das Signal: Wenn du so weitermachst, Elon, dann verwandelst du dein Spielzeug in einen Spielplatz für deine Fanboys, Rechte und Rechtsradikale, aber du verlierst, was dich daran reizt – die Möglichkeit, mit deinen Tweets gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Einfluss auszuüben.

Vielleicht führen wir ohnehin Debatten, die sich bald erübrigen. Vielleicht überschätzen wir Medien und Journalistïnnen die Bedeutung von Twitter immer noch. Vielleicht sollten wir uns an der Haltung des Weißen Hauses orientieren, das Twitter offenbar für genauso nischig hält (Semafor), wie es die vergleichsweise geringen Nutzerzahlen vermuten lassen:

The administration does not consider Twitter a vital part of any political strategy that reaches beyond the chattering classes. One former White House official told Semafor the platform is an “afterthought” in communications and press meetings, which tend to focus first on television and traditional media and on Facebook, a declining service that still reaches a mass audience.

Nicht alles, was der Marketingprofessor Scott Galloway sagt, ist klug. Ein Teil seiner Prognosen hat sich als katastrophale Fehleinschätzung erwiesen, und manchmal fragen wir uns, warum er so oft als angeblicher Experte zitiert wird. Auch diese Antwort, die Galloway in einem Interview mit Zeit Online gibt, entspricht nicht unbedingt unserer Meinung – aber womöglich hat trotzdem recht:

Wenn Twitter verschwinden würde, würden wir Linken auch so Gründe finden, um wütend und beleidigt zu sein und uns gegenseitig anzuschreien. Und die Rechten würden Wege finden, Verschwörungstheorien aufzustellen und die Wissenschaft zu politisieren. Wir würden alle weitermachen. Und es würde allen gut gehen. Twitter ist irrelevant. Niemand unter 25 Jahren ist auf Twitter. Es bekommt unverhältnismäßig viel Aufmerksamkeit im Vergleich zu seiner tatsächlichen Relevanz.

Wir ergänzen: Vieles, was wir bei Twitter vermissen würden, passiert längst auf Plattformen wie Instagram oder TikTok. Die Gesellschaft ist schon weitergezogen. Wir Journalisten aber sind auf Twitter irgendwie hängengeblieben.

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Wie du weißt, springen wir nicht auf jeden Hype Train auf. Zum Beispiel haben wir den Themen NFT und Crypto zwar Explainer (#708) gewidmet, ansonsten haben sie aber bei uns nicht all zu viel Platz eingenommen. Auch Clubhouse und BeReal spielten in unserer Berichterstattung nur hin und wieder eine Rolle. Dass sie wirklich das Potential hätten, die Medienwelt zu verändern, sahen wir nicht. Zurecht wie es aussieht.

Bei den Themenfeldern AR, VR, AI und synthetische Medien ist das anders. Wir gehen fest davon aus, dass diese Bereiche immer zentraler werden. Um dieser Entwicklung Tribut zu zollen, werden wir beim Social Media Watchblog über diese Bereiche 2023 verstärkt berichten. Die Kategorie Next wird der Ort dafür sein. Hier einige aktuellen Nachrichten an den Schnittstellen von Social Media und Plattformen:

  • Sorge um Falschinformationen: Wie üblich beim Aufkommen neuer Technologien mehren sich auch mit Blick auf ChatGPT die Stimmen, die vor unerwünschten Folgen warnen. Eine Sorge: Die Technik könnte Suchmaschinen ersetzen und helfen, Falschinformationen zu verbreiten (New York Times).
  • ChatGPT erfindet Quellen: Wie dieser Test einer Wissenschaftlerin zeigt, ist die Sorge, über die die New York Times berichtet, nicht unberechtigt: Anstatt echte Quellen zu liefern, hat sich ChatGPT einfach welche ausgedacht. 🥴
  • ChatGPT-Antworten von Coding-Seite verbannt: Stack Overflow ist für Programmierer was FragMutti.de für Erstsemester ist: die erste Wahl wenn es um Fragen geht, auf die sie selbst keine Antworten haben. Um das Niveau hochzuhalten, haben die Moderatoren von Stack Overflow Antworten von ChatGPT vorerst verboten – die Fehlerquote sei einfach zu hoch (The Verge).
  • Warnung vor Deepfakes: An anderer Front – nämlich im Zusammenhang mit neuen Technologien, die via AI Bilder generieren – treffen wir immer häufiger auf Artikel, in denen vor der Gefahr von Deepfakes gewarnt wird – hier (Ars Technica) ist einer.
  • Tencent Music präsentiert ersten synthetischen Künstler: Das Mutterhaus von WeChat gehört zu den Tech-Schwergewichten dieser Welt. Mit Beteiligungen an Epic Games (48 Prozent), Discord (38 Prozent) und Snapchat (12 Prozent) hat das Unternehmen längst auch im westlichen Markt Fuß gefasst. In China selbst gehört der Streaming-Anbieter Tencent Music zu den wichtigsten Angeboten aus dem eigenen Haus. Hierfür hat das Unternehmen nun das erste “hyper-real virtual pop idol“ kreiert – mit Erfolg: Das Einführungsvideo von LUCY wurde bereits über 200.000 angeschaut.


Aktuelle Beobachtungen

  • AI-Kunst-Apps mit Top-Platzierungen in den Charts: Dass sich Apps wie Lensa AI und Co zunehmender Beliebtheit erfreuen, zeigen die Erfolge in den US App Store Charts. Seit Montag werden die ersten drei Plätze von AI-Photo-Editor-Apps belegt – mit Lensa AI an der Spitze (Techcrunch). Unter den Top 100 befinden sich 8 AI-Kunst-Apps.
  • TikToks Aufstieg vorerst ausgebremst? Es sieht so aus, als sei der kometenhafte Aufstieg von TikTok in den USA vorerst gestoppt: The Information berichtet, dass die Anzahl der monatlich aktiven US-Nutzerïnnen leicht rückläufig sei, Eric Seufert (Analyst bei Mobile Dev Memo) twittert, dass die Anzahl der Downloads von TikTok in den USA im Jahresvergleich um 33 Prozent zurückgegangen sei. Interessanterweise hätte sich die Anzahl der Downloads von Apps aus dem Hause Meta gesteigert. Wir teilen dies nur als erste, vorsichtige Beobachtung. Wir werden uns dem Thema in den kommenden Tagen noch einmal ausführlicher annehmen.

Schon einmal im Briefing davon gehört

  • Meta legt Satelliten-Pläne auf Eis: Mark Zuckerberg träumte einst davon, die gesamte Weltbevölkerung mit Facebook zu versorgen. Selbst in den entlegensten Gegenden sollten sich Menschen mittels Facebook verbinden können – selbst wenn es vor Ort noch nicht einmal Internet gibt. Mittels eigener Satelliten- bzw. Dronen-Flotte könnte Facebook doch einfach zu den Menschen kommen, so die Idee. Jetzt ist der Traum ausgeträumt: die zuständige Abteilung wird aus Kostengründen aufgelöst (The Verge).

Neue Features bei den Plattformen

WhatsApp

Instagram / Facebook

Amazon


One more thing

Wir treiben uns in letzter Zeit etwas häufiger als sonst bei LinkedIn rum – nicht zuletzt, um unsere Briefings dort auf unserer LinkedIn-Seite zu teilen. Dabei fällt uns auf, wie viel mehr LinkedIn aktuell von Menschen aus allen möglichen Branchen genutzt wird, um Aufmerksamkeit zu generieren. Oft mit beachtlichem Erfolg. Damit das LinkedIn-Game 2023 auch für dich richtig funzt, hier der ultimative Guide. Also falls du nächstes Jahr nichts anderes vorhaben solltest…

via Richard van der Blom


Header-Foto von Hamza Madrid