Desinformation im Wahlkampf: Es trifft vor allem Annalena Baerbock
Was ist
"Was ist das, wer definiert das, ist das gefährlich?", fragten wir vergangene Woche, als wir uns in Briefing #742 dem Thema Desinformation widmeten. Damals wussten wir noch nicht, dass sich kurz danach Avaaz mit dem neuen Bericht "Deutschlands Desinformations-Dilemma 2021" melden sollte, der am Montagabend veröffentlicht wurde.
Die NGO hat sich unter anderem folgende Fragen gestellt:
- Gegen wen richtet sich Desinformation im Vorfeld der Bundestagswahl?
- Welche Rolle spielen klassische und soziale Medien?
- Wird Facebook seiner Ankündigung gerecht, die Bundestagswahl zur "Top Priority" zu machen und Fehlinformationen zu kennzeichnen?
- Wer setzt am meisten Falschbehauptungen in die Welt und wer verbreitet sie?
Wie Avaaz vorgegangen ist
Die Grundlage für den Bericht bilden die Faktenchecks AFP, dpa und Correctiv, die auch für Facebook Fakten prüfen. Im Zeitraum von Januar bis August sind dabei mehr als 800 Fact-Checks zusammengekommen, die Avaaz ausgewertet hat. Zusätzlich wurden repräsentative Befragungen bei YouGov in Auftrag gegeben.
Wir haben das Vorgehen nicht im Einzelnen überprüft, vertrauen Avaaz aber grundsätzlich. In der Vergangenheit berichteten wir mehrfach über Avaaz-Reports (#631, #661, #718), methodisch war das immer seriös. Teils empfanden wir Interpretation und Verkaufe etwas zugespitzt, aber vermutlich muss das so sein, wenn man mit solchen Untersuchungen durchdringen will.
Der aktuelle Bericht hat wenig Spin und beschränkt sich auf die Fakten. Auch die Arbeit von AFP, dpa und Correctiv schätzen wir als gründlich. Soll sagen: Auch wenn wir nicht nachgezählt haben, sind wir uns ziemlich sicher, dass die Zahlen stimmen.
Wer die Desinformation abbekommt
- Ein Viertel der Falschnachrichten betrifft Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock. Obwohl sie erst im April ihre Kandidatur bekannt gab, liegt sie damit auf Platz 1 im Desinformations-Datensatz.
- Rund halb so viele Lügen und Gerüchte beziehen sich auf Angela Merkel (13 %), danach folgen Armin Laschet, Markus Söder und Karl Lauterbach.
- Desinformations-Narrative betreffen vor allem Politikerïnnen von Grünen (46 %), CDU/CSU (32 %) und SPD (19 %). Linke, FDP und AfD sind kaum vertreten.
- Vergleicht man die drei Kanzlerkandidatïnnen, ergibt sich ein eindeutiges Bild. 71 Prozent der Desinformation zielt auf Baerbock ab, 29 Prozent betreffen Laschet. Olaf Scholz taucht in der Datenbank von AFP, dpa und Correctiv gar nicht auf.
- Allerdings liegt dem Ranking ein verhältnismäßig kleines Sample zugrunde. Aus den mehr als 800 Faktenchecks sind nur 85 Desinformations-Narrative über Politikerïnnen hervorgegangen.
- Trotzdem ist die Tendenz so klar, dass man wohl problemlos konstatieren kann: Baerbock wird mit Abstand am häufigsten zur Zielscheibe von Desinformation.
Wer die Desinformation verbreitet
- Wenn wir über Falschnachrichten schreiben, zitieren wir oft eine Kolumne von Farhad Manjoo, der 2019 schrieb: "Worry About Facebook. Rip Your Hair Out in Screaming Terror About Fox News." (NYT)
- Anders ausgedrückt: Wir glauben, dass Journalistïnnen zu oft und zu leichtfertig mit dem Finger auf Facebook und anderen Plattformen zeigen. Stattdessen wäre es angebracht, die eigene Verantwortung in den Blick zu nehmen. Massenmedien tragen massiv zur Verbreitung von Desinformation bei.
- Dieses Bild zeigt sich auch im Avaaz-Bericht: 56 Prozent der Erwachsenen in Deutschland haben mindestens eine Falschnachricht über Baerbock gesehen – und klassische Medien sind die wichtigsten Quellen.
- 22 Prozent nennen Berichterstattung im Fernsehen, 18 Prozent andere Print- und Online-Medien. Erst danach folgen in dieser Reihenfolge Facebook, Twitter, Instagram, YouTube, WhatsApp und Telegram.
- "Desinformation hat auch in Deutschland das Mainstream-Publikum erreicht", sagt Christoph Schott, Kampagnendirektor bei Avaaz. "Die Bundesrepublik läuft Gefahr, in die Fußstapfen der USA zu treten, wo Trumps Tweets – ob wahr oder falsch – von den Mainstream-Medien weit verbreitet wurden."
- Den Begriff "Mainstream-Medien" halten wir für problematisch, da er ein Narrativ nährt, das vor allem in rechten (und teilweise auch linken) Kreisen verbreitet ist, die etablierten journalistischen und politischen Institutionen aus Prinzip misstrauen. Davon abgesehen stimmen wir Schott und Avaaz aber voll zu.
Wie sich Desinformation ausbreitet
- Avaaz zeichnet an mehreren Beispielen nach, wie Falschbehauptungen aus sozialen Medien in klassische Medien überschwappen und damit ein viel größeres Publikum erreichen.
- Anschaulich lässt sich das etwa an der Behauptung nachvollziehen, dass Baerbock Haustiere verbieten wolle. Das ist frei erfunden, dahinter steckt die Facebook-Seite "Ich misstraue der Regierung!".
- Trotzdem verbreitete sich die Lüge im April. Dazu trugen maßgeblich Medien wie die Stuttgarter Nachrichten ("Fordert die Kanzlerkandidatin wirklich ein Haustierverbot?") oder Der Westen ("Annalena Baerbock: Hasst sie wirklich Hunde? Zitat macht die Runde – das steckt wirklich dahinter") bei.
- Beide Überschriften machen nicht deutlich, dass es sich um ein erfundenes Zitat handelt. Auch die Facebook-Posts lösten die Lüge nicht auf, sondern wollten offenbar mit der Kontroverse Klicks schinden. Entsprechend wütend fällt ein Teil der Kommentare aus.
- Merke: Wenn man sich schon dafür entscheidet, eine Falschbehauptung einem Faktencheck zu unterziehen und damit zu riskieren, sie größer zu machen, als sie ist, dann muss aus der Überschrift hervorgehen, dass es sich um eine Falschbehauptung handelt.
- In vielen Fällen wäre es die bessere Entscheidung, die Lüge einfach zu ignorieren, da der Schaden, den man durch die zusätzliche Aufmerksamkeit auslöst, größer ist als der Nutzen.
- Wir zitieren erneut Christoph Schott: "Wir müssen uns jetzt alle fragen: Spielen wir geraden den Verbreitern von Falschnachrichten in die Hände, indem wir ihnen helfen, ihre Lügen aus Facebook-Gruppen und Telegram-Chats auf die Fernsehbildschirme und Handydisplays von Millionen von deutschen Wählerïnnen zu bringen?"
Welche Rolle Facebook spielt
- Im Mai erklärte Facebooks PR-Chef Nick Clegg, die Bundestagswahl habe "höchste Priorität" (FAZ). Man werde große Anstrengungen unternehmen, um die Integrität der Wahl sicherzustellen.
- Dieses Versprechen hat Facebook seitdem in zahlreichen Blogeinträgen und Hintergrundgesprächen wiederholt. Tatsächlich ließen sich Maßnahmen gegen Fehlinformationen (FB-Newsroom) von Facebook, Instagram und WhatsApp gut und sinnvoll. Wir wollen Facebook den guten Willen auch gar nicht absprechen.
- Dennoch liefert der Avaaz-Bericht eine ernüchternde Erkenntnis: Nach wie vor gelingt es Facebook nicht, zuverlässig Falschnachrichten zu erkennen und zu kennzeichnen – selbst wenn diese bereits von den eigenen Factchecking-Partnern entlarvt wurden.
- Es reichen bereits minimale Veränderungen an Text oder Bild, etwa ein geringfügig anderer Zuschnitt, um Facebooks angeblich ach so intelligente Systeme zu überlisten. Dann rutscht der neue Post durch den Filter und wird nicht als Falschbehauptung markiert.
- Im Oktober kam ein Avaaz-Bericht vor den US-Wahlen zu einem ähnlichen Ergebnis. Obwohl die Organisation Facebook mehrfach darauf hinwies, hat die Plattform immer noch größere Probleme, nachweislich falsche Behauptungen zu identifizieren.
- Wenig überraschend ist es dann auch die AfD, die Facebook in Sachen Engagement dominiert. Knapp zwei Drittel aller Facebook-Interaktionen für deutsche Partei- und Fraktionsseiten entfallen auf die AfD. Am schlechtesten schneiden die Grünen ab, die mit ihren Inhalten rund 25 Mal weniger Interaktionen auslösen.
- Bei den Medien zeigt sich ein ähnliches Bild: Wer laut schreit, gewinnt. Im ersten Halbjahr 2021 hat RT DE mit seiner Facebook-Seite mehr Interaktionen erzeugt als Bild, Spiegel oder Tagesschau.
- Dafür sind vor allem die Live-Berichte über Demonstrationen der Querdenker verantwortlich. Dazu kommen eindeutig negativ konnotierte Artikel über die Impfung, die teils falsche oder irreführende Behauptungen enthielten.
- An dieser Stelle verweisen wir auf unsere ausführliche Analyse von Facebooks "Widely Viewed Content Report" in #740. Die Kontroverse um den Bericht verdeutlicht, dass man Interaktionen nicht mit Reichweite verwechseln darf – aber dass es sich Facebook auch zu einfach macht, wenn es die Zahl der Likes und Kommentare als wenig aussagekräftig abtut.
Be smart
Als wir vor ziemlich genau einem Jahr einen anderen Avaaz-Bericht vorstellten, der Facebooks Algorithmus als "Gefahr für die öffentliche Gesundheit" bezeichnete, schrieben wir:
Auch die beiden Lösungsvorschläge, die Avaaz macht, finden wir sinnvoll. Beide knüpfen an Maßnahmen an, die Facebook bereits eingeleitet hat – nach Meinung von Avaaz aber nicht weit genug gehen.
Konkret forderte Avaaz "Correct the Record" und "Detox the Algorithm". Facebook müsse Menschen, die Fehlinformationen in ihrem Newsfeed gesehen haben, spezifische Warnungen und konkrete Korrekturhinweise anzeigen. Zudem solle die Reichweite von Seiten, die wiederholt Desinformation verbreiten, konsequenter gedrosselt werden.
Und was fordert Avaaz 2021? Ganz genau: "Richtigstellungen anzeigen" und "Algorithmen brauchen einen 'Detox'". Abgesehen von der Sprache hat sich rein gar nichts geändert. In einem Jahr kann Avaaz dann vermutlich wieder genau das Gleiche schreiben, weil eh nichts passiert – spart uns Arbeit, ist aber auch ein bisschen traurig.
Follow the money
- Reddit plant Börsengang: Anfang kommenden Jahres könnte Reddit an die Börse gehen – aktuell wird die Plattform mit 10 Milliarden Dollar bewertet. Angepeilt wird ein Exit um die 15 Milliarden Dollar (Reuters).
- Mehr Musik beim Streamen: Facebook hat für Facebook Gaming allerlei Musikrechte von Major Labels geklärt (Protocol). Sinn und Zweck dahinter: Streamer sollen möglichst frei Musik nutzen können und keine Takedowns riskieren.
Audio Boom
- Voice Chat bei Roblox geplant: Vielen Eltern unter euch dürfte Roblox sowieso ein Begriff sein. Allen anderen sei gesagt: Bitte nehmt euch einmal zehn Minuten Zeit, um euch mit den wichtigsten Computer-Spielen der Kids vertraut zu machen – das ist mittlerweile alles viel, viel mehr als einfach nur ein Game. Bei Roblox kann man zum Beispiel zusammen abhängen (YouTube) oder in einer von Vans gesponserten „Welt“ eine Runde skaten gehen (Roblox). Demnächst wohl auch mit der Option, sich dort via Voice Chat relativ natürlich (read: Spatial Audio) zu unterhalten (Techcrunch). Wer würde da noch rausgehen wollen? Metaverse (#736) here we come!
Studien / Paper
- TikTok verdrängt andere Medien: Das Datenanalyse-Unternehmen Kantar hat sich umfassend mit dem Ist-Zustand der Medienlandschaft befasst. Wir hatten noch keine Zeit, den Report in vollen Umfang zu studieren. Einige Teil-Ergebnisse haben uns aber neugierig gemacht. So brüstet sich TikTok auf seiner For-Business-Seite unter anderem damit, dass die Plattform laut Studie nicht on top zu anderen Medien genutzt würde, sondern die Nutzung von TikTok zulasten anderer Medien (allen voran Fernsehen und Podcast) ginge. Das ist schon sehr spannend. Wir schauen uns das jedenfalls die Tage noch einmal genauer an.
Schon einmal im Briefing davon gehört
- Glass: Instagram hat ja verkündet, das Unternehmen sei nicht länger eine „photo-sharing app“. Nun ja. Die Zeiten ändern sich. Risikokapitalgeber wollen mehr. Immer mehr. Da muss man sich breiter aufstellen. Video und Shopping und so. Schon klar. Traurig ist es trotzdem irgendwie. Aber vielleicht ist Glass (Techcrunch) ja eine spannende neue Option, um sich der wunderbaren Welt der Fotografie zu widmen. Anders als Instagram ist Glass kostenpflichtig und bietet die Möglichkeit an, Exif-Dateien auszulesen. Ob sich Glass am Markt etablieren können, wird sich zeigen. Spannend sieht die App definitiv aus, aber ob die Welt schon bereit ist für eine kostenpflichtige Social-App? Wir haben da so unsere Zweifel.
Neue Features bei den Plattformen
Clubhouse
- Creator Commons: Aufgrund des Labor Days in den USA, haben sich die Unternehmen nicht gerade überworfen mit der Ankündigung neuer Features. Clubhouse hat jetzt eine Seite, auf der Creator alle wichtigten Infos zum Start ihrer Creator-Karriere auf einen Blick erhalten: Creator Commons. Das war es aber auch schon mit News in dieser Rubrik. In der nächsten Ausgabe garantiert wieder mehr.
One more thing
- Hyper Links: Wisst ihr eigentlich, warum Links in der Regel blau sind? Nein? Nun, das wussten wir auch nicht. Aber wer sich für nerdiges Partywissen begeistern kann, das Blog von Mozilla bietet einen lustigen Überlick dazu, wie sich #0000FF als Standard für Links etablieren konnte.
Header-Foto von Adi Goldstein
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