Wie die EU mit ihrer Regulierung das Netz prägt
Was ist
In den vergangenen Tagen sind Personalien verkündet, Kartellentscheidungen getroffen, Richtlinien verändert und Gesetzesvorschläge veröffentlicht worden, die eine Sache zeigen: Politik und Wettbewerbsbehörden nehmen zunehmend Einfluss auf den digitalen Raum – und dabei spielen insbesondere die EU und Großbritannien eine wichtige Rolle.
Warum das wichtig ist
Jahrzehntelang haben Regierungen hilflos zugesehen, wie eine Handvoll Tech-Konzerne immer mächtiger wurde. Statt das Netz mitzugestalten, schimpften und drohten sie, handelten aber selten. Den Großteil der Regeln schrieben die Plattformen selbst, und wenn sich die Politik doch mal einmischte, dann kamen eher selten sinnvolle Dinge dabei raus (wir sind schon gespannt, ob und wie es der neuen Regierung gelingen wird, jene Uploadfilter doch noch zu verhindern (Twitter / Julia Reda), die durch die EU-Urheberrechtsreform fast unumgänglich geworden sind).
DSGVO und NetzDG zeigten, dass die Politik mehr Einfluss nehmen will. Mit DSA und DMA stehen weitreichende Regulierungsvorhaben an. Und die aktuellen Ereignisse verdeutlichen, dass die EU zum entscheidenden Akteur werden könnte.
Was alles passiert ist
Wir möchten an dieser Stelle nicht jedes einzelne Ereignis analysieren, sondern lieber einen Überblick geben und Zusammenhänge aufzeigen. Deshalb verweisen wir jeweils auf detailliertere Berichterstattung, damit du bei einzelnen Themen tiefer einsteigen kannst.
1. EU will politische Werbung regulieren
- Ende November veröffentlichte die EU-Kommission einen Verordnungsvorschlag (PDF), der europaweit einheitliche Regelungen für politische Werbung vorsieht. Solche Anzeigen sollen online wie offline klar gekennzeichnet werden müssen.
- Die Initiative sieht vor, dass die Identität des Werbenden klar erkennbar sein muss. Zudem soll das Targeting eingeschränkt und besser erkennbar werden. Nutzerïnnen sollen erfahren, wenn sie personalisierte Werbung sehen, und sich über Anzeigen beschweren können, die gegen die Richtlinien verstoßen.
- Bei Netzpolitik gibt Alexander Fanta einen kompakten Überblick und erklärt, warum die bisherigen Transparenzmaßnahmen der Plattformen nicht ausreichen.
- Politico hat fünf Takeaways zusammengestellt, aus denen wir den letzten Punkt hervorheben, weil er zu unserem Oberthema passt:
EU officials hope the new political ad proposals will jumpstart other jurisdictions' efforts to similarly stop opaque paid-for messaging from spreading like wildfire ahead of national elections. (…) If Brussels can make these rules stick (…) other countries may try to piggyback on these efforts, as they too try to combat online sectarianism often fueled by digital political ads.
- Die letzte Leseempfehlung sprechen wir für den Newsletter von Katie Harbath aus, die früher Public Policy Director bei Facebook war. In der Ausgabe "United States vs Europe on Tech" (Anchor Change) analysiert sie die Vorschläge der EU-Kommission und endet mit diesem Absatz:
If I were a political advertiser in the United States I’d be watching these recommendations from Europe very closely. Should this law pass before anything in the U.S. and the platforms choose to comply rather than just shutting down political and issue ads, then I could see them extending whatever they need to do in Europe to the rest of the world.
2. Twitter setzt das Recht auf Vergessenwerden weltweit um
- Twitter weitet seine "private information policy" aus, sodass sie nun auch "private media" umfasst. Im zugehörigen Blogeintrag erklärt das Safety-Team, was sich ändert.
- Vereinfacht gesagt darf man auf Twitter künftig keine Fotos und Videos von Privatpersonen gegen deren Willen mehr teilen. Lag vor Veröffentlichung keine Zustimmung der Abgebildeten vor, wird Twitter die Inhalte wieder entfernen. Personen des öffentlichen Lebens sind davon ausgenommen, solange sie nicht beleidigt, bedroht oder anderweitig in ihren Rechten verletzt werden.
- Ein Beispiel: Bislang gab es keine Handhabe, um das Foto einer Frau in Afghanistan zu löschen, die unverschleiert in der Öffentlichkeit zu sehen – und nach der Veröffentlichung die Taliban fürchten müsste. Ab sofort kann Twitter das Bild mit Verweis auf seine Richtlinien entfernen.
- Als wir den Blogeintrag zum ersten Mal lasen, dachten wir zunächst gar nicht an die EU. Doch Casey Newton zitiert eine Twitter-Sprecherin (Platformer), der zufolge die Regelung in der EU bereits seit 2014 in Kraft gewesen sei.
- Der Grund ist das "Recht auf Vergessenwerden", mit dem die EU Privatpersonen die Möglichkeit gab, personenbezogene Daten aus dem Netz entfernen zu lassen. In diesem Zusammenhang entschied der EuGH 2014, dass Google unter bestimmten Bedingungen Presseartikel über eine Person aus seinem Index entfernen muss, wenn sie veraltete oder nicht öffentlichkeitsrelevante Informationen enthalten.
- Twitter war nicht verpflichtet, dieses Recht auch in den USA umzusetzen, wollte seine Richtlinien aber offenbar vereinheitlichen. Die Sprecherin sagt dazu mit Blick auf die Gesetzgeber in den USA: "It’s actually an interesting focus on privacy rights when Congress is unwilling or unable to do so."
- Ende Oktober beschrieb Newton bereits, wie der britische Age-Appropriate Design Code Plattformen und Produkte auf der ganzen Welt beeinflusst. Die aktuelle Entscheidung zeige erneut, dass immer mehr wichtige Digitalgesetze in Europa geschrieben würden:
Twitter is still an American company, but its policies – like the policies at more and more of its Silicon Valley peers – are beginning to immigrate from much further east.
3. Meta muss Giphy wieder verkaufen
- Die britische Wettbewerbsaufsicht CMA hat Meta aufgefordert, Giphy wieder loszuwerden – und das im ultimativen Troll-Move mit einem Gif auf Twitter verkündet. Die Hintergründe der Übernahme im Mai 2020 hatten wir damals in einem Deep Dive beleuchtet und schrieben:
Facebook kauft sich mit Giphy einen Seismograph für Netzkultur, dessen Sensoren Schwingungen und Erschütterungen in fast allen relevanten Plattformen, Messengern und Hunderten Apps aufzeichnen.
- Die CMA kam nun zum Schluss, dass Facebook mit dem Zukauf "seine bereits beträchtliche Marktmacht" steigere und den Wettbewerb im Bereich animierter Bilder ersticke. Facebook könne anderen Plattformen den Zugang zur Gif-Datenbank von Giphy verweigern.
- "Indem wir von Facebook verlangen, Giphy zu verkaufen, schützen wir Millionen von Nutzern sozialer Medien und fördern den Wettbewerb und die Innovation in der digitalen Werbung", sagt der Leiter der zuständigen Abteilung.
- Die Entscheidung ist bindend und betrifft das weltweite Geschäft, nicht nur Großbritannien. Facebook kann noch Einspruch einlegen und hat dafür vier Wochen Zeit.
- Mit der CMA ordnet zum ersten Mal eine Kartellbehörde außerhalb der USA an, eine Big-Tech-Übernahme rückgängig zu machen. Spannend ist aber nicht nur die Entscheidung an sich, sondern auch das Signal, das davon ausgeht.
- Die britischen Wettbewerbshüterïnnen sagen ihren US-Kollegen damit eindeutig: Es war ein Fehler, dass ihr Facebook 2012 und 2014 erlaubt habt, Instagram und WhatsApp zu kaufen – und schafft damit auch einen Präzedenzfall für ähnliche Übernahmen.
- Am Ende eines längeren Textes, der einen guten Überblick über die möglichen Auswirkungen der Entscheidung gibt, zitiert Protocol den Anwalt des Thinktanks Public Knowledge:
For the longest time, vertical deals were just kind of waved through. That’s very much changing, and I think that’s a really good thing and something that I hope U.S. enforcers take note of.
4. Metas Krypto-Chef geht
- Während sich Square in Block umbenennt (weil: Blockchain) und Meta die Richtlinien für Kryptowerbung lockert, verlässt mit David Marcus der Ober-Krypto-Guru den Konzern (TechCrunch).
- Wir kennen die Hintergründe der Personalie nicht. Womöglich hat Marcus nach sieben Jahren bei Facebook und Meta einfach nur Lust auf neue Herausforderungen, dem Vernehmen nach im Bereich der Kryptowährungen (The Information).
- Sein Abschied wirft aber ein Schlaglicht auf ein Projekt, das Investorïnnen vor zwei Jahren noch als "eines der wichtigsten Projekte in Facebooks Geschichte" bezeichneten (#556) – und über das wir im vergangenen Jahr schrieben (#646):
Libra war und ist eines der (über)ambitioniertesten Projekte in Facebooks Firmengeschichte. Das Potenzial ist gewaltig, aber das gilt auch für die Hürden und Probleme, die Facebook überwinden muss. Offenbar hat es Facebooks Blockchain-Chef David Marcus bislang nicht geschafft, Regulatorïnnen, Kartellwächterïnnen, Notenbanken und Regierungen von Libra zu überzeugen.
- Mit Libra wollte Facebook einen eigenen Stablecoin (eine wertstabile Kryptowährung) und mit Calibra einen Wallet schaffen. Zum Start holte man rund 30 Unternehmen und Organisationen an Bord, unter anderem Mastercard, Paypal, Stripe und Visa.
- Doch Facebook hatte offenbar nicht mit dem massiven Widerstand gerechnet, der dem Projekt aus Finanzbranche, Notenbanken, Kartellbehörden und Regierungen entgegenschlug. Sukzessive wurden die Ambitionen zurückgefahren, die Währung an den Wert des Dollar gekoppelt, der Start immer wieder verschoben und der Name in Diem (Währung) bzw. Novi (Wallet) geändert.
- In seiner Unternehmensgeschichte hat Facebook zwar immer wieder große Projekte in den Sand gesetzt (erinnert sich noch jemand an das HTC First, besser bekannt als Facebook Phone?), doch das lag meist an eigenen Fehlern.
- Auch bei Libra machte Facebook einiges falsch, doch entscheidend dürfte der erbitterte Widerstand sein, der sich regte. Besonders entschieden stellten sich mehrere EU-Finanzminister dem Projekt entgegen, auch die EZB warnte vor Libra und brachte stattdessen einen digitalen Euro ins Spiel.
Be smart
Wir halten Big Tech nicht für böse. Wir glauben nicht mal, dass die Konzerne ihre Macht ständig aktiv und bewusst missbrauchen. Doch angesichts der Machtkonzentration im Silicon Valley ist es schon problematisch genug, dass sie ihre Macht gebrauchen und damit viele Entscheidungen allein treffen, bei denen Politik, Justiz und Nutzerïnnen ein Mitspracherecht haben sollten.
Regulierung made in Europe ist ein guter Anfang, um ein offeneres und vielfältigeres Netz zu schaffen. Doch allzu scharfe (Datenschutz-)Regulierung birgt immer auch die Gefahr, die bestehenden Machtverhältnisse zu zementieren. Das hat sich etwa bei der DSGVO gezeigt, die viele Start-ups härter traf als Facebook und Google. Wir hoffen, dass DSA und DMA mehr Wettbewerb schaffen – vielleicht schreiben wir dann 2025 nicht immer nur über US-Konzerne, sondern auch über eine europäische Plattform.
Lectures 2022 – die ersten Termine
Liebe Kollegïnnen, wir sind jetzt mit Blick auf die Lecturs im neuen Jahr bereits einen Schritt weiter und können voller Stolz die ersten Termine bekannt geben:
- 13.1.2021 | Dirk von Gehlen: Memes und ihre Bedeutung für die Kommunikation | Anmeldungslink
- 3.2.2021 | Daniel Fiene: Gründen im Journalismus | Anmeldungslink
- 3.3.2021 | Lisa Zauner & Vanessa Beule: Wie tickt die Generation Alpha? | Anmeldungslink
- 7.4.2021 | Ann-Katrin Schmitz: Erfolgreich auf Instagram | Anmeldungslink
Um an den Terminen dabei zu sein, trägst du dich bitte jeweils in die entsprechende Liste (siehe Anmeldungslink hinter dem Termin) mit genau jener E-Mail-Adresse ein, mit der auch das Briefing empfangen wird. Andere Adressen können leider nicht berücksichtigt werden. Für die Lecture mit Dirk im Januar haben sich übrigens bereits 131 Kollegïnnen angemeldet – das wird ein Fest!
Die Lectures finden stets via Zoom von 17:00 – 18:00 Uhr. Der Link zum Call wird am Tag der Veranstaltung verschickt – Anmeldefrist ist jeweils 12:00 Uhr am Tag der Lecture.
Zunächst geben die Referentïnnen einen Überblick zum Thema, dann wird es stets noch Zeit für ein Q&A geben. Alle Abonenntïnen (egal ob via Steady oder Firmen-Abo) sind eingeladen, an den Lectures kostenfrei teilzunehmen.
Wir freuen uns wirklich schon sehr auf die Veranstaltungen! Each one teach one!
Header-Foto von Patrick Tomasso