Was ist:
Wir wissen nicht, wie es euch so geht, aber für uns fühlt es sich gerade nach Zeitenwende an. Die alte Social-Media-Welt wird langsam, aber sicher von etwas Neuem abgelöst. Dabei geht es nicht so sehr um die Konzerne, die hinter den Apps stecken, die Milliarden Menschen Dutzende Male pro Tag auf ihren Smartphones öffnen. Es geht vielmehr darum, wie wir als Gesellschaft Social Media nutzen. Und damit auch um die Frage, wie wir als Kommunikationsprofis soziale Medien nutzen können, um uns Gehör zu verschaffen.
Was war
Als Steve Jobs 2007 das iPhone vorstellte, ahnte kaum jemand, wie sehr sich die Beschreibung „a revolutionary mobile phone“ bewahrheiten sollte. Die Erfindung des Smartphones hat revolutioniert, wie wir uns informieren, miteinander kommunizieren, diskutieren, Erlebnisse teilen, navigieren, bestellen und konsumieren. Menschen nutzen das Netz nicht mehr stationär, sondern haben es immer in der Hosentasche dabei.
Der entscheidende Unterschied: Wir nutzen auf unseren digitalen Endgeräten mehrheitlich nicht das offene World Wide Web, sondern ein Netz im Netz – geprägt durch die kommerziellen Interessen der Anbieter.
Wenn Menschen das Netz nutzen, dann tun sie das meist in den Ökosystemen von Meta (Facebook, Instagram, WhatsApp, Messenger), Alphabet (Google, YouTube), Amazon (Amazon, Twitch) oder ByteDance (TikTok). Fair enough.
Diese Konzerne sind nicht angetreten, um die Welt zu einem besseren, klügeren, bunteren, schöneren, gerechteren, nachhaltigeren Ort zu machen. Manches davon mag zu den ursprünglichen Ideen gehört haben. Vielleicht war es auch immer nur PR. Heute ist Big Tech aber vor allem den Investoren verpflichtet – Wachstum als Hauptzweck.
Wachsen können die Unternehmen allerdings nur, wenn sie Nutzerïnnen möglichst oft und lange auf die Plattformen bekommen. Nur so können sie die Aufmerksamkeit mit Anzeigen monetarisieren. Die Frage ist also: Wie schaffen sie das? Die simple Antwort: über Inhalte. Nur wenn Menschen bereit sind, auf den Plattformen Inhalte zu teilen, gibt es für andere eine Motivation, die Apps zu nutzen. Die Plattformen selbst schaffen keine Inhalte. Ohne Inhalte, kein Incentive.
Facebook, Instagram und Co sind auf Inhalte von Nutzerïnnen angewiesen. Für die Plattformen ist es dabei erst einmal egal, welche Inhalte das sind. Solange sie den Community-Standards entsprechen, ist die Hauptsache, dass sie bei anderen Nutzerïnnen verfangen.
Eine Reportage der New York Times ist genau so viel wert wie die Hochzeitsfotos der Cousine. Es kommt nur darauf an, womit du als Nutzerïn deine Zeit verbringen möchtest. Kommunikation wird kommodifiziert. Alles wird zu Ware. Alles steht miteinander im Wettbewerb um Aufmerksamkeit.
Was ist
Über lange Zeit hat diese Herangehensweise für die Plattformen gut funktioniert. Privatpersonen, Brands, Politiker, Stars, Influencer, Institutionen – alle trachteten auf den Plattformen nach Aufmerksamkeit. FOMO Galore. Wenn wir nicht mitmachen, füllen andere gern die Lücke. Doch diese Zeit ist vorbei. Wir erleben einen Vibe Shift:
- Private Userïnnen verlagern ihre Kommunikation in geschlossene Räume. Die Zeiten, in denen Menschen von ihrem Kinobesuch bei Facebook erzählten, sind vorbei. Auch teilt kaum noch jemand seine Urlaubserlebnisse bei Insta. Private Kommunikation findet in Messengern und Gruppen statt. Öffentliche Feeds sind Medienprofis vorbehalten.
- Öffentliche Feeds werden zunehmend passiv genutzt. Geteilt, kommentiert und diskutiert wird in Messengern. Feeds dienen ausschließlich dem Konsum.
- Dein Netzwerk verliert an Bedeutung für die Auswahl der Inhalte. Wenn immer weniger Menschen Dinge auf Facebook / Instagram teilen, dann braucht es einen größeren Pool an Content, auf den die Plattformen zurückgreifen können. Der Social Graph ist nicht mehr ausschlaggebend. TikTok hat diese Entwicklung am besten antizipiert und die App so aufgesetzt, dass sie komplett ohne Followings funktioniert. Es ist egal, ob und welchen Accounts Userïnnen folgen. TikTok ist nur daran interessiert, was du dir anschaust. Nicht, wem du folgst. Community ist Nebensache. TikTok, Reels und YouTube Shorts sind eher eine Art zeitgemäßes Fernsehen als soziales Medium. Mit der Ausnahme, dass jeder versuchen kann, 15 Sekunden Fame zu ergattern.
Sam Lessin hat diese Entwicklung vor einigen Wochen in einem Tweet auf den Punkt gebracht:
- The Pre-Internet ‘People Magazine’ Era
- Content from ‘your friends’ kills People Magazine
- Kardashians/Professional ‘friends’ kill real friends
- Algorithmic everyone kills Kardashians
Was kommt
Ich (Martin) durfte diese Woche bei zwei Veranstaltungen zur Entwicklung von Social Media referieren. Bei den anschließenden Diskussionen wurde deutlich, wie groß die Verunsicherung aktuell ist.
- Lohnt sich der Facebook- Instagram-Auftritt noch, wenn dort künftig das mühselig aufgebaute Following noch weniger wert sein könnte? (Siehe Briefings #794 & #802: Die TikTokisierung von Facebook und Instagram und Discovery Engine: Warum sich Facebook fundamental verändern könnte)
- Müssen wir jetzt auf TikTok, obwohl uns Datenschutz und Sicherheit Bauchschmerzen bereiten? (Siehe Briefing 826: Konkurrenz? Krise? TikToks größtes Problem ist China)
- Braucht es eine Kurzvideo-Abteilung? Oder ist das einfach nur der nächste „Pivot to Video“ und schon bald erfahren wir, dass der Hype einen Umbau der Redaktion doch nicht wert war? (Siehe Ausgabe #496: Facebook und der Pivot to Video)
- Wie können wir Menschen auf Messengern abholen? Und sollten wir das überhaupt? Oder sollten wir sie lieber in Ruhe lassen und dort nicht auch noch mit unseren Botschaften „beglücken“? (Siehe Briefing: Digitales Lagerfeuer: Warum Messenger, Micro-Communities und Shared Experiences boomen)
Wir wollen von euch hören
Das Social Media Watchblog wird von 4500 Social-Media-Profis aus den unterschiedlichsten Branchen gelesen. Wir würden gern hören, wie ihr mit den Herausforderungen umgeht. Was macht der Vibe Shift mit euch?
Wären wir auf YouTube, würden wir sagen: Schreibt es uns in die Kommentare. Da wir aber einen Newsletter verschicken, freuen wir uns über eine Antwort auf diese Mail – wir behandeln die Antworten natürlich vertraulich. Es geht nicht darum, euch in einer der kommenden Ausgaben zu zitieren. Wir möchten von euch lernen, von euch erfahren, wie ihr die Situation einschätzt. Dass uns so viele Profis lesen, ist ein Schatz. Wir haben ihn bislang selten gehoben. Es wäre ein echter Gewinn, eure Sicht der Dinge zu erfahren.
Header-Foto von Hiep Duong
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