Es gibt Gut und Böse
- Unser erster Punkt hat nur indirekt mit Social Media zu tun.
- Normalerweise versuchen wir, allzu eindeutige Zuschreibungen und Urteile zu vermeiden. In Zeiten von Donald Trump ist das nicht immer möglich, aber grundsätzlich halten wir es für eine gute Idee, zumindest die Möglichkeit mitzudenken, dass der andere recht haben könnte.
- In diesem Krieg gibt es aber wenig Grau, die Realität ist schwarz und weiß. Russland betreibt keine "Friedenssicherung", der Angriff auf die Ukraine ist eine Invasion. Wladimir Putin ist bereit, Kyiv in Schutt und Asche zu legen, und nimmt Tausende zivile Opfer in Kauf, um seine Macht zu vergrößern.
- Selten sind bei politischen Ereignissen die Rollen so eindeutig verteilt. Das, und damit kommen wir wieder zu unserem Thema, beeinflusst auch das Verhalten der Plattformen.
- Die haben binnen weniger Tage eine Fülle von Maßnahmen ergriffen, die sich vor einer Woche noch niemand vorstellen konnte. Casey Newton drückt es so aus (Platformer):
At a time of plummeting trust in institutions, the collective force of these actions has been profound. There may be no greater depolarizing force on earth than a common enemy, and Russia’s murderous and erratic autocrat has given us one.
All of this is critical, I think, to understanding the moves platforms have made (and resisted making) over the past four days, and of the way the war has been received on those platforms. It is exceedingly rare to witness an event of such global importance in which the forces of good and evil are so clearly delineated. Everything we have seen on tech platforms so far is downstream of that.
Meta nimmt seine Verantwortung ernst
- Am Dienstagabend waren wir in einem Call mit Nick Clegg, Guy Rosen und Monica Bickert. Eigentlich sollten die Meta-Managerïnnen drei Berichte vorstellen: den Community Standards Enforcement Report, den Widely Viewed Content Report (beide Meta Transparency Center) und das Facebook Oversight Update für das vergangene Quartal (PDF).
- Tatsächlich ging es fast ausschließlich um die Ukraine. Bislang haben wir über das Thema nicht mit Google/YouTube, Twitter oder TikTok gesprochen. Wir vermuten aber, dass diese Plattformen ihre Rolle ähnlich sehen wie Meta.
- In dem dreiviertelstündigen Gespräch erklärten Clegg, Rosen und Bickert, welche Maßnahmen Meta aus welchen Gründen getroffen hat – und welche nicht. Das Unternehmen steht demnach in direktem Kontakt mit der ukrainischen Regierung und kommuniziert per E-Mail über das Vorgehen.
- Eine ständig aktualisierte Übersicht der Maßnahmen findet sich im Newsroom. Unter anderem wurde in der EU der Zugriff auf RT und Sputnik beschränkt sowie mehrere Desinformationsnetzwerke abgeschaltet.
- Russische Staatsmedien verdienen auf Facebook und Instagram kein Geld mehr mit Werbung, ihre Inhalte werden algorithmisch gedrosselt, auch Links auf ihre Domains erhalten weniger Reichweite. Künftig sollen Labels zu Kennzeichnung folgen, wie Twitter sie bereits eingeführt hat. Zudem können Menschen in Russland und der Ukraine über Instagram Ende-zu-Ende-verschlüsselt chatten.
- Es wurden Forderungen aus der Ukraine laut, Meta möge Facebook, Instagram und WhatsApp in Russland komplett abschalten. Clegg entgegnet dem, dass die Plattformen Menschen in Russland auch helfen könnten, sich unabhängig zu informieren und ihre Meinung zu äußern.
- Wir sprechen kein Russisch und können nicht einschätzen, ob Social Media in Russland derzeit eher zu Propaganda und Desinformation genutzt werden, oder ob sie, wie Clegg sagt, eine Ressource für Informationen jenseits der staatlichen Medien sind.
- Grundsätzlich können wir die Haltung aber nachvollziehen. Plattformen komplett abzuschalten, die Millionen Menschen nutzen, erscheint uns nicht verhältnismäßig und kontraproduktiv.
- Zumal es bislang so aussieht, als verlöre Russland in sozialen Medien die Deutungshoheit über den Krieg. Das kann aber auch unserer westlichen Perspektive geschuldet sein, was in russischsprachigen Facebook-Gruppen abgeht, bekommen wir nicht mit.
- Insgesamt dreimal fiel der Satz: "Wir sind ein Unternehmen, keine Regierung." Meist gefolgt von einer Ergänzung wie: "Die Situation ist beispiellos und grauenhaft, das erfordert außergewöhnliche Maßnahmen."
- Beide Feststellungen sind richtig. In der Theorie halten wir es für falsch, dass Konzerne wie Meta solche Entscheidungen mit weitreichenden politischen und gesellschaftlichen Implikationen allein treffen. Darauf gehen wir im nächsten Punkt genauer ein.
Der Krieg zeigt die Macht und Ohnmacht der Plattformen
- Wenn sich Menschen umbringen, sind soziale Medien erst mal egal. Alle Tech-Konzerne der Welt zusammen können nichts tun, wenn Putin seine Truppen losschickt.
- Gleichzeitig verdeutlicht der Krieg, wie zentral Plattformen für Kommunikation und Informationsbeschaffung sind.
- In den vergangenen Jahren wurde Facebook und Twitter meist vorgeworfen, der Demokratie zu schaden, zu Polarisierung beizutragen oder zu wenig gegen strafbaren Hass und Desinformation zu unternehmen.
- Nicht alle Vorwürfe waren fair. Doch es ist ziemlich unstrittig, dass insbesondere Facebook seiner Verantwortung in Ländern wie Myanmar, Indien oder der arabischen Welt oft nicht gerecht geworden ist.
- In der Ukraine offenbart sich, dass globale Kommunikationsplattformen auch anders wirken können: pro-demokratisch statt gesellschaftszersetzend, aufklärend statt desinformierend.
- Dazu tragen die Konzerne auch selbst bei. Fast alle großen Plattformen sperren RT und Sputnik, Google schaltet Live-Verkehrsdaten aus der Ukraine ab, Reddit friert r/Russia ein, Microsoft hilft bei der Abwehr gegen Cyberangriffe, Netflix widersetzt sich Anweisungen aus Russland, Threema kostet in der Ukraine nur noch einen halben Cent.
- Auch ohne alle Maßnahmen einzeln zu analysieren, dürfte die Tendenz klar werden: Tech-Konzerne sind zu handelnden Akteuren geworden, statt sich auf ihre Rolle als angeblich neutrale Plattformen zu berufen und nichts zu tun, wie es in der Vergangenheit oft geschah.
- Inhaltlich sind diese Entscheidungen richtig. Doch Nick Clegg spricht einen wichtigen Punkt an, wenn er sagt, dass Meta eben keine demokratisch legitimierte Regierung ist – und damit die Frage aufwirft, ob ein privater Konzern solche Entscheidungen treffen sollte.
- Als Twitter vor gut einem Jahr Trump rauswarf, schrieben wir:
Wenige Menschen kontrollieren die wichtigsten Kommunikationsplattformen der Welt. Eine Handvoll weißer Männer bestimmt, was im Netz gesagt werden darf. Plattformen sind mächtiger als viele Regierungen, Konzerne kontrollieren den Zugang zu Informationen und ziehen die Grenzen der Redefreiheit.
- Der Krieg in der Ukraine zeigt erneut, wie bedenklich die Macht der Plattformen ist. Die Politik hat es versäumt, für solche Situationen Institutionen zu schaffen, die demokratische Kontrolle garantieren (Twitter / Evelyn Douek).
- Deshalb betrachten wir das Durchgreifen mit gemischten Gefühlen. Das Ergebnis mag gut sein, aber der Prozess ist problematisch.
Social Media dienen zur Mobilisierung und Aufklärung
- Die Befürchtung lag nahe, dass der Krieg am Boden mit einer Propagandaschlacht im Netz einhergehen würde, bei der Russland die Oberhand behält. Schließlich haben russische Akteure jahrelang Erfahrung gesammelt, wie sie Gerüchte verbreiten und Unruhe stiften.
- Zumindest im englischsprachigen Teil des Netzes und in westlichen Medien zeigt sich bislang ein anderes Bild (Washington Post). Die Menschen in der Ukraine und ihre Unterstützerïnnen scheinen auf Facebook, Twitter, TikTok und Telegram den Ton anzugeben.
- Hunderttausende Freiwillige schließen sich einer "IT-Armee" (Wired) an und organisieren auf Telegram Hackerangriffe und Abwehrmaßnahmen. Der offizielle Twitter-Account der Ukraine bat um Spenden in Kryptowährungen, bislang sind mehr als 20 Millionen Dollar zusammengekommen.
- Etliche Heldengeschichten verbreiten sich in sozialen Medien und machen der Bevölkerung Mut: ein ukrainischer Segler versuchte, die Yacht eines Oligarchen zu versenken (Guardian); Hacker, die auf russischen Ladesäulen für Elektroautos die Botschaft "PUTIN IS A DICKHEAD" erscheinen ließen (Vice); Soldaten, die einem überlegenen russischen Kriegsschiff mitteilen: "go fuck yourself" (und entgegen anderslautender Berichte offenbar am Leben sind (CNN)).
- Expertïnnen erklären (Twitter / Michael Kofman) in langen Threads (Twitter / Ian Garner) die russische Kriegs- und Social-Media-Taktik (Kamil Galeev). Twitter-Listen feiern ein Comeback als mächtiges Werkzeug, um jede Menge Fachwissen zu bündeln (500ish).
- Der Teenager, der mit einem Twitter-Bot die Flüge der Privatjets von Elon Musk verfolgte, hat zwei neue Bots programmiert (Spiegel). Sie zeigen, wo die Flugzeuge und Helikopter russischer Oligarchen unterwegs sind – und wo Putin fliegen könnte.
- Menschen nutzen Rezensionen von russischen Restaurants und Geschäften auf Google Maps für versteckte Botschaften. Statt Speisen und Service kommentieren sie den Angriffskrieg gegen die Ukraine (Netzpolitik). Das soll russische Zensur umgehen und die dortige Bevölkerung aufklären.
- Das wohl eindrücklichste Beispiel liefert der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. Er bespielt Telegram, Facebook, Instagram und Twitter, seine wichtigste Waffe sind Videobotschaften. Damit wendet er sich an seine eigene Bevölkerung, aber auch an Menschen in Russland – und an die weltweite Öffentlichkeit.
- Dieses Vorgehen scheint Wirkung zu zeigen (NYT):
Mr. Zelensky’s actions and the tough resistance efforts from ordinary Ukrainian men and women — slowing down the Russian advance and volunteering to fight with automatic weapons — have also had an important impact on European opinion, European officials say, making it easier for their leaders to be bolder and to more freely accept refugees coming their way from Ukraine.
- Johannes Hillje kommentiert Selenskyjs Botschaften so (ntv):
Militärisch ist Russland überlegen. Aber im kommunikativen Bereich agiert Selenskyi derart clever, dass er durch die Motivation seiner Leute, die Aufklärung russischer Bürger und die Druckausübung auf westliche Länder, seinen militärischen Nachteil bislang ein Stück weit ausgleichen kann. Selenskjy liefert ein Meisterstück der strategischen Kommunikation.
TikTok wird politisch – und gefährlich
- Als wir uns kürzlich ausführlich mit TikTok beschäftigten, schrieben wir (#777):
"Wir wollen eine Entertainment-Plattform sein", diesen Satz sagte TikTok-Chef Tobias Henning ungefähr ein halbes Dutzend Mal, als wir im vergangenen Jahr mit ihm sprachen. "Drei Viertel unserer Nutzerinnen und Nutzer sagen, dass sie zu Tiktok kommen, um sich unterhalten zu lassen." Politik findet auf TikTok statt, aber sie wird dort bestenfalls geduldet und nicht gefördert. Man hat aus dem abschreckenden Beispiel gelernt, das Plattformen wie Facebook vorgelebt haben: Politische Inhalte machen in erster Linie Ärger, Comedy-Clips, Tanz-Videos und Koch-Tutorials sind pflegeleicht und lukrativ.
- Zwei Wochen später hat sich die Situation drastisch verändert. Für seichte Unterhaltung ist kaum noch Platz, TikTok ist zu einer der wichtigsten Plattformen des Kriegs geworden.
- Wir haben seit dem vergangenen Freitag selbst noch nicht genug Zeit auf TikTok verbracht, um selbst einordnen zu können, was dort geschieht. Deshalb verweisen wir für den Moment auf drei Texte, die beleuchten, wie TikTok Desinformation verstärken können.
- "War TikTok is a mess | Social media platforms are amplifying misinformation on the Russian invasion of Ukraine." (Vox)
- "TikTok Was Designed for War | As Russia’s invasion of Ukraine plays out online, the platform’s design and algorithm prove ideal for the messiness of war—but a nightmare for the truth." (Wired)
- "War via TikTok | Russia's new tool for propaganda machine" (CBS)
Der Krieg setzt sich im Netz fort
- Desinformation gibt es natürlich nicht nur auf TikTok. Russland flutet Netzwerke mit Propaganda und Fakes (Axios), manipulierte Bilder und Videos sollen Verunsicherung stiften (Tagesschau).
- Gleichzeitig zeichnen russische Staatsmedien ein verzerrtes Bild (Tagesschau), verschweigen Opfer und Verluste und verbreiten Lügen. Bestimmte Begriffe sind verboten, statt von Krieg soll von einer "Spezialoperation" gesprochen werden. Die Reporter ohne Grenzen sprechen deshalb von Zensur.
- Anonymous greift russische Infrastruktur mit gezielten Hacks an (Riffreporter), das könnte Vergeltungsschläge russischer Hacker nach sich ziehen (Zeit). Es droht ein globaler Cyberwar (Protocol).
- Der CCC und Anonymous selbst warnen vor Angriffen auf kritische Infrastruktur (Netzpolitik), die eine Eskalation nach sich ziehen könnte. "Das würde dann sehr schnell sehr gefährlich, weil Staaten auf derartige Angriffe mit militärischer Logik reagieren", sagt CCC-Sprecher Linus Neumann.
- Russland und die Ukraine mögen sich im Netz bekämpfen (SZ). Der IT-Sicherheitsexperte Dmitrij Alperowitsch glaubt aber nicht (SZ), dass die digitalen Gefechte großen Einfluss auf den realen Krieg nehmen werden:
Cyber ist ein wichtiges taktisches Werkzeug, aber du benutzt es nur, wenn du es brauchst – und die Russen brauchen es in diesem Fall nicht, um erfolgreich zu sein. Sie nerven die Ukrainer damit einfach nur.
- Um einen Stromausfall herbeizuführen, kann Russland mit großen technischem Aufwand Hacker einschleusen – oder einfach ein Umspannwerk bombardieren.
- Alperowitsch warnt aber davor, dass Russland Cyberangriffe nutzen könnte, um es dem Westen heimzuzahlen, der die Ukraine unterstützt. Er rechnet etwa mit Attacken auf den Energiesektor in Europa und den Finanzsektor in den USA. Sein Fazit klingt düster:
Was bisher passiert, ist nur ein Vorspiel zu einer massiven Eskalation. Die Russen dachten törichterweise, dass sie schnell mit sehr kleinen Einheiten angreifen könnten, die Ukrainer keinen Widerstand leisten und sich ergeben würden. Das hat sich bitter gerächt. Die Angreifer werden nun zur traditionellen Doktrin zurückkehren: mit schwerem Gerät und überlegener Feuerkraft reingehen. Das wird leider zu vielen zivilen Toten führen.
Be smart
Was gerade geschieht, fühlt sich surreal an. Ich (Simon) war die vergangene Woche auf einem Seminar und komplett offline. Als ich losfuhr, war die Welt noch so normal, wie sie während einer Pandemie sein kann. Als ich zurückkam, war Krieg.
Das überfordert nicht nur mich, sondern fast alle Menschen, die wir kennen. Deshalb empfehlen wir dir zum Abschluss einen Podcast von Isabell Prophet (die vor vielen Jahren auch Teil des Watchblog-Teams war), den sie so beschreibt:
Nachrichten und Social Media sind nicht gemacht, um euch zu informieren. Sie sind nicht gemacht, damit ihr ein gutes Leben führt. Nachrichten und Social Media sind Systeme, die sich selbst füttern und ihr füttert sie auch. Ich kenne mich berufsbedingt mit beidem extrem gut aus. Wie ihr so mit ihnen umgeht, dass ihr gut durch diese Zeit kommt, informiert bleibt, euch aber nicht niederdrücken lasst, erkläre ich in der neuen Folge RUSH HOUR.
Du kannst die 13-minütige Folge hören oder nachlesen. Isabell hat das Transkript online gestellt. Darin stecken viele spannende Gedanken zu gesundem Nachrichtenkonsum und dem Umgang mit Social Media:
Es braucht eine gewisse Disziplin, für einige Stunden die Finger von den Nachrichten zu lassen. Ich rate euch dringend, alle Push-Nachrichten zu deaktivieren. Und dann schafft euch News-Freie Zeitzonen. Das Gehirn braucht Leerlauf, um Informationen zu sortieren und Gefühle zu verarbeiten. Schaut ihr immer auf Social Media oder in die Nachrichten, wenn ihr kurz Zeit dazu habt, dann fühlt sich das zwar einfach an, es macht aber die Psyche kaputt. Weil das Gehirn keine Zeit mehr bekommt, zu verarbeiten. Es muss aber verarbeiten.
Header-Foto von Max Kukurudziak
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