Salut und herzlich Willkommen zur 555. Ausgabe des Social-Media-Watchblog-Briefings. Heute blicken wir sehr ausführlich auf den Digital News Report und den Internet Trends Report. Warum wir das machen? Nun, die Studien sind ein ziemlich guter Realitätscheck. Zudem beschäftigen wir uns mit Livestreaming, Selfies in Tschernobyl und Tipps und Tricks, wie man relevante Inhalte auf Social findet. Wir wünschen ein großartiges Wochenende, Simon & Martin

[line]
[gap size=“40px“]

Was drei Studien über (soziale) Medien sagen

Was ist: In den vergangenen Tagen sind drei Studien erschienen, die untersuchen, wie Menschen Medien nutzen und in welche Richtung sich das Netz entwickelt: der Digital News Report des Reuters Institute in Oxford, Mary Meekers Internet Trends Report und b4p Trends, eine Studie der Gesellschaft für integrierte Kommunikationsforschung.

Warum das wichtig ist: Menschen neigen dazu, den Ausschnitt der Realität, den sie selbst wahrnehmen, zu verabsolutieren: Instagram – wie soll man da denn Nachrichten finden? Facebook – ist doch schon lange tot. Digitale Abos – na klar, ich habe gleich mehrere. Diese Aussagen wären in meiner Bubble mehrheitsfähig – und sind im Netz eine Nische.

Wer sein Geld in der Medienbranche verdient oder mit sozialen Netzwerken arbeitet, muss lernen, die eigene Wahrnehmung nicht zu hoch zu hängen. Der Nutzer™ tickt meist ganz anders. Diese großangelegten, jährlich erscheinenden Studien sind ein guter Realitätscheck. Gerade im Netz verschieben sich die Machtverhältnisse schneller als die meisten Verlage "Geschäftsmodell" sagen können, wie diese Animation von The Next Web eindrücklich zeigt.

Was die Studien besagen: Ich fange mit den b4p Trends an, weil das am schnellsten geht: Viele Menschen halten Falschnachrichten für gefährlich, vertrauen deutschen Medien, und das Fernsehen bleibt die wichtigste Informationsquelle. Klingt bekannt? Ist es auch, zu solchen Erkenntnissen kommt etwa die ARD/ZDF-Onlinestudie seit Jahren.

Ansonsten würde ich nicht allzu viel auf die Ergebnisse geben: Insgesamt wurde nur 1000 Menschen befragt, diese Stichprobe wurde teils nochmal für bestimmte Regionen und Altersgruppen aufgeteilt. Da wird es schnell dünn mit Reliabilität und Validität. Außerdem setzt sich der Forscherkreis ausschließlich aus Verlagsvertreterïnnen zusammen. Und Wissenschaftlerïnnen, die im Jahr 2019 ihre Pressemitteilung und die Studie selbst (PDF) mit dem Begriff "Fake News" beginnen, ohne ihn in Anführungszeichen zu setzen oder einzuordnen, kann ich nur halb ernst nehmen.

 

Reuters Digital News Report

Auch wenn das Geld für die Forschung unter anderem von Google kommt, mache ich mir keine Gedanken über die Unabhängigkeit und Aussagekraft der Untersuchung. Der Digital News Report ist die vermutlich wichtigste Studie zum Mediennutzungsverhalten und sollte Pflichtlektüre für Journalistïnnen sein.

Zum Glück bereitet das Reuters Institute die Ergebnisse übersichtlich auf: Hier fasst der Studienleiter zentrale Erkenntnisse zusammen. Außerdem gibt es interaktive Grafiken, Erläuterungen zur Methodologie und eine Übersicht nach Ländern. Für den deutschen Part sind Sascha Hölig und Uwe Hasebrink vom Hans-Bredow-Institut zuständig, die ihre Forschungsergebnisse auch auf Deutsch veröffentlichen.

Die wichtigsten Fakten im Überblick (alle Zahlen globale, es sei denn, einzelne Länder sind genannt):

  • Die Zahlungsbereitschaft für digitalen Journalismus ist gering. Wenn überhaupt, schließen Menschen nur ein kostenpflichtiges Abo ab. Das sind schlechte Nachrichten für kleinere Verlage wie Lokal- und Regionalzeitungen, die gedruckt oft noch als Komplementärmedien abonniert wurden.
  • In Deutschland zahlen gerade einmal acht Prozent der Befragten für Online-Journalismus (in Skandinavien ist es etwa ein Drittel der Bevölkerung). Das gleicht die Verluste beim Printgeschäft nicht aus.
  • Netflix und Spotify sind direkte Konkurrenten im Kampf um die Aufmerksamkeit und ums Geld: Statt für Journalismus-Abos entscheiden sich viele Menschen für Unterhaltung.
  • Facebook verliert etwas an Bedeutung – bleibt aber nach wie vor das wichtigste soziale Netzwerk, um Nachrichten zu konsumieren. Totgesagte leben länger.
  • "Konsumieren" führt in dem Zusammenhang leicht in die Irre: Die meisten Nutzerïnnen suchen nicht gezielt nach journalistischen Inhalten, sondern stoßen zufällig darauf. Sie haben keine Informationsstrategie, die Bindung zu Medienmarken nimmt ab.
  • In Deutschland ist in der Altersgruppe der 18-24-Jährigen erstmals Instagram die wichtigste Informationsplattform. 23 Prozent finden dort auch Nachrichten. (Jörgen Camrath macht dazu ein paar kluge Anmerkungen – auf Facebook.)
  • Der wichtigste Weg zu Medienangeboten bleibt in allen Altersgruppen der direkte Zugriff auf die Webseite. Mehr als ein Drittel der Befragten nutzen diese Möglichkeit am häufigsten.
  • In Ländern wie Brasilien und Südafrika ist Whatsapp die wichtigste Plattform, um sich zu informieren und über Nachrichten auszutauschen. Die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung ist gut für die Privatsphäre der Nutzerïnnen – und könnte gefährlich werden, weil sich in diesen Echokammern Gerüchte und Falschnachrichten, ohne dass jemand etwas davon mitbekommt.
  • Je höher die Bildung, desto größer das Vertrauen in die Medien. Für Journalistïnnen heißt das: Sie müssen sich noch mehr Mühe geben, Inhalte so aufzubereiten, dass sie für alle verständlich sind. Elitäre Akademikerdiskurse helfen nicht weiter.
  • Ein Drittel der Befragten meidet Nachrichten ganz aktiv. Der Nachrichtenkonsum mache ihnen schlechte Laune und löse ein Gefühl der Hilflosigkeit aus.
  • Zwei Drittel der Befragten nutzt regelmäßig das Smartphone, um journalistische Inhalte zu konsumieren. Aggregatoren wie Apple News, Google Discover und Upday gewinnen an Bedeutung. In den USA erreicht Apple News mehr iPhone-Nutzerïnnen als die Washington Post.
  • Der Podcast-Hype ist real: Mehr als ein Drittel hat im vergangenen Monat mindestens einen Podcast gehört, bei den Unter-35-Jährigen sind es die Hälfte. Auch Smart-Speaker wie Amazon Echo und Google Home gewinnen an Bedeutung.

 

Internet Trend Report

Im vergangenen Dienstags-Briefing fragte Martin: "Wie glaubhaft ist eigentlich so ein Trend-Report, wenn das Unternehmen, das den Report liefert, selbst in Twitter, Snap, Uber, Square, Spotify, Stripe, Slack, Pinterest, Door Dash, Facebook – um nur einige zu nennen – investiert?" Vorsicht ist natürlich angebracht, aber Mary Meeker konnte nur deshalb einen milliardenschweren Investmentfond gründen, weil sie sich davor bei Kleiner Perkins den Ruf einer scharfsinnigen, weitsichtigen und unabhängigen Analystin aufgebaut hatte.

Die "Queen of the Internet" setzte unter anderem frühzeitig auf den Aufstieg von Uber, Stripe und Spotify voraus. Ihre jährlichen Trend-Reports sind die "most highly anticipated slide decks in Silicon Valley", wie es Vox ausdrückt. Das Archiv reicht zurück bis 1995, hier sind die 333 Folien für 2019 als Online-Version zum Durchklicken und als PDF zum Download.

Die wichtigsten Fakten im Überblick:

  • Einmal im Jahr veröffentlich Meeker ihren Bericht – und genauso regelmäßig veröffentlich kurz darauf Joshua Benton einen Nieman-Lab-Artikel mit der immergleichen Überschrift: "The scariest chart in Mary Meeker’s slide deck for newspapers has gotten scarier" Zusammengefasst: Die Anzeigenerlöse im Print-Geschäft sind eingebrochen und werden weiter rapide fallen, weil Werbekunden immer noch mehr Geld in Print investieren, als Menschen dem Medium Aufmerksamkeit schenken. Über kurz oder lang passen selbst die langsamsten Marketing-Abteilungen ihre Budgets der Realität an.
  • Mehr als die Hälfte der Menschheit ist online. Die Geschwindigkeit des Wachstum nimmt aber ab, Smartphone-Verkäufe sind im vergangenen Jahr sogar gesunken. In vielen Märkten ist eine Sättigung erreicht.
  • Vor drei Jahren war gut die Hälfte des globalen Internet-Traffics verschlüsselt. Mittlerweile sind es 87 Prozent, HTTPS und verschlüsselten Messengern sei Dank.
  • Die Dominanz von Google und Facebook beim digitalen Anzeigengeschäft bröckelt – aber das liegt nicht etwa daran, dass mehr Werbekunden bei Verlagen buchen. Vor allem Amazon holt auf und will einen Teil vom Werbekuchen abschneiden.
  • Dazu passt: Sieben der zehn wertvollsten Unternehmen der Welt sind Tech-Firmen: Microsoft, Amazon, Apple, Alphabet, Facebook, Alibaba, Tencent.
  • 15 der 25 wertvollsten Tech-Unternehmen wurden von Migrantïnnen der ersten oder zweiten Generation gegründet. Schärfere Einwanderungsgesetze, wie Trump sie plant, sind ein gelungenes Anti-Konjunktur-Programm.
  • Online-Werbung heißt in zwei Drittel der Fälle: Programmatic Ads, die besonders anfällig für Werbebetrug und Missbrauch sind. Der Anteil wird weiter zunehmen.
  • Es wird immer schwieriger und teurer, neue Nutzerïnnen und zahlende Kunden zu gewinnen. Das trifft alle Branchen, vom App-Entwickler bis zum Verleger.
  • Immer mehr Menschen fragen sich, ob sie zu viel Zeit mit digitalen Medien und ihren Smartphones verbringen.
  • Bilder lösen Texte als universales Kommunikationsmittel ab. Das gilt für Messenger, aber auch für soziale Medien wie Facebook und Twitter.
  • Gaming ist groß: Knapp 2,5 Milliarden Menschen spielen. Teilweise laufen Games wie Fortnite sozialen Netzwerken den Rang ab, auch als Kommunikationsplattform. Die Zahl der Menschen, die Gaming-Streams anschauen, wächst ebenfalls.
  • Weitere Talking-Points hat Cory Doctorow zusammengefasst.

Danke: Mit Blick darauf, wie umkämpft der Markt ist und wie wenig Menschen bereit sind, für Journalismus Geld zu bezahlen, möchten wir die Gelegenheit nutzen und noch einmal Danke sagen! Einfach mega, dass Du hier mit dabei bist!

Autor: Simon Hurtz

[line]
[gap size=“40px“]

Gaming, Livestreaming & Social Media

Was ist: Livestreaming is a thing. Zumindest in der Gaming-Branche. Aber zunehmend wohl auch an anderer Stelle.

  • So haben die Macher von Fortnite (Epic) die Social-Video-App Houseparty gekauft. Houseparty hatte Facebook einst dazu getrieben, Bonfire zu starten (mittlerweile wieder eingestellt). Die App Houseparty ermöglicht es, digital abzuhängen und erfreut sich gerade bei einem jungen Publikum großer Beliebtheit. Hier ein Bericht von TechCrunch und hier der Blogpost zur Übernahme. Für den Spiele-Entwickler Epic wohl auch deshalb so spannend, weil Twitch derzeit so große Erfolge verbucht…
  • Twitchs Zahlen lassen sich nämlich wirklich sehen: mehr peak concurrent viewership als CNN muss man erst einmal schaffen.

Be smart: Auch Snapchat versucht sich darin, Live und Gaming miteinander zu verknüpfen. Facebook ist derzeit ebenfalls dabei, eine neue Gaming-Plattform auf- und das Programm von Facebook Watch mit Blick auf Live auszubauen: Watchparty lautet hier das Stichwort. Hier ist einiges in Bewegung geraten in den letzten Wochen.

[line]
[gap size=“40px“]

Empfehlungen fürs Wochenende

Eine beunruhigende Frage an den digitalen Kapitalismus, die Michael Seemann da in einem Essay für die Bundeszentrale für politische Bildung aufwirft: Handelt es sich beim Informationskapitalismus, Datenkapitalismus, Plattformkapitalismus, Überwachungskapitalismus, (…) überhaupt noch um Kapitalismus? Vermutlich nein. Aber was ist er dann? „Wir haben es hier mit einem Monster zu tun, einem (noch) namenlosen Wesen. Monster sind nicht automatisch böse, aber sie machen uns Angst, weil wir sie nicht verstehen.

Selfies in Tschernobyl scheinen auf den ersten Blick nicht all zu sinnvoll. Entsprechend groß war das Entsetzen / die Häme, als auf dem Blog Sad and Useless Screenshots von Instagram-Posts veröffentlicht wurden, auf denen Menschen zu sehen sind, die in typischer Influencer-Manier auf dem Tschernobyl-Gelände posieren. Anlass dafür ist u.a. die Serie auf HBO. Vielleicht, und das ist der eigentliche Linktipp an dieser Stelle, kann man das aber auch anders deuten, dem Zeitgeist nachspüren und (an-)erkennen, dass Selfies heutzutage einfach nur zum Ausdruck bringen wollen: ich war da. Das mag hier mit Blick auf die Tragödie des Schauplatzes und die Fokussierung auf die eigene Person ziemlich komisch anmuten, keine Frage. Auch ich hatte zunächst diesen Reflex. Dann kamen mir aber die Zeilen aus Fatonis neuem Album in den Sinn, die ich hier gern aus gegebenem Anlass zitieren möchte:

"Wie oft hab’ ich gedacht, alles wird immer dümmer
Doch dann sah ich ihn wieder, diesen Mann im Spiegel
Und mir fiel auf (ja): Ich werde auch nicht jünger
Könnte ja vielleicht auch daran liegen"

[line]
[gap size=“40px“]

Tipps, Tricks und Apps

Relevante Inhalte auf Social Media zu finden, ist gar nicht so einfach. Klar, man kann sich etwa via Twitter ziemlich gut Listen basteln und so stets im Blick haben, was zu welchem Thema gepostet wird. Aber es geht auch noch eine ganze Ecke more sophisticated: First Draft hat 6 tips for finding newsworthy posts on social media, Kollege Luca Hammer bietet einen tollen Überblick über die verschiedenen Search Queries bei Twitter – beides einen Bookmark wert.

[line]
[gap size=“40px“]

One more thing

Quibi ist ein neuer Streaming-Dienst, der Inhalte exklusiv fürs Handy produzieren lässt (siehe Briefings #476 & #532) . Mit Milliarden Dollar an Risikokapital lässt sich einiges bewerkstelligen, sogar eine neue Serie von Steven Spielberg – und die hat es in sich: so soll die Serie per technischer Finesse nur zu gucken sein, wenn es draußen dunkel ist. Ich meine: Wow! Der Kommentar von Tom Knowles ist pures Gold 😂

[line]
[gap size=“40px“]

Header-Foto von Benjamin Hung bei Unsplash