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Warum Deutschland jetzt doch eine dezentrale Corona-App will

Was ist

Am Wochenende verkündeten Kanzleramtsminister Helge Braun und Gesundheitsminister Jens Spahn, dass die Bundesregierung ihren Kurs bei der geplanten Proximity-Tracing-App ändert: Nachdem Deutschland wochenlang hartnäckig an einem Modell mit zentralem Server festgehalten hatte, bevorzugt sie nun einen dezentralen Ansatz.

Warum das wichtig ist

Keine App der Welt wird die Pandemie aufhalten. Aber Tracing-Technologie kann einer von vielen Bausteinen sein, um Kontaktpersonen von Erkrankten zu warnen und Infektionsketten zu unterbrechen.

Obwohl dieses Thema nicht direkt in unsere Kernkompetenz fällt, haben wir die Entwicklung deshalb fortlaufend und mit ausführlichen Analysen begleitet:

Um das Format dieses Newsletters nicht zu sprengen, setzen wir die bisherigen Briefings als bekannt voraus. Wir wiederholen nur die nötigsten Information und fokussieren uns darauf, die neuesten Entwicklungen zu beleuchten.

Warum die Entscheidung überraschend kommt

Die Bundesregierung hat sich vor Wochen für die europäische Plattform Pepp-PT ausgesprochen. Das Projekt sollte aus technologischer Perspektive agnostisch sein, also sowohl zentrale als auch dezentrale Ansätze ermöglichen. In Deutschland war aber ein Modell mit zentralem Server geplant.

In der vergangenen Wochen wurde es dann chaotisch:

Wie die Reaktionen ausfallen

Zusammen mit meinem SZ-Kollegen Daniel Brössler habe ich Stimmen aus der Opposition (SZ) und von netzpolitischen Vereinen wie dem CCC eingeholt. Für einen weiteren Text (SZ) habe ich mit Professoren für IT-Sicherheit sowie dem Richter und Grundrechtsaktivisten Ulf Buermeyer gesprochen. Die Zusammenfassung:

Wie die App funktionieren soll

Wer den Unterschied zwischen Tracing und Tracking mittlerweile im Schlaf erklären kann, darf beim nächsten Punkt weiterlesen. Für alle anderen nochmal die Eckpunkte im Überblick:

Wie sich die Ansätze unterscheiden

Die Modelle funktionieren ganz ähnlich und haben nur einen entscheidenden Unterschied:

Welche Vor- und Nachteile die Modelle haben

Das Für und Wider hat Chris Köver ausführlich beschrieben (Netzpolitik). In einem Gastbeitrag arbeiten Samuel Brack, Jeanette Hofmann, Leonie Reichert und Björn Scheuermann die Unterschiede genauer heraus (Netzpolitik). Wir glauben, dass es gute Argumente für beide Ansätze gibt:

Welche Rolle Apple und Google spielten

Neben der massiven öffentlichen Kritik der Forscherïnnen und Verbände dürften die beiden US-Konzerne eine entscheidende Rolle für den Sinneswandel der Regierung gespielt haben. Vor allem Apple hat die Verhandlungen maßgeblich geprägt:

Welche Hürden es gibt

In Briefing #630 haben wir unter den Kategorien „Verbreitung“, „Verwirrung“, „Zuverlässigkeit“, „Sicherheit“, „Psychologische und soziale Folgen“ und „Testkapazitäten“ etliche Herausforderungen aufgezählt, die Tracing-Apps überwinden müssen, um erfolgreich zu sein. Zwei Punkte dieser Liste wollen wir nochmal unterstreichen:

Was noch unklar ist

Das Ziel steht fest, Deutschland soll eine Tracing-App mit dezentraler Software-Architektur erhalten. Wie der Weg dorthin aussehen wird, wissen wir aber noch nicht:

Be smart

In seinem Newsletter „The Interface“ versteckt Casey Newton eine wichtige Beobachtung in einem eingeklammerten Absatz im letzten Drittel (Revue):

(As an aside, the idea that we live in a time where Apple is telling Europe what forms of exposure notification will be permitted is basically the entire thesis behind / pitch for the existence of this newsletter. Not because I believe Apple abused its power, but because the world is still catching up to the idea that Apple and a handful other tech giants have this power.)

Das gilt für seinen Newsletter, aber natürlich genauso auch für uns. Die Pandemie zeigt erneut, welch zentralen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und zunehmend auch politischen Funktionen Plattformen und Tech-Konzerne übernommen haben.

Das muss nicht zwangsläufig schlecht sein: Wenn wir die Wahl hätten, ob Tim Cook und Sundar Pichai oder Donald Trump und Jair Bolsonaro über Anti-Corona-Maßnahmen entscheiden sollen, müssten wir nicht lange grübeln. Natürlich denken diese Unternehmen auch ans Geldverdienen, aber das ist nicht verwerflich. Außerdem macht es sie berechenbar – im Gegensatz zu manchem Staatsoberhaupt.

Unabhängig vom Ergebnis kann man den Prozess hinterfragen: Ist es wünschenswert, dass private Konzerne demokratisch legitimierten Regierungen diktieren, wie sie die Pandemie zu bekämpfen haben? Dass Apple und Google in diesem Fall eine datenschutzfreundlichere Lösung erwirkt haben, ist bemerkenswert – aber wenn beim nächsten Mal ein Unternehmen wie Palantir, dessen Corona-Software Hessen nutzen will (SZ), mit am Verhandlungstisch sitzt, sieht die Sache womöglich anders aus.

Know more

Auch andere Medien haben schöne Tracing-Analysen:


Foto-Quelle: Mika Baumeister, Unsplash