Salut und herzlich Willkommen zur 629. Ausgabe des Social Media Briefings. Heute beschäftigen wir uns ausführlich mit hanebüchenen Verschwörungstheorien rund um 5G und Covid-19. Zudem blicken wir auf den Start von Quibi und die Rekordwerte für Streaming-Plattformen. Herzlichen Dank für den Support in diesen schwierigen Zeiten, Tilman, Simon und Martin!

Hinweis: Unsere Briefings sind eigentlich kostenpflichtig. Da wir unsere Recherchen zum Coronavirus aber nicht hinter einer Paywall „verstecken“ möchten, sind alle Analysen zum Thema Covid-19 frei zugänglich.

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Artikel zum Coronavirus:

5G ist gefährlich – aber nicht wegen der Strahlung

Was ist: Besorgte Bürgerïnnen haben in Großbritannien mindestens 20 Mobilfunkmasten angegriffen und angezündet (Guardian). Außerdem wurden Ingieneurïnnen und andere Angestellte der Betreiber beschimpft und bedroht (Guardian).

Was dahintersteckt: Die Attacken wurden von hanebüchene Verschwörungstheorien befeuert. Angeblich übertrage 5G-Strahlung die Lungenkrankheit Covid-19. Videos und andere Beiträge mit solchen unwissenschaftlichen und nachweislich falschen Behauptungen verbreiten sich in sozialen Netzwerken und erreichen Millionen Menschen.

Als ob die Brandstiftungen nicht schon absurd genug wären, gibt es einen weiteren Treppenwitz: Ein Großteil der beschädigten Masten sendet nur mit 3G- und 4G-Standard. Die Angreifer haben damit ausgerechnet jene Mobilfunktechnik zerstört, die in der aktuellen Situation für Sanitäterïnnen und anderes medizinisches Personal besonders wichtig ist, um sich zu koordinieren.

Warum das wichtig ist: Die Vorfälle zeigen erneut, dass Falschnachrichten reale Konsequenzen haben. In Briefing #623 haben wir analysiert, warum die Infodemie genauso gefährlich ist wie die Pandemie. Lügen und Gerüchte können dazu führen, dass sich Menschen leichtfertig verhalten, Abstandsregeln ignorieren und Menschenleben riskieren – oder sie lösen Panik aus.

Psychologisch ist das nachvollziehbar. In Krisensituationen suchen Menschen nach Halt. Sie sammeln Informationen, um die Lage besser einschätzen zu können. Das ist evolutionär gelerntes Verhalten und war einst überlebenswichtig. Doch mittlerweile gibt es ein Überangebot an Informationen – und gerade in sozialen Medien sind viele davon irreführend oder falsch.

Schon immer habe Unsicherheit dazu geführt, dass sich Gerüchte ausbreiten, schreibt die Professorin Kate Starbird (Medium), die zu Kriseninformatik und Krisenkommunikation forscht. Im aktuellen Ausnahmezustand löst das eine Flut an Falschnachrichten und Verschwörungstheorien aus, die teils bewusst gestreut werden.

Was die Plattformen tun: Nachdem die ersten Masten brannten, schaltete sich die britische Regierung ein. Sie drängte Plattformen wie Facebook, WhatsApp, YouTube und Twitter, aktiv gegen den 5G-Unfug vorzugehen. „Hammer this message home“, habe die Forderung gelautet (Guardian).

Ob der politische Druck eine Rolle spielte ist unklar. YouTube und Facebook reagierten jedenfalls schnell:

  • YouTube will die Reichweite von Videos, die 5G-Strahlung für Covid-19 verantwortlich machen, künftig drosseln (Guardian) oder die Inhalte ganz löschen, wenn sie gegen YouTubes Regeln verstoßen.
  • Facebook kündigte an, Beiträge zu sperren, die einen Zusammenhang zwischen dem Mobilfunkstandard und der Krankheit herstellen, wenn sie eine physische Gefahr darstellen.
  • Unabhängig von 5G hat YouTube Tausende Video gelöscht (Axios), die medizinische Falschinformationen zum Coronavirus enthalten. Die Plattform versucht, stattdessen seriöse Quellen wie die WHO und glaubwürdige Medien zu stärken.
  • Auch Whatsapp verschärft sein Vorgehen gegen viralen Corona-Quatsch (SZ): Nachrichten, die bereits mehrfach weitergeleitet wurden, lassen sich nur noch an einzelne Kontakte weiterschicken. Das soll helfen, Kettenbriefe mit Gerüchten und Falschnachrichten zu verhindern.

Das passt zu unserer bisherigen Einschätzung, die wir etwa in Ausgabe #620 und #624 formuliert haben. Damals schrieben wir:

In der Coronakrise aber zeigen viele Unternehmen, dass sie so etwas wie ein Gewissen haben und soziale Verantwortung verspüren.

Die vergangenen Wochen haben deutlich gemacht, dass Facebook, Google und Co. sehr wohl schnell und entschlossen handeln können. In einer Telefonschalte mit Journalistïnnen sagte Mark Zuckerberg (SZ): „Man kann nicht einfach ‚Feuer‘ in einem vollen Theater schreien.“ Das bezog er auf Falschnachrichten zum Coronavirus. Deshalb greife Facebook bei solcher Desinformation härter durch, als es das in der Vergangenheit getan habe.

Wir können nicht beurteilen, ob jede einzelne Maßnahme der Plattformen das gewünschte Ziel erreicht. Aber niemand kann ihnen absprechen, dass sie sich anstrengen, Teil der Lösung und nicht Teil des Problems zu sein.

Diesen Eindruck haben auch etliche Hintergrundgespräche verfestigt, die wir in den vergangenen Wochen geführt haben. Neue Funktionen werden plötzlich nebensächlich, und die besten Entwicklerïnnen kümmern sich nicht mehr nur noch darum, wie man möglichst viel Geld verdienen, sondern fragen sich, wie man möglichst viele Leben retten kann.

Warum die 5G-Panik verfängt: Es vermischen sich Technophobie und eine weltweite Pandemie. Verschärfend hinzu kommen Zehntausende lokale Nachbarschaftsgruppen in sozialen Netzwerken und Messengern, die Menschen gegründet haben, um sich über das Virus auszutauschen – und in denen jetzt auch Falschnachrichten kursieren.

Menschen haben Angst vor moderner Technik. Menschen haben Angst vor dem Virus. Andere Menschen nutzen das aus und schüren Panik. Es ist ein „Perfect Storm“, ein Szenario, wie es sich Dan Brown nicht besser für einen seiner Verschwörungs-Thriller hätte ausdenken können.

Wie Medien und Prominente alles noch schlimmer machen: Ahnungs- oder gewissenlose Portale wie der Daily Star schreiben Überschriften wie „Coronavirus: Fears 5G wifi networks could be acting as ‚accelerator‘ for disease“. Nach einem Faktencheck der Organisation Fullfact lautet die Überschrift nun: „Activists in bizarre claim 5G could be acting as ‚accelerator‘ for disease“. Um die Verbreitung zu stoppen, sind solche nachträglichen Korrekturen natürlich zu spät.

Noch größeren Schaden richten Prominente wie der Boxer Amir Khan (Independent) oder der Schauspieler Woody Harrelson (Buzzfeed) an, die Videos mit Verschwörungstheorien teilen oder auf dubiose Petitionen verlinken. Sie agieren als Influencer im Wortsinn – nur dass sie statt Werbung Panik verbreiten.

Wo die Verschwörungstheorien herkommen: Wir wollen die absurden Behauptungen nicht im Einzelnen nacherzählen. Das gibt ihnen zu viel Raum. Lieber beschränken wir uns auf einige Hintergrundinformationen und Eckpunkte:

  • Widerstand gegen 5G ist im Netz seit Jahren ein großes Thema. „Seit 5G bekomme ich wäschekörbeweise Zuschriften“, sagte Dorothee Bär im Oktober. Das ist sehr zurückhaltend formuliert. Wer eine der zahlreichen Anti-5G-Demos besucht, denkt plötzlich ganz neu über das Wort besorgte Bürgerïnnen nach.
  • Verschwörungstheorien über 5G werden Hunderttausendfach geteilt (Buzzfeed) und finden auch in QAnon-Kreisen großen Anklang – dort vermischt sich die Technophobie mit Antisemitismus und Rassismus.
  • Die aktuellen Theorien, die einen Zusammenhang zwischen Mobilfunkstrahlung und Covid-19 konstruieren, wurden wohl maßgeblich durch ein – online mittlerweile gelöschtes – Interview mit einem dubiosen Arzt in einer belgischen Lokalzeitung ausgelöst (Wired).
  • Der verlinkte Wired-Text erzählt detailliert nach, wie sich der Unfug über vermeintliche Expertïnnen, Infowars, russische Medien und hauptberufliche Verschwörungstheoretiker wie den ehemaligen Fußballprofi David Icke im ganzen Netz ausbreitet. Die Dynamik ist faszinierend, das Ergebnis ist erschreckend.

The big picture: Die 5G-Theorien sind nur eine von vielen üblen Desinformationskampagnen im Zusammenhang mit dem Coronavirus: Während Trump Covid-19 lange Zeit verharmlost hat und China dafür verantwortlich machen will, versucht die chinesische Regierung über Staatsmedien und mit Werbung auf Facebook und Instagram, ihrerseits den USA die Schuld in die Schuhe zu schieben (Telegraph).

Wo sich die zwei Großmächte streiten, will natürlich auch Russland mitmischen. Kremltreue Medien wie RT verbreiten haltlose Behauptungen (Belltower), die sich teils mit antisemitischen Motiven vermischen. Meist wird nahegelegt, die USA hätten das Virus erschaffen (EU vs Disinfo).

Be smart: Verschwörungstheorien sind nichts Neues. Auch neue Technik hat seit jeher Widerstand ausgelöst. Als 3G eingeführt wurde, gab es ebenfalls Angriffe auf Funkmasten. Mobilfunkstrahlen, Mikrowellen, Wlan – Fortschritt macht Menschen Angst.

Die aktuellen Umstände potenzieren das Problem jedoch: eine virologische Pandemie, eine virale Infodemie und nahezu unkontrollierbare, Ende-zu-Ende verschlüsselte Messenger, die als Gerüchteschleuder dienen.

Deshalb ist es wichtig, selbst alles dafür zu tun, dass sie die Falschnachrichten nicht weiterverbreiten. Dieser BBC-Artikel ist ein guter Anfang: David Robson erklärt, warum auch kluge Menschen groben Unsinn glauben und wie man dem am besten entgegentritt: nicht überheblich oder brüsk, sondern mit möglichst präzisen und einfach formulierten Argumenten.

Autor: Simon Hurtz | Illustration: Julia Tripke | sympathiegestalten
Permalink: https://socialmediawatchblog.de/2020/04/08/5g-ist-gefaehrlich-aber-nicht-wegen-der-strahlung/

Zukunft des Fernsehens?

Was ist: Das viel gehypte Streaming-Startup Quibi ist da.

Was ist Quibi?

  • Quibi ist kein Social-Media-Angebot. Vielmehr handelt es sich um eine Art Netflix fürs Smartphone.
  • Die Inhalte von Quibi (kurz für Quick Bytes) sind originär für den Konsum auf dem Smartphone konzipiert und sollen Nutzerïnnen vor allem „on the go“ abholen – also an der Bushaltestelle, in der Supermarktschlange, beim Pendeln oder als Begleiter in der Kaffeepause.
  • Einzelne Episoden sind hochwertig produziert und dauern maximal zehn Minuten.
  • Für die Produktion konnten Stars wie Jennifer Lopez, Reese Witherspoon, Steven Spielberg, Liam Hemsworth und Christoph Waltz gewonnen werden.
  • Zwar gibt es die Inhalte bislang nur in Englisch und Spanisch, sehr wohl kann die App aber auch in Deutschland direkt zum Start genutzt werden.
  • Die ersten 90 Tage sind kostenfrei – danach kostet das Abo 9 Euro im Monat.
  • Um sich von der Konkurrenz abzuheben hat sich Quibi ein technisches Schmankerl names Turnstyle ausgedacht – damit lassen sich Videos von der Vertikalen (default!) in die Horizontale kippen. Eine ganz hübsche Spielerei, die aber auch dramaturgisch Sinn ergeben kann.

Warum ist das interessant?

  • Seit Jahren berichten wir im Social Media Briefing über die Streaming Wars oder etwas weniger martialisch: den Kampf um Video.
  • YouTube, Facebook, Twitter, Snapchat, Instagram und TikTok arbeiten eifrig daran, ihren Nutzerïnnen Video-Inhalte anzubieten: mal kurz, mal mittel, mal lang, mal live, mal als Konserve, mal originär für die Plattform produziert, mal als Zweitverwertung, mal von Profis, mal von Nutzern hochgeladen.
  • Quibi schickt sich nun an, in diesen Konkurrenzkampf einzusteigen und sich ebenfalls ein Stück vom Kuchen (read: Fernseh-Milliarden) zu sichern.
  • Da Quibi vom ehemaligen Dreamworks-Gründer Jeffrey Katzenberg und der ehemaligen eBay-Managerin Meg Whitman gegründet wurde, ist Quibi eine bislang einzigartige Symbiose aus Tech und traditioneller Entertainment-Industrie.

Be smart: Quibi startet mit 50 Formaten – darunter viele hochkarätig besetzte Serien, sowie Gossip-Krams von TMZ und News von BBC, respektive NBC. Die App funktioniert anständig und macht auch optisch einen soliden Eindruck. Ob Quibi allerdings ein Erfolg wird, die Milliarden an Risikokapitel rechtfertigt und sich wirklich am Markt nachhaltig etablieren kann, ist aus vier Gründen fraglich:

  • Streaming-Portale leben von einem Mega-Hit, für den es sich lohnt, die App herunterzuladen, bzw. ein kostenpflichtiges Abo abzuschließen. Solche Hits sind aber nur bedingt plan- und steuerbar. Ob Quibi einen landen kann, nobody knows.
  • Quibi launcht in einer Zeit, in der nur wenige Menschen „on the go“ sind. Im Gegenteil: #Wirbleibenzuhause ist der Zeitgeist. Ob die App es schafft, in dieser sehr speziellen Zeit ein kritisches Wachstum zu erreichen, ist fraglich.
  • Quibis Hauptargument – mobile only – könnte zugleich sein Killer sein. Menschen sind es gewohnt, Inhalte ohne große Brüche zu konsumieren: Wer etwas auf dem Laptop entdeckt, möchte es auf dem Smartphone weiterschauen können, um dann den Inhalt bei Bedarf auf den Fernseher zu zaubern – YouTube, Netflix und Co machen es vor. Dass Quibi sich aber genau dieser Funktionen gänzlich beraubt, könnte für viele Menschen ein abturn sein.
  • Alle anderen Angebote lassen sich gemeinschaftlich konsumieren, ggf. digital über Watch-Party-Funktionen, etc. Quibi hingegen ist alles andere als Lagerfeuer. Quibi ist eine Ego-Maschine. Du und dein Smartphone. Sonst niemand lautet das Motto. Ob das bei all der Zeit, die Menschen schon „allein“ in den anderen Apps verbringen, beim Publikum verfängt, sehen wir kritisch.

Statistiken

Streaming-Angebote erzielen derzeit in den USA Rekordwerte (Axios). Podcasts hingegen verbuchen sehr viel geringere Abrufzahlen (NiemanLab). Beides lässt sich sicherlich auch im Rest der Welt beobachten und gut mit den Nutzungsgewohnheiten der Menschen erklären: Mehr Binge-Watching dahoam, weniger Podcast-Nutzung unterwegs.

Schon einmal im Briefing davon gehört

  • BuzzFeed Deutschland steht zum Verkauf: Bereits im letzten Jahr deutete sich an (New York Times), dass BuzzFeed sehr genau prüfen wird, welche Verticals und Ableger erhalten bleiben können. Nun steht fest, dass das Mutterhaus die Standorte in Brasilien und Deutschland verkaufen möchte. Wohl nicht zuletzt auch wegen der Coronakrise und der schwindenden Werbeerlöse. Falls also jemand von euch Partner von BuzzFeed Deutschland werden möchte, einfach bei Daniel Drepper melden. Das Team um Daniel leistet wirklich klasse Arbeit!
  • The Outline macht übrigens dicht.

Neue Features

Pinterest

One more thing

Schöne Feiertage: Wir wünschen allen Leserïnnen schon einmal vorab frohe Ostern! Wir hoffen wirklich sehr, dass alle ein schönes Osterfest haben – trotz Social Distancing und allen anderen Herausforderungen, mit denen wir uns in dieser Zeit konfrontiert sehen. Immer dran denken: We are in this together! Wir lesen uns dann nächste Woche Mittwoch wieder. Bis dahin 🐰

Header-Foto von Victor He bei Unsplash