Salut und herzlich Willkommen zur 623. Ausgabe des Social-Media-Briefings. Das Coronavirus verändert alles – auch unseren Newsletter. In der heutigen Ausgabe widmen wir uns monothematisch der Infodemie, die sich vor allem im Netz ausbreitet. Am Freitag wollen wir erklären, wie Social Media in Zeiten der Coronakrise wieder das werden kann, was der Name verspricht: sozial. Bleibt gesund und wascht euch die Hände, Martin & Simon

Hinweis: Unsere Briefings sind eigentlich kostenpflichtig. Da wir unsere Recherchen zum Coronavirus aber nicht hinter einer Paywall „verstecken“ möchten, sind alle Analysen zum Thema Covid-19 frei zugänglich.

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Artikel zum Coronavirus:

Was ist

Die virologische Pandemie wird von einer viralen Infodemie begleitet. Eine Flut von Gerüchten, Halbwahrheiten, Falschinformationen und bewussten Lügen verunsichert viele Menschen. Die Plattformen tun ihr Bestes, aber insbesondere auf Ende-zu-Ende-verschlüsselten Messengern wie WhatsApp lässt sich der Unsinn kaum einfangen.

Wir haben diese Infodemie bereits in Briefing #620 analysiert. Das Thema ist aber so wichtig und hat sich derart schnell weiterentwickelt, dass wir es ein zweites Mal beleuchten wollen.

Warum das wichtig ist

In Zeiten von Covid-19 ist Desinformation noch gefährlicher als sonst. Das hat zwei Gründe:

Grund 1: Die direkten Folgen

  • Falschnachrichten können Aufstände und Gewalt auslösen. Im Februar landete ein Flugzeug aus Wuhan in der Ukraine. Als fälschlicherweise behauptet wurde, die Passagiere seien mit dem Coronavirus infiziert, brachen in der ukrainischen Nowi Sanschary Panik und gewalttätige Proteste aus (BuzzFeed). Die Chefin des Gemeinderats sprach von einem „Armageddon“, ausgelöst durch Desinformation.
  • Klar, die Ukraine ist nicht Deutschland: Aber wenn ich sehe, wie sich Menschen in Supermärkten um Nudeln und Klopapier prügeln, dann halte ich ein ähnliches Szenario auch in Deutschland für möglich.
  • Wir sind erst am Anfang der Pandemie. Bald dürften Millionen Menschen infiziert sein, und Ärztïnnen werden wie in Norditalien ältere Menschen zum Sterben nach Hause schicken, um andere Leben retten zu können. Spätestens dann werden auch vermeintlich stabile Gesellschaften wie die unsere anfällig für Hysterie, die in Krawall mündet.
  • (Wobei die Tausenden rassistisch motivierten Anschläge auf Flüchtlingsheime zeigen, dass es gar keine echte Krise braucht, damit Gerüchte im Netz zu Gewalt auf der Straße werden.)

Grund 2: Die indirekten Folgen

  • Desinformation kann nicht nur zu Panik führen, sondern Menschen auch sorglos machen. Ich habe in den vergangenen Tagen Dutzende Screenshots gesehen, die hanebüchene Tipps (Spiegel) und Selbsttests (BR) zeigen, die sich in sozialen Netzwerken massenhaft verbreiten. Kriminelle verkaufen Fake-Medikamente, und dubiose Webseiten geben unsinnige Ratschläge.
  • Offenbar dringen die teils eindringlichen Warnungen von WHO, RKI oder Behörden und öffentlichen Verwaltungen zu vielen Menschen nicht durch. Sie vertrauen eher ihrem Schwippschwager, der auf Telegram erzählt, er habe aus sicherer Quelle erfahren, alles sei halb so wild. Regelmäßig Wassertrinken und Vitamin C seien Vorsorge genug.
  • Am vergangenen Wochenende waren in Berlin nur die Regale leer – Cafés und Restaurants waren voll, Menschen drängeln an der Supermarktkasse, rempeln einander an und scheinen nicht bereit zu sein, ihr Verhalten zu ändern.
  • Ob es einen kausalen Zusammenhang zur grassierenden Desinformation gibt, oder Bequemlichkeit und Egoismus die Ursache sind (Zeit Online), ist unklar – aber Zahlen aus den USA zeigen, dass die Korrelation womöglich kein reines Zufallsprodukt ist
  • Dort verharmlost Donald Trump die Gefahr seit Monaten. Seit Wochen behauptet der US-Präsident (Washington Post), er habe alles im Griff, bald werde es keine Infizierten mehr geben, und ein Impfstoff sei gut wie fertig. Nichts davon stimmt.
  • Der Anteil der Demokraten, die darauf verzichten wollen, Essen zu gehen, liegt dreimal so hoch (NBC). Mehr als doppelt so viele Menschen, die demokratisch wählen, sind bereit, ihre Reisepläne zu ändern oder öffentliche Versammlungen zu meiden.
  • Auch hier ist nicht nachgewiesen, dass Trumps fortlaufende Verharmlosung seine Unterstützerïnnen beeinflusst. Anhänger der Republikaner glauben generell seltener an wissenschaftliche Fakten, auch die Klimakrise tun viele als Panikmache ab. In diesem Fall ist die Diskrepanz aber so krass, dass ich von Kausalität ausgehe.
  • Diese Ignoranz ist tödlich, womöglich nicht für sie selbst, aber für andere. „Coronavirus: Why You Must Act Now“ macht unmissverständlich deutlich, dass Hunderttausende sterben werden, wenn wir nicht alle bereit sind, vorübergehend Einschränkungen in Kauf zu nehmen.
  • Mehr als 35 Millionen Menschen haben den Text von Tomas Pueyo gelesen, es sollten noch viel mehr sein. Um Eltern oder Großeltern zu überzeugen, zuhause zu bleiben, eignet sich die deutsche Version (Perspective Daily) vermutlich noch besser.

Was die WHO sagt: Der Chef der Weltgesundheitsorganisation warnt seit Wochen eindringlich vor der Infodemie. Wir bekämpfen nicht nur eine Pandemie, wir bekämpfen eine Infodemie„, sagte er vor einem Monat (WHO). „Falschnachrichten verbreiten sich schneller als das Virus, und sie sind genauso gefährlich.“ Sein WHO-Kollege Michael Ryan sieht das ähnlich: „Wir brauchen einen Impfstoff gegen Falschinformationen“, sagte er auf einer Pressekonferenz der WHO (PDF-Manuskript).

Das Problem in Zahlen

Dem Factchecking-Dienst Newsguard zufolge wurden irreführende oder falsche Informationen über das Virus bis Anfang März mehr als 50 Millionen Mal (ZDNet) geteilt oder kommentiert – 142 Mal öfter als Inhalte offizieller Quellen wie der WHO. (Allerdings sind Medien, die WHO-Inhalte aufbereiten, nicht berücksichtig. Der Vergleich sagt also nichts über die generelle Verbreitung aus.)

Zu den Bullshit-Schleudern zählt etwa das Netzwerk „Natural News“, das sich Seiten wie FactCheck.news oder Pandemic.news gesichert hat und dort hanebüchene Verschwörungstheorien veröffentlicht.

Der viel größere und gefährlichere Teil der Desinformation findet aber in Räumen statt, die nicht öffentlich einsehbar sind: in Gruppen und Messengern (BuzzFeed). Niemand kann genau sagen, wie viel Unsinn sich über die digitale Flüsterpost verbreitet – und auch die Plattformen selbst können kaum eingreifen, um die Gerüchte einzufangen.

Ein konkretes Beispiel: Seit dem vergangenen Wochenende verbreitet sich eine WhatsApp-Sprachnachricht, die zeigt, wie Falschinformationen Verwirrung und Angst auslösen:

  • Eine Frau, die sich “Elisabeth, die Mama von Poldi” nennt, behauptet darin, die Uniklinik Wien habe herausgefunden, dass Ibuprofen die Gefahr erhöhe, schwer an Covid-19 zu erkranken.
  • Obwohl die Wiener Forscherïnnen schnell dementieren (Uni Wien), wird die Nachricht massenhaft geteilt. Am Wochenende war “coronavirus ibuprofen” zwischenzeitlich auf Platz 2 der Google-Suchtrends.
  • Es gibt allerdings keine wissenschaftlichen Studien, die einen Zusammenhang zwischen Ibuprofen und einem schweren Covid-19-Verlauf nachweisen.
  • Nur ein Beitrag im Fachjournal Lancet (PDF) erwähnt am Rande, dass Ibuprofen möglicherweise eine unerwünschte Wirkung haben könnte. Die Fallzahl der Untersuchung ist aber gering.
  • Der Verweis auf die Uniklinik in der Sprachnachricht war definitiv erfunden – die Verunsicherung war und ist dennoch riesig.

Wer warum Falschnachrichten teilt

Ein Teil der Gerüchte und Lügen werden mit bösartigen Absichten gestreut. Kriminelle wollen die Furcht vor dem Coronavirus nutzen, um Computerviren zu verbreiten. Betrügerïnnen versuchen, nutzlose Wundermittel zu verkaufen und Menschen auf dubiose Webseiten zu locken, die sie mit Anzeigen zuballern. Auch staatliche Akteure nutzen die Krise, um im Ausland Verunsicherung zu stiften (NYT)

Aber auch Menschen, die es eigentlich gut meinen, verbreiten fragwürdige Informationen weiter:

  • In Krisenzeiten hätten Gerüchte und Desinformation immer Konjunktur, schreibt die Professorin Kate Starbird (Medium), die an der Universität Washington zu Kriseninformatik und Krisenkommunikation forscht.
  • Wenn Menschen unsicher sind und Angst haben, versuchen sie, möglichst viele Informationen zu gewinnen, um die Lage besser einschätzen zu können. Das ist evolutionär gelerntes Verhalten und war einst überlebenswichtig.
  • „Das Problem ist ein Überangebot an Informationen“, schreibt Starbird: Früher war es schwer, überhaupt irgendetwas zu erfahren. Heute erfährt man mehr, als man eigentlich wissen wollte – und ist nicht mehr in der Lage, den Unsinn von den Fakten zu trennen.

Eine Reihe psychologischer Konzepte, die der Kognitionswissenschaftler Markus Knauff aufzählt (Zeit Online), erklären, warum es menschlich ist, auf Falschinformationen hereinzufallen (insgesamt nennt er acht solcher Fehler und Effekte):

  • Der Bestätigungsfehler besagt, dass man Informationen eher glaubt, wenn sie dem eigenen Weltbild entsprechen.
  • Der Bauchgefühl-Fehler drückt aus, dass sich viele Menschen von Emotionen wie Angst leiten lassen, statt auf ihren Kopf zu hören.
  • Der Kausalfehler beschreibt den Effekt, dass das Gehirn zufällige Korrelationen in einen kausalen Zusammenhang stellt.

Was die Plattformen tun

In diesem Briefing haben wir Big Tech oft kritisiert – im Umgang mit der Coronakrise zeigen Facebook, Google und Co. seit Wochen, dass sie auch schnell und entschieden handeln können (NYT). In einer der kommenden Ausgaben werden wir uns ausführlicher mit den Maßnahmen beschäftigen und versuchen, die Erfolgsaussichten einzuordnen.

Be smart

Meine SZ-Kollegen Dirk von Gehlen und Klaus Ott haben “Zehn Tipps gegen die Lügen” zusammengestellt. Ratschläge wie “Durchatmen”, “Quellen prüfen” und “Kettenbriefe meiden” klingen banal. Die vergangenen Tage zeigen aber, dass viele Menschen sie dringend nötig haben.

Manchmal tut es aber auch einfach gut, komplett abzuschalten. Eva Horn beschreibt es in einem Twitter-Thread treffend:

„Nehmt euch sehr bewusst Internet/Nachrichten/Socialmediafreie Zeit. (…) Nur, weil ihr auf Twitter ganz viele leere Supermarktregale seht, heißt es nicht, dass das auch überall die Realität ist. Niemand muss alles lesen – dafür gibt es Leute wie mich, die das beruflich machen (und das auch nicht 24 Stunden am Tag machen), LEGT DAS TELEFON WEG, wirklich. Wir schaffen das zusammen.“

Amen.

Autor: Simon Hurtz | Grafik: sympathiegestalten.de