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6 Min. Lesezeit

Warum die virale Infodemie tödlich ist

Coronavirus und Social Media
Coronavirus und Social Media

Salut und herzlich Willkommen zur 623. Ausgabe des Social-Media-Briefings. Das Coronavirus verändert alles – auch unseren Newsletter. In der heutigen Ausgabe widmen wir uns monothematisch der Infodemie, die sich vor allem im Netz ausbreitet. Am Freitag wollen wir erklären, wie Social Media in Zeiten der Coronakrise wieder das werden kann, was der Name verspricht: sozial. Bleibt gesund und wascht euch die Hände, Martin & Simon

Hinweis: Unsere Briefings sind eigentlich kostenpflichtig. Da wir unsere Recherchen zum Coronavirus aber nicht hinter einer Paywall „verstecken“ möchten, sind alle Analysen zum Thema Covid-19 frei zugänglich.

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Artikel zum Coronavirus:

Was ist

Die virologische Pandemie wird von einer viralen Infodemie begleitet. Eine Flut von Gerüchten, Halbwahrheiten, Falschinformationen und bewussten Lügen verunsichert viele Menschen. Die Plattformen tun ihr Bestes, aber insbesondere auf Ende-zu-Ende-verschlüsselten Messengern wie WhatsApp lässt sich der Unsinn kaum einfangen.

Wir haben diese Infodemie bereits in Briefing #620 analysiert. Das Thema ist aber so wichtig und hat sich derart schnell weiterentwickelt, dass wir es ein zweites Mal beleuchten wollen.

Warum das wichtig ist

In Zeiten von Covid-19 ist Desinformation noch gefährlicher als sonst. Das hat zwei Gründe:

Grund 1: Die direkten Folgen

Grund 2: Die indirekten Folgen

Was die WHO sagt: Der Chef der Weltgesundheitsorganisation warnt seit Wochen eindringlich vor der Infodemie. Wir bekämpfen nicht nur eine Pandemie, wir bekämpfen eine Infodemie„, sagte er vor einem Monat (WHO). „Falschnachrichten verbreiten sich schneller als das Virus, und sie sind genauso gefährlich.“ Sein WHO-Kollege Michael Ryan sieht das ähnlich: „Wir brauchen einen Impfstoff gegen Falschinformationen“, sagte er auf einer Pressekonferenz der WHO (PDF-Manuskript).

Das Problem in Zahlen

Dem Factchecking-Dienst Newsguard zufolge wurden irreführende oder falsche Informationen über das Virus bis Anfang März mehr als 50 Millionen Mal (ZDNet) geteilt oder kommentiert – 142 Mal öfter als Inhalte offizieller Quellen wie der WHO. (Allerdings sind Medien, die WHO-Inhalte aufbereiten, nicht berücksichtig. Der Vergleich sagt also nichts über die generelle Verbreitung aus.)

Zu den Bullshit-Schleudern zählt etwa das Netzwerk „Natural News“, das sich Seiten wie FactCheck.news oder Pandemic.news gesichert hat und dort hanebüchene Verschwörungstheorien veröffentlicht.

Der viel größere und gefährlichere Teil der Desinformation findet aber in Räumen statt, die nicht öffentlich einsehbar sind: in Gruppen und Messengern (BuzzFeed). Niemand kann genau sagen, wie viel Unsinn sich über die digitale Flüsterpost verbreitet – und auch die Plattformen selbst können kaum eingreifen, um die Gerüchte einzufangen.

Ein konkretes Beispiel: Seit dem vergangenen Wochenende verbreitet sich eine WhatsApp-Sprachnachricht, die zeigt, wie Falschinformationen Verwirrung und Angst auslösen:

Wer warum Falschnachrichten teilt

Ein Teil der Gerüchte und Lügen werden mit bösartigen Absichten gestreut. Kriminelle wollen die Furcht vor dem Coronavirus nutzen, um Computerviren zu verbreiten. Betrügerïnnen versuchen, nutzlose Wundermittel zu verkaufen und Menschen auf dubiose Webseiten zu locken, die sie mit Anzeigen zuballern. Auch staatliche Akteure nutzen die Krise, um im Ausland Verunsicherung zu stiften (NYT)

Aber auch Menschen, die es eigentlich gut meinen, verbreiten fragwürdige Informationen weiter:

Eine Reihe psychologischer Konzepte, die der Kognitionswissenschaftler Markus Knauff aufzählt (Zeit Online), erklären, warum es menschlich ist, auf Falschinformationen hereinzufallen (insgesamt nennt er acht solcher Fehler und Effekte):

Was die Plattformen tun

In diesem Briefing haben wir Big Tech oft kritisiert – im Umgang mit der Coronakrise zeigen Facebook, Google und Co. seit Wochen, dass sie auch schnell und entschieden handeln können (NYT). In einer der kommenden Ausgaben werden wir uns ausführlicher mit den Maßnahmen beschäftigen und versuchen, die Erfolgsaussichten einzuordnen.

Be smart

Meine SZ-Kollegen Dirk von Gehlen und Klaus Ott haben “Zehn Tipps gegen die Lügen” zusammengestellt. Ratschläge wie “Durchatmen”, “Quellen prüfen” und “Kettenbriefe meiden” klingen banal. Die vergangenen Tage zeigen aber, dass viele Menschen sie dringend nötig haben.

Manchmal tut es aber auch einfach gut, komplett abzuschalten. Eva Horn beschreibt es in einem Twitter-Thread treffend:

„Nehmt euch sehr bewusst Internet/Nachrichten/Socialmediafreie Zeit. (…) Nur, weil ihr auf Twitter ganz viele leere Supermarktregale seht, heißt es nicht, dass das auch überall die Realität ist. Niemand muss alles lesen – dafür gibt es Leute wie mich, die das beruflich machen (und das auch nicht 24 Stunden am Tag machen), LEGT DAS TELEFON WEG, wirklich. Wir schaffen das zusammen.“

Amen.

Autor: Simon Hurtz | Grafik: sympathiegestalten.de