Salut und herzlich Willkommen zur 594. Ausgabe des Social-Media-Watchblog-Briefings. Heute blicken wir auf den Start der Tagesschau bei TikTok und lassen uns von Marcus Bornheim, Erster Chefredakteur ARD-aktuell, erklären, warum die Tagesschau auf TikTok aktiv wird. Zudem beschäftigen wir uns dreifach mit der Integrität von Wahlen und der Frage, wie die Industrie hinter gekauften Likes und Followern funktioniert. Wir wünschen eine gewinnbringende Lektüre und bedanken uns für das Interesse, Martin & Team
Tagesschau startet TikTok-Account
Was ist: Die Tagesschau ist seit Mittwoch auf TikTok mit einem eigenen Account aktiv: tiktok.com/@tagesschau.
Die Resonanz auf das erste Video hätte kaum geringer ausfallen können: über 800.000 Views, mehr als 100.000 Likes und über 30.000 Follower sind erstaunliche Werte für den Start eines neuen Accounts – selbst für die Tagesschau. Allerdings teilen nicht alle die Idee, dass die Tagesschau auf TikTok aktiv sein sollte. Dieser Tweet von mir zeigt, wie unterschiedlich die Reaktionen sind.
Warum ist das überhaupt ein Thema?
- Bislang gibt es nur sehr wenige Medienangebote, die auf TikTok aktiv sind – in Deutschland etwa 1Live oder das experimentelle Jugendmagazin der Axel Springer Akadamie Hawaiitoast.
- Auch in den USA gibt es bislang nur wenige Medienunternehmen, die auf TikTok aktiv sind – etwa BuzzFeed oder die Washington Post.
- All diesen Angeboten ist gemein, dass sie auf der Plattform bislang nicht Journalismus im klassischen Sinne praktizieren – vielmehr handelt es sich um TikTok-typische Inhalte und Infotainment-Angebote.
Warum ist TikTok als Social-Media-Angebot so interessant?
- TikTok hat aktuellen Schätzungen von SensorTower zufolge jüngst die Marke von 1,5 Milliarden Downloads geknackt.
- Damit ist TikTok derzeit die am drittmeisten heruntergeladene Non-Gaming-App – hinter WhatsApp mit 707,4 Millionen Installierungen und Messenger mit 635,2 Millionen Installierungen.
- Zwar hält TikTok mit Zahlen zur täglichen / monatlichen Nutzung hinterm Berg, aber sehr wohl lässt sich beobachten, dass die App insbesondere in der jüngeren Zielgruppe sehr populär ist.
Was ist problematisch an TikTok? Das Unternehmen TikTok gehört zum chinesischen Startup ByteDance. Zwar beteuert das Unternehmen in offiziellen Statements (siehe New York Times) und persönlichen Gesprächen immer wieder, dass sie maximal autark von der chinesischen Mutterfirma agieren würden und keinerlei Nutzerdaten aus dem Westen in China gespeichert würden, aber das ist aus vielerlei Gründen nur die eine Seite der Medaille. Einige Beispiele:
- Erstens hat ByteDance nicht dementierten Medienberichten zufolge rund eine Milliarde Dollar in die Expansion von TikTok investiert. Da kann von Unabhängigkeit natürlich nur bedingt die Rede sein.
- Zweitens hat TikTok eine chinesische Schwester-App, Douyin, die bereits viele Funktionen aufweist, die bei TikTok Stück für Stück implementiert werden. So gibt es zumindest in der Entwicklung der Apps eine Form der Zusammenarbeit. (siehe Briefing #587)
- Drittens hat der Guardian jüngst berichtet, dass bis zum Frühjahr 2019 Angestellte in China das letzte Wort bei Moderationsentscheidungen von TikTok-Angestellten hatten. Das widerspricht fundamental der Darstellung des Unternehmens, China habe keinen Einfluss auf die Inhalte bei TikTok.
- Viertens geht aus geleakten Unterlagen hervor, dass TikTok bestimmte Inhalte und Themen in vielen westlichen Ländern zu Beginn nicht erlaubte, daher direkt gelöscht wurden und/oder ihre Sichtbarkeit eingeschränkt wurde. Zitat aus dem Guardian:
„A ban on criticism of China’s socialist system, for instance, comes under a general ban of “criticism/attack towards policies, social rules of any country, such as constitutional monarchy, monarchy, parliamentary system, separation of powers, socialism system, etc”. Another ban covers “demonisation or distortion of local or other countries’ history such as May 1998 riots of Indonesia, Cambodian genocide, Tiananmen Square incidents”.
- Fünftens hat sich TikToks Mutter ByteDance in Person von CEO Zhang Yiming dazu verpflichtet, den „four onsciousnesses” von Chinas Staatschef Xi Jinping gerecht zu werden: dazu gehört die „correct guidance of public opinion“ – also die korrekte Führung der öffentlichen Meinung. (Siehe China Media Project)
- Sechstens wolle man sich bei ByteDance in China um eine „Vertiefung der Zusammenarbeit mit den maßgeblichen Medien der offiziellen Partei“ bemühen. (Siehe China Media Project)
Warum die Tagesschau auf TikTok aktiv wird, erklärt uns Marcus Bornheim, Erster Chefredakteur ARD-aktuell, per Email-Interview. Frage 5 & 6 wurden in einer Antwort zusammengefasst:
1) Was sind die Gründe dafür, mit der Tagesschau einen Account auf TikTok zu betreiben?
„TikTok ist eine stark wachsende Plattform, gerade für jüngere Nutzerinnen und Nutzer. Die Tagesschau hat den Auftrag, die gesamte Gesellschaft zu erreichen. Mit klassisch linearem Fernsehen gelingt dies nur zum Teil.“
2) Welche Inhalte wird die Tagesschau auf ihrem TikTok-Account teilen?
„TikTok hat natürlich einen Schwerpunkt beim Thema Unterhaltung. Wir wollen dort aber auch Journalismus machen. So werden z.B. auch erklärende Beiträge dazu gehören.“
3) Wie viele Personen sind in die Produktion der Inhalte, respektive die Betreuung des Accounts eingebunden?
„Das Social-Media-Team betreut den TikTok-Account.“ (Dazu Kollege Patrick Weinhold: Die Tagesschau besetzt 12 redaktionelle Social-Schichten am Tag, hinzu kommen technische Gewerke wie Social-CutterInnen und -GrafikerInnen, sowie die KollegInnen aus der Innovationsabteilung. Die 12 KollegInnen produzieren natürlich nicht ausschließlich für TikTok. Sie produzieren Inhalte für YouTube, Instagram, Twitter, Facebook und Telegram und bearbeiten mehr als 20.000 Kommentare täglich.)
4) TikTok hat erklärt, dass politische Inhalte auf der Plattform nur bedingt eine Rolle spielen sollen – so sind etwa politische Anzeigen verboten: Warum wird die Tagesschau trotzdem TikTok nutzen?
Wir wollen journalistische Inhalte auf die Plattform bringen und beobachten, ob sie funktionieren. Neben TikTok-typischen Videos, werden wir auch verstärkt erklärende und journalistische Inhalte ausprobieren. Schon jetzt gibt es auch durchaus politische und gesellschaftlich relevante Themen, die bei TikTok viral gehen – etwa zum Klimaschutz oder der Europapolitik.“
5) Bei TikTok hatten laut Guardian bis zum Frühjahr 2019 noch ByteDance-Angestellte aus China das letzte Wort bei Moderations-Entscheidungen. Wie geht die Tagesschau damit um?
6) TikToks Mutterkonzern ByteDance hat sich in Person von CEO Yiming 2018 dazu verpflichtet, den „four onsciousnesses” von Chinas Staatschef Xi Jinping gerecht zu werden: dazu gehört die „correct guidance of public opinion“, also die korrekte Führung der öffentlichen Meinung. Zudem wolle man sich bei ByteDance in China um eine „Vertiefung der Zusammenarbeit mit den maßgeblichen Medien der offiziellen Partei“ bemühen. Warum wird die Tagesschau die Plattform trotzdem nutzen?
„Wir werden das genau beobachten. Sollten wir feststellen, dass es hier Beeinträchtigungen unserer journalistischen Freiheit gibt, werden wir reagieren.“
Be smart: Bei der Tagesschau wird imho seit Jahren extrem gute Arbeit geleistet, allen voran auch, was das Thema Social Media angeht. Die jüngsten Zahlen untermauern das (Siehe Horizont). Ich sehe sehr wohl, dass sich die Tagesschau mit dem Einstieg bei TikTok auf schwieriges Terrain begibt. Gleichwohl sehe ich die Notwendigkeit für Medienhäuser, dort präsent zu sein, wo die NutzerInnen sind. Wenn die Tagesschau es schafft, fundierten Journalismus auf TikTok zu platzieren, dann wäre das definitiv ein Gewinn.
Read on: Hier geht es zu weiteren Artikel von uns zum Thema:
- Der Hype um TikTok, erklärt (13.2.2019)
- Journalismus bei TikTok (18.3.2019)
- TikTok und Hongkong (16.9.2019)
- Zensur bei TikTok (27.9.2019)
- Politische Werbung auf TikTok (7.10.2019)
Integrität von Wahlen
Google ändert Wahlanzeigen-Policy: Um Missbrauch vorzubeugen, ändert Google seine Wahlwerbe-Richtlinien. Bereits zur Wahl in Großbritannien wird es nicht mehr möglich sein, Daten aus Wahlregistern und Daten über die politische Gesinnung zu nutzen. Vielmehr würde das Targeting auf das Alter, Geschlecht, Standort und Postleitzahlen begrenzt, berichtet NBC News.
Snapchat kündigt Überprüfung von Wahlanzeigen an: Nachdem in den vergangenen Wochen Facebook und Twitter erklärt haben, dass sie politische Werbeanzeigen nicht überprüfen wollen (Facebook), bzw. nicht mehr zulassen wollen (Twitter), hat sich nun Snapchats CEO Evan Spiegel zu Wort gemeldet und angekündigt, politische Werbung überprüfen zu wollen (BBC). Laut Spiegel würde sich bei Snapchat künftig ein spezielles Team um die Überprüfung kümmern.
Britische Konservative geben sich als Fact-Checker aus: Während des TV-Duells zwischen Premierminister Boris Johnson und Oppositionsführer Jeremy Corbyn hat sich die konservative Partei auf Twitter als factcheckUK ausgegeben – samt neuem Namen, neuem Logo und neuem Banner. Twitter verurteilte das Vorgehen als Täuschung der Öffentlichkeit und drohte Konsequenzen an. Das Journalismus-Projekt First Draft, das vielen LeserInnen als Urheber der „Trumpet of Amplification“ bekannt sein dürfte, zeigt, dass es bereits viele anderen Nationen gibt, die ähnlich wie die Torries vorgegangen sind: The UK just joined the club of countries where the ruling party created its own ‘fact-checking’ service.
Follow the money
ByteDance ↗️: TikToks Mutter ist jetzt die Nummer 2 (CNBC) in China, was Werbeeinnahmen angeht – zwar noch hinter Alibaba (≙ Amazon), aber bereits vor Tencent (QQ, WeChat) und Baidu (≙Google). Im Jahresvergleich wuchs ByteDance im ersten Halbjahr 2019 um 113%. TikTok ist für einen Großteil der Mehreinnahmen verantwortlich.
Empfehlung fürs Wochenende
Die Applaus-Fabrik: Die wunderbaren Kollegen von VICE haben einen spannenden Artikel darüber geschrieben, wie die Industrie hinter gekauften Likes und Followern funktioniert, wie Like-Händler weltweit soziale Medien manipulieren, ihre Spuren verwischen und Plattformen wie Facebook und Instagram austricksen. Eine wirklich tolle Recherche von Sebastian Meineck und Theresa Locker.
Neues von den Plattformen
- Neue Meme-App: Facebook testet in Kanada derzeit eine neue Meme-App, die auf den Namen Whale (Product Hunt) hört. Die App lässt NutzerInnen Fotos mit eigenen Texten und Aufklebern dekorieren, um diese neu kreierten Memes dann direkt mit Freunden oder aber auf anderen Social-Media-Plattformen zu teilen. Die App stammt vom selben Entwickler-Team, über das wir in Ausgabe #591 berichteten.
- Hide Reply wird jetzt weltweit ausgerollt (Techcrunch). Es wird spannend zu sehen, ob das die Kommunikation auf Twitter angenehmer macht.
- Scheduling auch via twitter.com: Einem Bericht von Adweek zufolge testet Twitter derzeit die Option, Scheduling auch via twitter.com zu ermöglichen.
One more thing
Wir verlosen noch drei Tickets für den VOCER Innovation Salon – dem Nachfolger des VOCER Innovation Day beim SPIEGEL. Das Event findet kommenden Samstag, also am 23.11.2019, in Hamburg statt und bietet Talks zum Journalismus und Geschichten hinter den Geschichten. Zudem wird der #Netzwende Award 2019 verliehen und vollehalle – Die Klimashow, die Mut macht – performt. Wer Bock hat, beim Event dabei zu sein, schreibt einfach eine Email mit dem Betreff „VOCER“ an uns zurück. Die ersten drei Einsendungen gewinnen. Alles ohne Gewähr, ist klar. Wir sind auch vor Ort. Viel Glück!
Header-Foto von Alexandre Chambon bei Unsplash
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