Von NetzDG bis Privacy-Shield: Parlamente und Gerichte nehmen das Netz ins Visier
Was ist
In den vergangenen Wochen wurden eine Menge Urteile gefällt, Gesetze verabschiedet und Kartellverfahren vorangetrieben, die das Netz und die großen Plattformen betreffen. Wir geben einen Überblick, wer gerade wo und wie versucht, den digitalen Raum zu regulieren.
Warum das wichtig ist
Jahrzehntelang hat die Politik weitgehend taten- und hilflos zugesehen, wie Tech-Konzerne immer mächtiger wurden. Sie hat die Tragweite der digitalen Revolution unterschätzt und es versäumt, Gesetze den neuen Gegenebenheiten anzupassen. Stattdessen haben die Plattformen ihre Regeln einfach selbst geschrieben.
Das Ergebnis ist das "Wild Wild Web", das wir in Briefing #654 beschrieben haben. Selbst Facebook sagt mittlerweile, das aktuelle Datenschutzrecht sei "unzureichend" (Washington Post) – wobei solche Aussagen und White Paper (PDF) natürlich mit einem Eigeninteresse verbunden sind: Facebook will Einfluss auf künftige Gesetzgebung nehmen. Umso wichtiger sind Politikerïnnen und Juristïnnen, die verstehen, wie sie das wilde Web zähmen können.
Deutschland: Urheberrecht
- Vor gut einem Jahr wurde die EU-Urheberrechtsreform beschlossen. Jetzt muss Deutschland die Richtlinie bis Juni 2022 in nationales Recht umsetzen.
- Kürzlich veröffentliche das Bundesjustizministerium einen Diskussionsentwurf, der unter anderem klären soll, wie die besonders kontrovers diskutierten Upload-Filter gestaltet werden können.
- Tabea Rößner, netzpolitische Sprecherin der Grünen, hat mir erklärt (SZ), wie sie den Entwurf einschätzt.
- Ihre Kernaussage: "Der größte Humbug der Urheberrechtsdebatte aus dem vergangenen Jahr war die Behauptung von Union und SPD, die Richtlinie könne national ohne Upload-Filter umgesetzt werden.
- Es führt also kein Weg an Upload-Filtern vorbei. Jetzt geht es darum, den Schaden möglichst gering zu halten.
- Der aktuelle Entwurf enthält einige sinnvolle Vorschläge und versucht, die Rechte von Nutzerïnnen und Kreativen zu stärken. Ausführlichere Analysen gibt es bei Netzpolitik, iRights und LTO.
Deutschland: Maßnahmenpaket gegen Hasskriminalität
- Anfang Juli verabschiedete der Bundesrat das "Gesetz gegen Rechtsextremismus und Hasskriminalität", über das wir unter anderem in Briefing #628 berichtet haben. Der Bundestag hatte bereits zugestimmt.
- Das Gesetzespaket ergänzt das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG), das zusätzlich weiterentwickelt und in Teilen verschärft werden soll (BMJV).
- Die wichtigsten Eckpunkte des neuen Maßnahmenpaket stellt die Bundesregierung auf ihrer Webseite dar.
- Eine gute Einordnung liefert Max Hoppenstedt, der an vier Beispielen erklärt (Spiegel), warum Opposition, Büergrrechtlerïnnen und Ermittlerïnnen skeptisch sind:
- Telegram, Discord und andere problematische Foren und Plattformen bleiben außen vor.
- Es werden automatisch IP-Adressen und Usernamen ans BKA geschickt – ohne richterliche Prüfung.
- Viele Sonderstaatsanwaltschaften sind jetzt schon überfordert. Es droht eine Überlastung der Justizbehörden der Länder (LTO). Der Richterbund fordert deshalb mehr Personal (RND).
- Tech-Konzerne müssen Inhalte selbst melden. Damit verbleibt ein wichtiger Teil der Entscheidung in den Händen der Content-Moderatorïnnen, denen es oft an Expertise mangelt.
Deutschland: Kartellamt vs. Facebook
- Der BGH hat dem Bundeskartellamt Recht gegeben. Die Behörde hatte Facebook verboten, Daten von WhatsApp, Facebook und Instagram miteinander zu verknüpfen.
- Das Oberlandesgericht Düsseldorf hatte im August den Vollzug der Anordnung außer Kraft gesetzt.
- Mit dem aktuellen Urteil gilt wieder: Facebook darf Daten nur zusammenführen, wenn Nutzerïnnen explizit zustimmen.
- Das Kartellamt kann nun von Facebook verlangen, innerhalb von vier Monaten einen Plan zu präsentieren, um die Zusammenführung von Daten zu "Superprofilen" zu stoppen.
- Das Hauptverfahren geht aber vor dem OLG weiter, könnte sich noch lange hinziehen und vor dem EuGH landen (Handelsblatt).
- Detailliertere und juristisch fundierte Analysen gibt es bei Heise und der SZ.
EU: Schrems vs. "Privacy Shield"
- Vergangene Woche hat der EuGH entschieden: Das transatlantische Datenschutzabkommen "Privacy Shield" ist ein leeres Versprechen – es schützt Daten eben nicht, zumindest nicht ausreichend.
- Nach dem Safe-Harbor-Abkommen ist es die zweite Vereinbarung zwischen EU und USA, die von den Luxemburger Richterïnnen gestoppt wird.
- Geklagt hatte erneut Max Schrems, der abermals zeigt, wie viel auch einzelne Bürgerïnnen mit (enormen) Beharrungsvermögen erreichen können.
- Der EuGH ist der Meinung, dass der Privacy Shield keinen Schutz vor US-amerikanischen Überwachungsprogrammen wie Prism oder Upstream bietet. Die USA müssten nun "solide Datenschutzrechte für alle Menschen – auch für Ausländer – einführen", sagt Schrems.
- Das Urteil betrifft rund 5000 Unternehmen, die sich bei ihrer Datenübermittlung auf das bislang gültige Abkommen berufen hatten. Ihnen fehlt nun vorerst die Grundlage, weiter Daten europäischer Nutzerïnnen in den USA zu verarbeiten.
- Die Auswirkungen der Entscheidungen sind noch unklar. Es gibt unterschiedliche Interpretationen, ob auch die sogenannten Standardvertragsklauseln davon betroffen sind, auf die sich etwa Facebook stützt.
- Schrems ist überzeugt, dass auch die Klauseln nun ungültig sind. Facebook beteuert dagegen, der EuGH habe die Wirksamkeit der Klauseln bestätigt.
- Die EU-Kommission hatte sich bereits darauf vorbereitet, dass der Privacy Shield scheitern könnte. Sie arbeitet jetzt mit den USA an einem neuen Regelwerk und will unter anderem die Standardvertragsklauseln anpassen.
- Die Berliner Datenschutzbeauftragte Maja Smoltczyk sagt, Nutzerïnnen könnten Schadenersatz von Unternehmen verlangen (Heise), die weiter rechtswidrig Daten übermitteln.
- Die Folgen für Nutzerïnnen beleuchtet Lisa Hegemann (Zeit), der Jurist Ingemar Kartheuser analysiert das Urteil (LTO) aus der Sicht betroffener Unternehmen.
EU: Digital Service Act
- Das EuGH-Urteil wurde rauf- und runterberichtet. Vergleichsweise wenig mediale Aufmerksamkeit erhält dagegen ein anderes Vorhaben, an dem die EU-Kommission derzeit arbeitet: das "Gesetz für digitale Dienste", besser bekannt als Digital Service Act.
- Zu Unrecht: "Das neue Gesetz könnte die digitale Welt für immer verändern", schreiben Tomas Rudl und Alexander Fanta (Netzpolitik).
- Die EU will damit den digitalen Binnenmarkt vereinheitlichen, einen Kontrollrahmen für Plattformen wie Facebook und YouTube schaffen sowie fairen Wettbewerb sichern.
- Unter anderem könnte eine sogenannte Ex-ante-Regulierung ermöglichen, bereits dann kartellrechtliche Maßnahmen einzuleiten oder Übernahmen zu verbieten, wenn auf Grundlage einer Analyse des Status Quo künftige problematische Auswirkungen antizipiert werden.
- Das gilt etwa für Facebooks Digitalwährung Libra oder die Übernahmen von WhatsApp oder Instagram, die dann wohl nicht genehmigt worden wären.
- Bislang ist das Vorhaben eine Absichtserklärung, einen konkreten Textentwurf will die EU-Kommission erst Ende des Jahres vorlegen. Das Gesetz hat aber eine solche Tragweite, dass es sich lohnt, sich bereits jetzt damit auseinanderzusetzen.
- Auch deshalb empfehlen wir die ausführliche Analyse von Netzpolitik, die deutlich macht, warum das Digitale-Dienste-Gesetz so wichtig ist.
USA: TikTok-Verbot und Kartellermittlungen
- Über die Drohungen der USA, TikTok zu verbieten, haben wir in den vergangenen Wochen mehrfach berichtet. Außerdem planen wir dazu einen größeren Aufschlag.
- Obwohl es gut in unsere Liste passt, erwähnen wir das Thema an dieser Stelle nur kurz und sagen: Der Konflikt zeigt, dass Regierungen ihre Konflikte zunehmen im Netz austragen und Einfluss auf Tech-Konzerne nehmen.
- Auch abseits von TikTok laufen in den USA momentan eine Menge Ermittlungen, die das Netz nachhaltig prägen könnten. Dieser ständig aktualisierte Überblick (NYT) zeigt, wo und warum US-Kongress, Staatsanwältïnnen und Kartellbehörden gegen Amazon, Apple, Facebook und Google ermitteln.
- Unter anderem müssen Jeff Bezos, Mark Zuckerberg, Sundar Pichai und Tim Cook von Apple am 27. Juli vor dem Rechtsausschuss des US-Repräsentantenhauses aussagen.
- Auch die US-Handelskommission ermittelt gegen die Tech-Konzerne. Angeblich erwägt die FTC (WSJ), Zuckerberg und Sheryl Sandberg unter Eid zu vernehmen.
- Das Verfahren gegen Facebook dürfte sich aber noch länger hinziehen: Eigentlich sollte es vor der US-Wahl 2020 abgeschlossen sein, jetzt sieht es aber so aus, als werde es bis 2021 dauern (NYT).
- Deutlich schnellere Fortschritte machen die Ermittlungen des US-Justizministeriums gegen Google. Unter Führung von Kalifornien machen 48 Staatsanwältïnnen der Bundesstaaten Druck und treiben das Verfahren voran (Politico).
- Es geht darum, ob Google seine marktbeherrschende Stellung ausnutzt (Bloomberg), eigene Produkte in Suchergebnissen bevorzugt und immer weniger Nutzerïnnen auf die Webseiten von anderen Unternehmen weiterleitet.
- Im vergangenen Jahr habe ich ausführlich über die Veränderung der Google-Suchergebnisse geschrieben (SZ), der damalige Anlass: Erstmals lösten mehr als die Hälfte der Suchanfragen keinen weiteren Klick aus.
- In einer dreiteiligen Serie versucht der SEO-Experte Rand Fishkin (1, 2, 3) bei SparkToro, den Google-Algorithmus zu durchleuchten. Sein Fazit: Google pusht eigene Dienste unverhältnismäßig, und wer auf der ersten Seite auftauchen will, muss fast immer eine Anzeige kaufen.
- Besonders auffällig ist das bei Suchen nach Videos – wo fast immer in erster Linie Ergebnisse von YouTube auftauchen (WSJ).
- Im Mai nannte die New York Times die Ermittlungen gegen Google "one of the biggest antitrust actions by the United States since the late 1990s".
- Im vergangenen Jahr hat die EU-Kommission Google die dritte Milliardenstrafe binnen drei Jahren aufgebrummt. Das Kartellverfahren in den USA könnte Google noch härter treffen.
Be smart
Die Versäumnisse der vergangenen Jahre lassen sich nicht ungeschehen machen. Aber Parlamente, Gerichte und Kartellämter haben es in der Hand, das Web der 20er-Jahre entscheidend mitzuprägen. Von Straf- über Urheber- und Datenschutz- bis Wettbewerbsrecht müssen sie fast alle Rechtsgebiete modernisieren, um aus dem Netz der Großkonzerne wieder ein Netz der Nutzerïnnen zu machen.
In Hongkong, China und den USA zeigt sich aber, dass Regierungen dem Netz auch schaden können. Das World Wide Web darf sich nicht in ein Splinternet verwandeln, in dem je nach Land eigene Regeln gelten und bestimmte Dienste nicht erreichbar sind. in einer digitalisierten und globalisierten Welt braucht es deshalb möglichst globale oder zumindest supranationale Institutionen, um das Netz sinnvoll zu regulieren.
Kampf gegen Desinformation
- TikTok startet die Kampagne „Be Informed“ (Fast Company), um Nutzerïnnen in Sachen Medienkompetenz zu schulen. Mehr Kompetenz ist immer eine gute Sache! Von daher: 👍🏻
- Facebook: Facebook hat angekündigt, sämtliche Beiträge von Präsidentschaftskandidaten mit Hinweisen auf öffentliche Quellen zu versehen (Axios), wenn die Postings Bezug auf Wahlen nehmen – und zwar ganz unabhängig davon, ob die Beiträge Fehlinformationen enthalten.
Video Boom
- AGF-Studie: 90 Prozent der Jugendlichen schauen täglich Videos im Fernsehen oder im Netz. Das ist das Ergebnis einer aktuellen AGF-Studie (PDF, Pressemitteilung, Video), die sich mit dem Videokonsumverhalten von Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen 3 und 17 Jahren beschäftigt. Besonders spannend: Bei den Lieblings-Apps für Videos liegt in allen Alterssegmenten YouTube klar vorn. Netflix folgt auf dem zweiten Platz. Einzige Ausnahme: „Bei den 10- bis 13-Jährigen hat sich TikTok bereits auf den 2. Platz vorgeschoben.“
Neue Features bei den Plattformen
- Shop und Facebook Pay: Instagram gibt weiter Gas, was das Thema E-commerce angeht. Ab dieser Woche wird das bereits im vergangenen Jahr angekündigte Shopping-Feature ausgerollt (The Verge). Zudem können Nutzerïnnen fortan auch bei Instagram Facebook Pay nutzen. Gern schauen wir uns diesen Themenkomplex in einer der kommenden Ausgaben ausführlicher an. Follow the money.
Snapchat
- Profilseiten: Snapchat kann jetzt auch Fanpages. Also halt in chic. Vorerst handelt es sich zwar nur um einen Test mit ausgewählten Unternehmen. Aber schon ganz bald könnten Firmen auch bei Snapchat eigene Präsenzen aufbauen (müssen).
- Minis: In Ausgabe #646 hatten wir darauf hingewiesen, dass Snapchat sogenannte Mini Apps einführen möchte. Jetzt lässt Snapchat Taten folgen und läutet mit dem Launch von vier Apps eine neue Ära für die Plattform ein. Mit dabei: das populäre Meditationsprogramm „Headspace“, ein Lern-Programm mit dem Namen „Flashcards“, ein interaktiver Messenger-Service namens „Prediction Master“ und „Let’s Do It“, eine App von Snapchat, die es Freundïnnen erleichtern soll, sich auf etwas zu einigen. Wie solche Mini-Programme innerhalb von Snapchat aussehen könnten, zeigt dieser Trailer (YouTube).
- Neues Interface für Direktnachrichten: Twitter macht jetzt einen auf LinkedIn / Facebook und lässt Nutzerïnnen Direktnachrichten schreiben, ohne den Feed verlassen zu müssen. Eigentlich nice. Nur können wir aus Sicherheitsbedenken nicht empfehlen, Direktnachrichten bei Twitter jenseits einer initialen Kontaktaufnahme zu nutzen. Eine End-2-End-Verschlüsselung wäre ein Traum. Come on Twitter, you can do it!
- Image Gallery: Bei Reddit können Nutzerïnnen bald bis zu 20 Inhalte in einem Post veröffentlichen. Eigentlich verrückt, dass das überhaupt eine Nachricht ist.
- G Suite: Google bohrt seine G Suite auf, um Slack und Teams ordentlich Feuer zu machen. Business Insider hat erste Hinweise, welche Google-Dienste künftig alle von einem Ort aus genutzt werden können.
Tipps, Tricks und Apps
- Online-Recherche-Newsletter: Der sehr geschätzte Kollege Sebastian Meineck hat einen Newsletter zum Thema Online-Recherche gelauncht. Wer sich für Tools und Apps aus diesem Metier interessiert, sollte Sebastians Newsletter hier direkt abonnieren. Dort gibt es z.B. so tolle Hinweise wie den zur Reverse Analytics-Suche – ein Service, der aufzeigt, hinter welchen Websites möglicherweise dieselben Menschen stecken. Mega spannend!
One more thing
- Verschwörungstheorien bereiten uns in unserem Briefing immer wieder Kopfschmerzen. Der fabelhafte John Oliver hat sich dem Thema angenommen und erklärt auf unnachahmliche Weise, warum dieser Wahnsinn gerade mit Blick auf das Coronavirus so gefährlich ist. Wenn Lachen und Heulen so nah beieinander liegen…
Header-Foto von Nathan Dumlao bei Unsplash
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