Kein Algorithmus ist auch keine Lösung
Was ist
Die Facebook Files enthalten mehrere Dokumente mit Experimenten, die untersuchen, ob Facebook mit einem strikt chronologisch sortierten Newsfeed automatisch besser wäre – für das Unternehmen, für die Nutzerinnen und für die Gesellschaft. Glaubt man den Zahlen, dann lautet die Antwort: dreimal nein.
Warum das wichtig ist
- Seit Jahren muss "der Facebook-Algorithmus" (ein komplexes Machine-Learning-System, das in Wirklichkeit aus etlichen unterschiedlichen Algorithmen besteht) immer wieder als Sündenbock für Hass, Desinformation und Radikalisierung in sozialen Medien herhalten.
- Dafür gibt es gute Gründe. Wie fast jede andere Plattform optimiert Facebook sein System auf Verweildauer und Interaktionen. Das begünstigt Inhalte, die Emotionen ansprechen, mit einfachen Wahrheiten und eine graue Welt in eine Schwarz-Weiß-Karikatur verwandeln: wir gegen die.
- Facebook ist also keine neutrale Plattform, die einfach nur abbildet, was Menschen dort schreiben. Vielmehr greift Facebook ein, verbirgt, verstärkt oder pusht bestimmte Postings.
- Doch wer glaubt, dass sich die grundlegenden Probleme ohne Algorithmus von selbst auflösen, macht es sich zu einfach. Das gilt etwa für die Demokraten in den USA, die Plattformen mit einem Gesetzentwurf dazu zwingen wollen, einen chronologischen Newsfeed anzubieten.
Was die Experimente zeigen
- Vorab: Es handelt sich um Dokumente aus den Jahren 2014 und 2018. In beiden Fällen wurde einer kleinen Testgruppe standardmäßig ein chronologischer Newsfeed angezeigt. Wir wissen nicht, wie lange die Experimente andauerten und wie viele Nutzerïnnen (unwissentlich) teilgenommen haben. Das geht aus den Posts auf Facebooks Kommunikationsplattform Workplace nicht hervor.
- Die Inhalte wurden zwar strikt chronologisch sortiert, ein Filter blieb aber erhalten: Als erste Stufe seines Ranking-Prozesses prüft Facebook, ob Inhalte mit den Integritätskriterien vereinbar sind (mehr dazu in dieser ausführlichen, technischen Erklärung). Erst nachdem aussortiert wurde, beginnt die Priorisierung. Diese Vorfilterung wurde für das Experiment beibehalten.
- Da die Versuche schon länger zurückliegen und wir keine Details über die Methodik kennen, beschränken wir uns auf eine grobe Zusammenfassung.
- Über beide Experimente wurde bereits berichtet: Zuerst entdeckte Alex Kantrowitz (Big Technology) das Dokument "What happens if we delete ranked News Feed?", dann fiel Will Oremus ein ähnliches, älteres Experiment auf (WaPo).
- Nutzerïnnen, die Inhalte chronologisch sortiert sehen, verbringen weniger Zeit mit der App, betrachten weniger Videos, teilen weniger Inhalte und schreiben weniger Kommentare.
- Dafür blenden sie signifikant mehr Postings aus (scheinen die Inhalte also für irrelevant zu halten) und sehen mehr Inhalte aus Facebook-Gruppen in ihrem Feed (die sonst weiter unten oder gar nicht angezeigt worden wären).
- Interessanterweise verdiente Facebook mit der Testgruppe sogar mehr Geld, weil Menschen länger durch den Newsfeed scrollen mussten, um interessante Inhalte zu finden. Deshalb sahen sie auch mehr Anzeigen.
- Das gilt aber natürlich nur, wenn Nutzerïnnen Facebook weiter regelmäßig öffnen. Es könnte gut sein, dass sie von den als irrelevant empfundenen Inhalten nach einiger Zeit so genervt wären, dass sie sich komplett von Facebook abwenden. Die Experimente liefen aber nicht lang genug, um solche Auswirkungen zu beobachten.
- Spannend ist diese Erkenntnis: Trotz der oben beschriebenen Integritätsfilterung stieg der Anteil unseriöser und unerwünschter Inhalte. Im Dokument heißt es: "Interestingly, at first integrity bad metrics still short through the roof".
- Erst nachdem die Filterung verstärkt wurde (also mehr Inhalte vorab aussortiert wurden als bei einem algorithmisch sortierten Newsfeed), normalisierte sich der Anteil wieder.
Was die Experimente nicht zeigen
- Seit 2009 sortiert Facebook den Newsfeed. Menschen haben sich daran gewöhnt. Wenn Facebook für einen kurzen Zeitraum für kleine Testgruppen die Sortierlogik ändert, dann lässt das keinen Rückschluss darauf zu, wie sich Menschen verhielten, wenn die chronologische Ordnung der Standard wäre.
- Vermutlich hätten sie gelernt, viel stärker selbst zu kuratieren, Inhalte von Anfang an auszublenden und Seiten zu entfolgen. Damit Nutzerïnnen entsprechende Kompetenzen entwickeln, muss man ihnen Zeit und Werkzeuge an die Hand geben.
- Wenn Nick Clegg deshalb öffentlich behauptet (ABC), dass Nutzerïnnen mit einem chronologischen Newsfeed mehr Hassrede, Desinformation und gefährliche Inhalte sähen, ist das nur ein Teil der Wahrheit.
- "Those algorithmic systems precisely are designed like a great sort of giant spam filter to identify and deprecate and downgrade bad content", sagt Clegg. Das stimmt. Aber dieser Spam-Filter ist auch deshalb nötig geworden, weil Facebook Nutzerïnnen jahrelang bevormundet hat.
Be smart
- In der Theorie gibt es einen chronologischen Newsfeed, der über diesen Direktlink erreichbar ist. In seinem Hilfebereich erklärt Facebook die Einstellung.
- Um direkt in der App darauf zuzugreifen, muss man erst nach unten scrollen, dann wieder ein Stück nach oben. Daraufhin wird am oberen Bildschirmrand eine kleine Leiste eingeblendet, über die man auf die Einstellung "Recent" wechseln kann. Auch am Desktop sind mehrere Klicks und gute Augen nötig: "See More > Most Recent".
- Kurzum: Kaum jemand dürfte die Einstellung kennen, und zu allem Überfluss setzt sich die Option auch noch jedes Mal zurück, wenn man Facebook neu öffnet. Deshalb halten wir die Kritik von Facebooks Privacy Policy Director Kevin Bankston für überzogen, der Will Oremus Ungenauigkeit und Irreführung vorwirft (Twitter).
- Wir glauben auch nicht, dass es darum gehen sollte, sich nur zwischen einem gerankten und einem ungerankten Feed zu unterscheiden. Sinnvoller wäre es, wenn Facebook Nutzerïnnen mehr Möglichkeiten gäbe, den Newsfeed selbst zu kuratieren.
- Außerdem landen wir, wie so oft, beim Thema Transparenz. Nur Facebook weiß, wie Facebook rankt, und das ist ein Problem.
Instagram und YouTube buhlen um TikTok-Creator
Was ist
Erst haben alle von Snapchat kopiert und Stories zum dominierenden Social-Media-Format gemacht. Derzeit wiederholt sich die Geschichte mit TikTok. Instagram und YouTube haben mit Reels und Shorts das Kurzvideo-Format adaptiert – und versuchen jetzt auch mit aller Macht, Creator zu überzeugen, TikTok den Rücken zu kehren.
Wie Creator gelockt werden sollen
- Instagram zahlt bis zu 10.000 Dollar pro Reel (TechCrunch), dafür muss das Video aber besonders unterhaltsam und erfolgreich sein (Instagram). Manche Creator verdienen derzeit 35.000 Dollar pro Monat mit Reels (Insider). Je nach Größe und Reichweite werden drei- bis vierstellige Beträge pro Video angeboten.
- Die genaueren Kriterien sind aber unklar, die Beträge schwanken stark (TechCrunch). Das Creator Play Bonus Program (Instagram) macht keine Angaben über die Höhe der Ausschüttungen.
- YouTube bietet bis zu 50.000 Dollar (Insider), verlangt dafür aber auch Dutzende Shorts, von denen ein Teil innerhalb von YouTube produziert werden muss (viele Creator zweitverwerten einfach ihre TikTok-Videos bei YouTube).
- Offenbar gibt es unterschiedliche Programme, es werden Accounts mit einigen tausend und mit mehreren Millionen Followern angefragt. Manche sollen Inhalte zu bestimmten Hashtags produzieren, andere eine gewisse Zahl an Shorts veröffentlichen.
War for Talent
- In Ausgabe #686 erklärten wir die "Klonkriege" der Plattformen, die sich alle gegenseitig kopieren.
- In Ausgabe #699 betrachteten wir den Kampf um die Kreativen, bei dem Unternehmen versuchen, Creator, Streamerinnen und Autoren zu umgarnen.
- In Ausgabe #733 nahmen wir den Deutschland-Start von YouTube Shorts zum Anlass, die Jagd auf TikTok zu beleuchten.
- Wir sind überzeugt, dass sich das Wettbieten in den kommenden Jahren fortsetzen und sogar noch verschärfen wird. Mobil produzierte und konsumierte Kurzvideos, die TikTok groß gemacht hat, sind gekommen, um zu bleiben. Jetzt brauchen die Plattformen Creator, die hochwertige Inhalte produzieren und Menschen dazu animieren, Zeit in den jeweiligen Apps zu verbringen.
- Instagram fügt Reels immer mehr TikTok-Funktionen hinzu (TechCrunch), YouTube lässt die App testweise direkt in der Shorts-Ansicht starten (Google), und auch Snapchat versucht, Spotlight als echten TikTok-Rivalen zu positionieren (Social Media Today).
- Im Moment sehen wir TikTok aber gut aufgestellt, um den Angriff abzuwehren. Technisch liegt die App vorn, der Video-Editor ist konkurrenzlos, der Content-Graph funktioniert für viele Nutzerïnnen besser als der Social-Graph anderer Netzwerke.
- Etliche Creator sind auf TikTok groß geworden und haben dort ihre Kernzielgruppe. Ein Umzug bedeutet zunächst immer einen Verlust an Reichweite. Und wenn sich herausstellt, dass Instagram und YouTube damit Erfolg haben, Creator mit Geld zu ködern, kann ByteDance – Jahresumsatz 2020: 34 Milliarden Dollar – locker mithalten.
Header-Foto von Matteo Modica
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