Was ist
Der nächste Scoop von Emily Baker-White (Forbes), den TikTok wohl lieber geheim gehalten hätte: Die Inhalte der For You Page (FYP) werden nicht nur von Algorithmen kuratiert. Mitarbeiterïnnen bei TikTok und ByteDance wählen offenbar seit Jahren Videos aus – und vervielfachen deren Verbreitung auf Knopfdruck.
Warum das wichtig ist
TikToks FYP ist eine der wichtigsten Bühnen der digitalen Welt. Hier entscheidet sich, wer viral geht, Follower gewinnt und lukrative Werbedeals abschließen kann. Content Creator versuchen alles, um mit ihren Inhalten möglichst viele Menschen zu erreichen.
Die landläufige Meinung war bislang: Über die Zusammensetzung der FYP entscheiden allein Algorithmen. Sie bestimmen, welche Inhalte wie vielen Menschen empfohlen werden. Im Gegensatz zu Facebook und Instagram setzt TikTok dabei weniger auf Verbindungen zwischen Nutzerïnnen, den sogenannten Social Graph, sondern auf Tausende verhaltensbasierte Signale.
Über die Jahre veröffentlichte TikTok ein paar vage Viralitäts-Kriterien (TikTok-Newsroom), gelegentlich leakten Details der mathematischen Formeln (mehr dazu in Ausgabe #767). Der Großteil des Codes blieb trotz aller Transparenzversprechen geheim.
Dass Baker-White mit ihren Recherchen jetzt einen unerwarteten Einblick in die Blackbox ermöglicht, dürfte nicht nur Nutzerïnnen und Konkurrenz interessieren, sondern auch EU und USA. Es braucht nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, wie die chinesische Regierung eine manuelle Boosting-Funktion für Inhalte missbrauchen könnte, um ihre Interessen durchzusetzen. Die Stimmen, die ein TikTok-Verbot fordern, werden durch solche Enthüllungen jedenfalls nicht verstummen.
Wie die „Heating“-Funktion funktioniert
- Baker-White hat für ihre Recherchen mit sechs aktuellen und ehemaligen Angestellten von TikTok und ByteDance gesprochen. Zudem konnte sie Dokumente und Kommunikation auswerten, die recht genau beschreiben, wie der manuelle Viralitätsschub eingesetzt wurde.
- Bei TikTok ist die Funktion intern als „heating“ bekannt. Angestellte können damit die Reichweite eines Videos steigern, damit es eine bestimmte Anzahl von Views erhält. In einem der Dokumente heißt es:
The total video views of heated videos accounts for a large portion of the daily total video views, around 1-2%, which can have a significant impact on overall core metrics.
- TikTok selbst hat die Existenz der Funktion zugegeben. Einer Sprecherin zufolge würden aber lediglich 0,02 Prozent der Videos auf der FYP manuell gepusht.
- Das muss kein Widerspruch zu den ein bis zwei Prozent der täglichen Views aus der internen Dokumentation sein. Falls beide Angaben zutreffen, verdeutlicht das nur, wie mächtig die Funktion ist. Wenn gerade mal eines von 5000 Videos auf der FYP geboostet wurde, Heating aber für einen von 50 Views verantwortlich ist, dann haben die manuellen Eingriffe großen Einfluss.
Warum Heating kein Skandal ist – aber ein erneuter Vertrauensbruch
- Wer eins und eins zusammenzählt, konnte sich denken, dass es bei TikTok eine solche Funktion gibt. Tatsächlich hat allein Chris Stokel-Walker mehrfach darüber berichtet (Twitter), etwa 2020 (Times) und 2022 (Twitter). Die Information wurde in den Artikeln und Tweets aber eher beiläufig erwähnt. Forbes hat deutlich mehr Informationen und macht daraus jetzt eine eigene Story – unserer Meinung nach zurecht.
- Wir halten es grundsätzlich für legitim, ausgewählte Inhalte manuell zu verbreiten. Letztlich sind auch die Algorithmen keine Magie: Entwicklerïnnen entscheiden mit ihrem Code, was viral geht – nur eben nicht für jeden Einzelfall aufs Neue. Diese Auswahl treffen dann die Maschinen, dahinter steckt aber immer eine Empfehlungslogik, die auf Menschen zurückgeht.
- Forbes zufolge führte TikTok die Heating-Funktion ein, um Inhalte zu diversifizieren. Damals dominierten Lip-Sync-Clips und Tanz-Videos. Deshalb durften Angestellte eingreifen. In der Dokumentation heißt es dazu:
The purpose of this feature is to promote diverse content, push important information, and support creators. If you make good use of it, heating resources will bring a leverage effect, a small amount of heating resources will bring about growth of midrange users, and a more diverse content pool.
- So weit, so nachvollziehbar. Trotzdem sehen wir zwei massive Probleme. Zum einen wurde Heating im Laufe der Jahre immer öfter eingesetzt, um Influencerïnnen und Marken zu umgarnen und zu Partnerschaften zu bewegen. Natürlich sind Creator und Unternehmen eher dazu bereit, wenn ihre Videos regelmäßig Millionen Menschen erreichen.
- Im Gegenzug bedeutet das: Wer keinen Deal mit TikTok abgeschlossen hat, leidet unter einem Wettbewerbsnachteil, von dem bislang kaum jemand ahnte.
- Den Recherchen zufolge wurde die Funktion auch in einigen Fällen missbraucht. Angestellte sollen etwa ihre eigenen Inhalte gepusht oder Videos ihrer Partnerïnnen hervorgehoben haben. Teils habe das den Accounts Millionen zusätzliche Views beschert.
- Zum anderen, und das halten wir für TikToks schwerwiegendsten Fehler, wurde die Existenz der Funktion nicht kommuniziert und Videos nicht gekennzeichnet. Das läuft allen Transparenzinitiativen zuwider und verstärkt den öffentlichen Eindruck, dass man TikTok nicht trauen könne.
- Auch Facebook, Instagram, Google und YouTube haben in der Vergangenheit manuell Inhalte hervorgehoben. Seit Beginn der Corona-Pandemie erhielten etwa seriöse Informationen zu Gesundheitsthemen einen Reichweitenschub und tauchten öfter in den Feeds auf. TikTok richtete 2020 ebenfalls ein Covid-19-Informationszentrum ein (TikTok-Newsroom). Vor und während Wahlen gab es ähnliche Initiativen.
- Die Plattformen kündigten diese Entscheidungen (Meta-Newsroom) aber öffentlich an (Google-Blog) und versahen entsprechende Inhalte mit Hinweisen.
- Im Gegensatz dazu fehlt bei Heated-Content jegliche Information, dass, wie und warum das Video auf der FYP landete.
- Im September 2019 wollten wir von TikTok wissen, „ob Inhalte von TikTok-Mitarbeitern auch händisch ausgewählt werden“, und schickten sechs detaillierte Fragen dazu. Die Antwort war schon damals maximal vage:
Der „Für Dich“-Feed nutzt Technologie, um jedem Nutzer eine persönliche Auswahl an Inhalten zur Verfügung zu stellen, die auf sein individuelles Nutzungsverhalten zugeschnitten ist. Statt also nur Videos von prominenten und einflussreichen Nutzern zu zeigen, empfiehlt der Feed Videos, die zu den Inhalten passen, die einem Nutzer tatsächlich gefallen. Mit dem Feed gibt TikTok seinen Nutzern die Möglichkeit, selbst zum Creator zu werden und eine neues, globales Publikum zu erreichen.
- Als TikTok kurz vor Weihnachten erklärte (TikTok-Newsroom), warum Videos empfohlen werden, hieß es bloß:
Our recommendation system is powered by technical models, so we tried to make the technical details more easily understandable by breaking down reasons like:
- user interactions, such as content you watch, like or share, comments you post, or searches
- accounts you follow or suggested accounts for you
- content posted recently in your region
- popular content in your region
- Ein Punkt fehlt: „Entscheidungen unserer Angestellten, die möchten, dass du bestimmte Inhalte siehst“.
Be smart
Vor zwei Wochen erklärten wir in Briefing #851, warum TikToks rasanter Aufstieg 2023 zu einem jähen Ende kommen könnte:
In den USA, aber auch in Europa, wächst das Misstrauen. Was dem Unternehmen Sorgen machen sollte: Ausnahmsweise sind sich Republikaner und Demokraten einig, dass von TikTok eine Gefahr ausgeht. Joe Biden könnte zu Ende bringen, woran sein Vorgänger Donald Trump schließlich das Interesse verlor: TikTok aus den USA zu verbannen.
Seitdem hat sich die Lage weiter zugespitzt:
- EU-Kommissar Thierry Breton drohte TikTok mit Regulierung und heftigen Strafen. Die Formulierung „alle möglichen Sanktionen“ beinhaltet auch die Möglichkeit eines Verbots, das der DSA theoretisch vorsieht (Heise).
- Eine Sprecherin sagt dazu: „TikTok hat die Absicht, den DSA und andere relevante EU-Gesetze einzuhalten; ein TikTok-Verbot in Europa wurde von den Parteien nicht diskutiert.“
- Weitere US-Bundesstaaten und Universitäten haben TikTok verbannt (NBC). (Wir halten das (WaPo) eher für Aktionismus (Slate).)
- Um ein Verbot zu verhindern, scheint TikTok zu weiteren Zugeständnissen bereit zu sein. Man will anderthalb Milliarden Dollar investieren (WSJ), um das US-Geschäft neu zu strukturieren. Im Zentrum sollen Transparenz und Kontrolle stehen, angeblich könnte der Code der Algorithmen extern durchleuchtet werden.
Nochmal: Die Heating-Funktion ist unserer Meinung nach kein Skandal, wie es das gezielte Ausspionieren von Journalistïnnen war, über das wir in Ausgabe #851 berichteten. Diese Brisanz hat TikTok auch selbst erkannt und sagt:
Das Fehlverhalten bestimmter Personen, die nicht mehr bei ByteDance beschäftigt sind, war ein ungeheuerlicher Missbrauch ihrer Befugnisse, um Zugang zu Nutzerdaten zu erhalten. Dieses Fehlverhalten ist inakzeptabel und steht nicht im Einklang mit unseren Bemühungen bei TikTok, das Vertrauen unserer Nutzer zu gewinnen. Wir nehmen die Datensicherheit unglaublich ernst und werden unsere Zugangsprotokolle, die seit diesem Vorfall bereits deutlich verbessert und verstärkt wurden, weiter verbessern.
Ein solches Mea Culpa dürfte im aktuellen Fall nicht folgen. Trotzdem hat TikTok der Öffentlichkeit zum wiederholten Mal wichtige Informationen verschwiegen. Das erschwert es, den Beteuerungen zu glauben, dass China rein gar nichts mit der App zu tun habe. Solche Reaktionen machen es nicht besser:
TikTok declined to answer questions about whether employees located in China have ever heated content, or whether the company has ever heated content produced by the Chinese government or Chinese state media.
Social Media & Politik
- Trumps Rückkehr zu Twitter und Facebook wird aller Voraussicht nach mit einem Abschied bei seiner eigenen Plattform Truth Social (Rolling Stone) einhergehen.
Follow the money
- Wie der Werbeanteil bei YouTube Shorts ausgerechnet wird, ist eine ziemlich komplizierte Kiste, wie dieses YouTube-Video zeigt.
- Patreon und Substack müssen sparen: Die Passion Economy nimmt nicht so an Fahrt auf, wie sich das viele Akteure gewünscht haben. In der Folge müssen die Plattformen, die den Boom maßgeblich befeuerten, vorerst kleinere Brötchen backen (Financial Times).
- Amazon bezahlt Influencer, damit sie die TikTok-ähnliche Plattform Inspire nutzen (Business Insider). Sonst wäre da wohl nicht viel los?!
Audio / Video
- Insta-Boss Mosseri gibt zu, dass sie es 2022 mit Video übertrieben haben. Dieses Jahr sollen Userïnnen wieder mehr Fotos serviert bekommen (The Verge):
We definitely have a number of photographers who have been upset. I want to be clear: though we are leaning into video, we still value photos. Photos will always be a part of Instagram.
I think we were overfocused on video in 2022 and pushed ranking too far and basically showed too many videos and not enough photos. We’ve since balanced, so things like how often someone likes photos versus videos and how often someone comments on photos versus videos are roughly equal, which is a good sign that things are balanced. And so, to the degree that there is more video on Instagram over time, it’s going to be because that’s what’s driving overall engagement more.
But photos are always going to be an important part of what we do. And there are always going to be people who love and are interested in finding photos on Instagram and elsewhere. And I want to make sure that we’re very clear about that.
Next (AR, VR, AI)
- NBA in Virtual Reality gucken: Weil der Verkauf von VR-Brillen bislang nicht den Erwartungen entspricht, versucht Meta neue Partner zu gewinnen, um das Angebot attraktiver zu machen. Eine Idee: NBA-Spiele als VR-Erlebnis (Meta Newsroom). Klingt eigentlich ganz verlockend…
- Wer hat Angst vor ChatGPT? Google! Um von jüngeren Angeboten wie ChatGPT und Co nicht überholt zu werden, hat Google seine Mitarbeiter in eine Art Alarmbereitschaft versetzt – sogar das Gründer-Duo Larry Page und Sergey Brin wurde reaktiviert (The Verge).
- ChatGPT für 42 Dollar im Monat: Weil viel Rechenpower viel Geld kostet, könnte es ChatGPT bald auch in einer kostenpflichtigen Version geben. Einzelne Nutzer berichten von einem bislang nicht offiziellen Angebot, monatlich 42 Dollar für die Nutzung zu bezahlen – mehr Verlässlichkeit und neue Features inklusive (The Verge).
Neue Features bei den Plattformen
- Quiet Mode: Instagram führt neue Funktionen (Meta Newsroom) ein, mit denen sich Notifications stummschalten und DMs mit einer Art Auto-Reply versehen lassen. Time Well Spent erlebt wirklich ein Comeback. Erstaunlich.
Messenger
- Privatsphäre-Einstellungen an einem Ort: Meta hat ein Update für das Account-Center angekündigt. Künftig soll es möglich sein, die Privatsphäre-Einstellungen für Facebook, Messenger und Instagram an einem Ort vorzunehmen (Meta Newsroom).
- Mehr Ende-zu-Ende-Verschlüsselung: In den kommenden Monaten sollen die Chats von Millionen Messenger-Userïnnen automatisch auf Ende-zu-Ende-Verschlüsselung umgestellt werden (Meta Newsroom). Gut!
- Aus für Third-Party-Apps: Es ist sicherlich keine Übertreibung, wenn wir behaupten, dass Apps wie Twitterrific und Tweetbot Twitter zu dem gemacht haben, was es heute ist (respektive was es war, bevor Elon Musk Twitter übernommen hat). Power-User lieben die Apps von Drittanbietern. Dass Twitter ihnen nun endgültig die API abdreht (TechCrunch), ist aus unserer Sicht zu kurz gedacht – selbst wenn es dazu führt, dass vielen Menschen künftig Anzeigen gezeigt werden (können), von denen sie via Third-Party-App bislang verschont blieben.
- Bookmarks gelten künftig als Quite Likes und erfahren auch optisch eine Aufwertung (TechCrunch).
YouTube
- Location Tagging bei Shorts: Damit YouTube Shorts gezielter ausgespielt werden können, ermutigt das Unternehmen User beim Upload, die Location anzugeben (YouTube / Creator Insider).
- Newsletter Discovery: LinkedIn macht einen auf Substack und führt eine Option ein, mit der Dritte sehen können, welche Newsletter mensch abonniert hat (Twitter / LindseyGamble).
- Die Curious-Reaction wird entfernt (Social Media Today) –
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