Ausgabe #851 | 10.1.2023
TikTok: Warum dieses Jahr ein Verbot kommen könnte
Vor genau einem Jahr, im ersten Briefing des Jahres 2022, schrieben wir:
Der Dezember hat uns Hoffnung gemacht, dass 2022 ein Jahr werden könnte, in dem TikTok stärker im Fokus steht. Damit meinen wir in erster Linie kritische Recherchen, die Konzern, Führungspersonal, interne Unternehmenskultur, Entscheidungsprozesse, Moderationsprinzipien und Empfehlungslogik beleuchten. Denn über all das wissen wir bei TikTok noch ziemlich wenig – und die Transparenzoffensive, die TikTok selbst mehrfach versprochen hat, dürfte kaum unabhängige Einblicke und echten Erkenntnisgewinn ermöglichen.
Diese Hoffnung hat sich erfüllt. Im vergangenen Jahr erhielt TikTok endlich jene Aufmerksamkeit, die der kulturellen und wirtschaftlichen Bedeutung einer der wichtigsten Apps der Welt gerecht wird. Unter anderem deckten Recherchen auf, dass der chinesische Einfluss deutlich größer ist, als TikTok zugibt. In den Ausgaben #804 und #826 kannst du alle Details nachlesen.
Kurz vor Weihnachten folgte der nächste Skandal – ein Wort, das inflationär genutzt wird, in diesem Fall aber berechtigt ist. TikTok gestand ein (Forbes), dass Angestellte Nutzerdaten der App nutzten, um Reporterïnnen auszuspionieren und deren Aufenthaltsort zu tracken.
Auch die Autorin des verlinkten Artikels war betroffen: Emily Baker-White, die bei BuzzFeed News und Forbes jene Recherchen veröffentlichte, die TikToks Verbindungen mit China offenlegten. Im Oktober wies TikToks Pressestelle noch alle diesbezüglichen Vorwürfe zurück und versicherte (Twitter / @TikTokComms):
TikTok has never been used to „target“ any members of the U.S. government, activists, public figures or journalists, nor do we serve them a different content experience than other users.
2022 war also ein Jahr, in dem TikTok zwar weiter wuchs und wirtschaftliche Erfolge feierte, aber auch zusätzliche Gründe lieferte, die App und den Mutterkonzern ByteDance kritisch zu sehen. Diese Entwicklung könnte TikTok 2023 auf die Füße fallen.
Was ist
In den USA, aber auch in Europa, wächst das Misstrauen. Was dem Unternehmen Sorgen machen sollte: Ausnahmsweise sind sich Republikaner und Demokraten einig, dass von TikTok eine Gefahr ausgeht. Joe Biden könnte zu Ende bringen, woran sein Vorgänger Donald Trump schließlich das Interesse verlor: TikTok aus den USA zu verbannen.
Was TikTok droht
Eins steht jetzt schon fest: In den kommenden Monaten wird TikTok gute Lobby-Arbeit brauchen, um Politikerïnnen zu überzeugen, dass keine oder allenfalls minimalinvasive Maßnahmen nötig sind. Denn die Bedenken, die das Unternehmen zerschlagen muss, sind massiv und zahlreich:
- CFIUS vs. TikTok: Seit Jahren verhandelt TikTok mit dem Committee on Foreign Investment in the United States, einem Ausschuss der US-Regierung. Bis Ende des Jahres wollten sich beide Seiten auf einen Deal einigen, der die Sicherheitsbedenken der USA ausräumen sollte. Das hat nicht geklappt, denn innerhalb der Regierung fürchten viele (WSJ), dass die bislang vereinbarten Maßnahmen nicht ausreichen. TikTok scheint zu weiteren Zugeständnissen bereit zu sein (Reuters), um die Verhandlungen abzuschließen. Falls das nicht gelingt (Reuters), könnte das dem US-Kongress weitere Argumente liefern, die App zu verbieten.
- US-Kongress vs. TikTok: Der US-Senat stimmte Ende 2022 einem Gesetzentwurf zu, der staatlichen Angestellten verbietet, TikTok zu nutzen. Im Repräsentantenhaus brachte der Republikaner Marco Rubio mit demokratischer Unterstützung einen Gesetzentwurf ein (Rubio senate gov), der darauf abzielt, TikTok komplett aus den USA zu verbannen.
- US-Bundesstaaten vs. TikTok: In rund zwei Dutzend Bundesstaaten der USA (Gov.tech) dürfen Beamte, Mitarbeiterïnnen der Regierung und allen Behörden TikTok nicht mehr auf ihren Dienstgeräten nutzen. Zudem laufen mehrere Klagen. Auch etliche Schulen und Universitäten haben TikTok auf dem Campus verboten.
- Europa vs. TikTok: Am heutigen Dienstag trifft sich TikToks CEO Shou Zi Chew in Brüssel mit EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager und anderen hochrangigen Vertreterïnnen der EU-Kommission. Chew wird viel Überzeugungsarbeit leisten müssen. Vor allem aus Frankreich und Deutschland schlägt TikTok großes Misstrauen entgegen (Politico). In beiden Ländern mehren sich die Stimmen, die zumindest Regierungsangestellte davon abhalten wollen, TikTok zu nutzen. Gleichzeitig ermittelt die irische Datenschutzbehörde und könnte in zwei Verfahren Strafen und Auflagen verhängen.
Be smart
Ist es sinnvoll, TikTok zu verbieten? Diese Frage dürfte das Jahr 2023 prägen – aber derzeit trauen wir uns keine Antwort zu. Von außen fällt es uns schwer zu beurteilen, ob von TikTok eine Gefahr ausgeht. Bislang gibt es jedenfalls keine Beweise, dass die chinesische Regierung TikTok zur Spionage, Desinformation oder Manipulation nutzt.
Ein Gutteil der Anschuldigungen ist eher auf Xenophobie und Geltungssucht zurückzuführen. Vor allem in den USA überbieten sich Politikerïnnen mit Stimmungsmache gegen das „ausländische“ Unternehmen. Vieles, was TikTok vorgeworfen wird, ist aus Datenschutzsicht zwar unschön – aber Standard in der Branche. Es kommt uns scheinheilig vor, bei TikTok anzuprangern, was bei Meta, Google oder anderen US-Unternehmen hingenommen wird.
Wir halten es aber für möglich, dass die Recherchen des vergangenen Jahres nur die Spitze des Eisbergs waren. Seit Jahren kommt die Wahrheit scheibchenweise ans Licht, jedes Mal gelobt TikTok Besserung und versichert, man werde aus den Fehlern lernen. Das ist unbefriedigend und zunehmend unglaubwürdig. Deshalb schließen wir uns Markus Beckedahl an, der in einem Kommentar bei Netzpolitik schreibt:
Ich nutze übrigens kein TikTok, obwohl ich die App wegen ihres Beitrags zur Remixkultur überaus interessant finde. Allerdings kann ich die meisten Argumente, die gegen TikTok vorgebracht werden, durchaus nachvollziehen. (…) Umso wichtiger aber ist aus meiner Sicht eine starke Regulierung und Kontrolle dieser Unternehmen. (…) Es wird also spannend sein zu beobachten, ob die Europäische Kommission in den kommenden Jahren eine gut funktionierende Aufsicht aufbauen und betreiben kann. Diese gilt dann sowohl für Facebook und Co. als auch für ByteDance.
Social Media & Politik
- Schwerer Schlag gegen Metas Geschäftsmodell: Die irische Datenschutzbehörde DPC hat Meta zu einer Bußgeldzahlung von 390 Millionen Euro wegen Verstößen gegen die Datenschutz-Grundverordnung verdonnert (dataprotection). Ferner muss der Konzern seine Dienste in der EU künftig auch ohne personalisierte Werbung anbieten. Für die rechtskonforme Umgestaltung der Datenverarbeitung hat Meta drei Monate Zeit. Holla.
- Zur Rolle der Sozialen Medien bei den Protesten in Brasilien gibt es sehr viele gute Texte – z.B. bei Platformer ($), Washington Post und Netzpolitik. Vieles erinnert an den Sturm aufs Kapitol vor einem Jahr in den USA. Zwei Fragen drängen sich auf:
- Warum konnten die Social-Media-Plattformen die Verbreitung der Falschinformationen („ballots being manipulated“, „rigged ballots“, etc.) trotz scharfer Regulierung in Brasilien nicht rigoroser stoppen?
- Was bedeutet das für Metas Überlegungen, die Sperre von Donald Trumps Account aufzuheben? Metas Pressechef zufolge soll dazu in den kommenden Wochen eine Entscheidung fallen (The Hill).
- US-Schulen klagen gegen TikTok, Insta und Co: Der größte öffentliche Schulbezirk im Bundesstaat Washington – Seattle Public Schools – hat eine Klage gegen TikTok, YouTube, Facebook, Snapchat und Instagram eingereicht (GeekWire). Der Grund: Die Plattformen hätten durch psychologische Tricks „erfolgreich die verletzlichen Gehirne junger Menschen ausgebeutet“, was zu einer Krise der psychischen Gesundheit in den Schulen geführt habe. Auf mehr als 90 Seiten (PDF) wird ausgeführt, warum die Plattformen zur Rechenschaft gezogen werden sollten. Unter anderem heißt es dort:
“It is the result of the Defendants’ deliberate choices and affirmative actions to design and market their social media platforms to attract youth.”
To maximize revenue, Defendants have intentionally designed and operated their platforms to maximize users‘ screen time. Defendants have done so by building features and operating their platforms in a manner intended to exploit human psychology using complex algorithms driven by advanced artificial intelligence and machine-learning systems. In this regard, Defendants have progressively modified their platforms in ways that promote excessive and problematic use and have done so in ways known to be harmful to children.
Well, wir sind gespannt, wie sich die Plattformen da wieder rausschlawinern. Und ob andere Schulen nachziehen.
- Beziehung von Weißem Haus und Big Tech soll untersucht werden: Der Sprecher des US-Repräsentantenhauses, Kevin McCarthy, möchte die Beziehungen zwischen dem Weißen Haus und Big Tech untersuchen lassen. Konservative vermuten schon länger Absprachen, die zur Zensur von Stimmen aus dem rechten Lager führen (Axios). Nach der Veröffentlichung der sogenannten Twitter Files (Wikipedia) durch Elon Musk im Dezember vergangenen Jahres hat die Theorie neues Futter erhalten.
- Politische Werbung bei Twitter soll demnächst wieder erlaubt werden. Zumindest in der Form, wie es auch im US-Fernsehen geübte Praxis ist (Twitter / @ TwitterSafety)
Follow the money
- Das Anzeigengeschäft von Alphabet und Meta kriselt, Amazon, TikTok und Streaming-Plattformen holen massiv auf (Wall Street Journal)
- ByteDance verdient kräftig mit E-Commerce: Bei TikToks Schwester-App Douyin haben Nutzerïnnen 2022 für 208 Milliarden Dollar geshoppt, TikTok-Nutzerïnnen aus Südostasien gaben im Vergleich zum Vorjahr rund viermal mehr aus. Grund genug für TikTok die E-Commerce-Pläne in den USA, Brasilien, Spanien und Australien weiter auszubauen (The Information).
- Instagram entfernt das Shopping-Tab aus der Navigation. Stattdessen ist dort ein Reels-Button zu finden. Was genau ist noch einmal Metas Plan in Sachen E-Commerce? Wie wollen sie TikTok in Sachen E-Commerce Einhalt gewähren? Weiß da jemand etwas genaueres? (TechCrunch)
- YouTube Shorts: Creator werden endlich an Werbeeinnahmen beteiligt – am 1. Februar geht es los (Support Google). Der YouTube Shorts Fund wird dafür beerdigt.
- Instagram Reels wird für Kreative anscheinend zunehmend attraktiver, um Geld zu verdienen. Vor allem um Instagrams „Reels play bonus“ sei ein wahrer Goldrausch entstanden, schreibt New Yorker.
- Schwarze Tech-Gründerïnnen haben im vergangenen Jahr 2,3 Milliarden Dollar Risikokapital eingesammelt. Bei einem Gesamtvolumen von 215,9 Milliarden Dollar sind das gerade einmal 1 Prozent (Techcrunch). 1 Prozent!!!!
- TikTok: Neues Feature für Talentmanager: Der „Creator Marketplace“ verfügt jetzt über ein Talent Manager Portal, über den Deals für Klienten abgewickelt werden können.
- Substack führt Pledges ein – eine Art Absichtserklärung, eine Mitgliedschaft abzuschließen sobald der jeweilige Anbieter Paid-Memberships startet.
Kurzer Hinweis in eigener Sache: Wir werden die Rubrik „Creator Economy“ künftig auch in der Rubrik „Follow the Money“ abbilden. Geht ja schließlich bei beiden ums liebe Geld…
Next (AI, AR, VR & Co)
- Investoren im AI-Fieber: Mag das Geld auch nicht mehr so billig sein wie vor einigen Jahren, irgendwo müssen Investoren ja hin mit ihrer Kohle. Ganz oben auf der Agenda: Startups, die irgendwas „mit “generative artificial intelligence” machen (New York Times) – also Tools, die mittels kurzer, prägnanter Eingabe Texte, Bilder und Töne erzeugen. ChatGPT und so. Ihr wisst schon.
- Microsoft erwägt 10 Milliarden Dollar in OpenAI zu investieren – schließlich will mensch ja nicht zu spät auf der Party sein. Ob das Geld wirklich an das Startup fließt oder nur in Form von Guthaben für die Cloud-Nutzung gewährt wird, ist bislang noch offen (Semafor). Speicherplatz und Rechenpower kann OpenAI jedenfalls gut gebrauchen. Zudem…
- Bing integriert ChatGPT: … plant Microsoft ChatGPT in die Bing-Suche zu integrieren. So könnte die Suchmaschine künftig nicht nur eine Liste von Links ausgeben, sondern direkt auf Fragen antworten (The Information).
- China plant Regulierung von AI-generierten Inhalten, um der Verbreitung von Falschinformationen Einhalt zu gebieten (Wall Street Journal). Dabei geht es allerdings nicht nur um unschöne Dinge wie Deepfakes sondern um alles, was die nationale Sicherheit bedroht. Urgs.
- Student entwickelt App, um AI-generierte Essays zu erkennen – schließlich habe jeder das Recht zu erfahren, ob ein Text von einem Computer oder einem Menschen geschrieben wurde (Daily Beast). Hach, das wird so manche Lehrkraft freuen.
Trends & Beobachtungen
- Mastodon verliert Nutzerïnnen: Der Guardian berichtet, dass Mastodon rund 30 Prozent der User bereits wieder verloren hat (im Vergleich zum Peak vor einigen Woche). Dabei hatte sich Elon doch so viel Mühe gegeben und ganz allein eine Million Menschen zu Mastodon geschickt. Nun ja. Wahrscheinlich ist den Leuten das einfach zu kompliziert mit diesen ganzen Instanzen…
Neue Features bei den Plattformen
TikTok
- Freiwillige Altersbeschränkung: TikTok-User können jetzt angeben, ob ihre Inhalte für Nutzerïnnen unter 18 Jahren geeignet sind.
- MovieTok ist da: Um Filmen den gleichen Hype zu verschaffen wie es BookTok bei Büchern geschafft hat, gehen die Filmdatenbank IMDb und TikTok eine Partnerschaft ein. Künftig können User Filme direkt innerhalb der App verlinken (Hollywood Reporter).
- Hashfetti: Bei Twitter können Werber jetzt Konfetti regnen lassen (Twitter / @ leahculver).
- Bookmarks sind eine prima Sache – in der Theorie auch bei Twitter. Allerdings schien das Feature nie so richtig ausgereift. Das soll sich jetzt ändern (Twitter / @ ehikian).