Was ist

Unabhängig vom Autor schreiben wir diesen Newsletter immer in der Wir-Form, für diesen Einstieg wechsle ich (Simon) ausnahmsweise die Perspektive. Die Beobachtungen aus San Francisco passen einfach zu gut zum Thema. Vor anderthalb Wochen kam ich an, einen Tag später wurde das riesige X-Logo vom Dach der Firmenzentrale entfernt.

Natürlich hatte Musk keine Erlaubnis eingeholt. Das meterhohe Schild blinkte und blitzte gleißend hell, es nervte Anwohnende, die das Licht selbst mit geschlossenen Vorhängen nicht ausblenden konnten. Zudem war unklar, wie sich das Logo auf die Statik des Gebäudes auswirkt. Nach wenigen Tagen lagen zwei Dutzend Beschwerden bei der lokalen Bauaufsicht vor.

Twitter verweigerte einem Inspektor mehrfach den Zutritt, also rückten Bauarbeiter aus und bauten das Logo ab. Die Kosten werden dem Unternehmen in Rechnung gestellt – der sie vermutlich genauso wenig zahlen wird wie die Miete für mehrere Büros, offene Verträge und Abfindungen für ehemalige Angestellte.

Der gescheiterte Austausch der Logos ist das perfekte Symbol, nicht nur für Twitters chaotisches Rebranding (Axios), sondern für alles, was seit Musks Übernahme geschehen ist: nächtliche Hauruckaktionen, maximale Rücksichtlichtlosigkeit und komplette Ignoranz aller geltenden Vorschriften – und am Ende klappt es trotzdem nicht. Move fast and break everything.

Das passt zu dem, was ich hier wahrnehme. Egal, mit wem ich rede, alle sind massiv genervt von Musk. Die Menschen, die neben dem Twitter-Büro wohnen, sind froh, dass das nervige Stroboskop verschwunden ist. Aber noch lieber wäre es ihnen, wenn Twitter ganz verschwände. In Cafés und auf der Straße rollen Leute nur mit den Augen, wenn man sie auf das Thema anspricht. Kollegïnnen bei The Verge verfolgen Musks Eskapaden beruflich, aber privat haben sie die Schnauze voll.

San Francisco ist nicht repräsentativ. Die Stadt ist, zumindest für US-Verhältnisse, liberal und progressiv. 2020 holte Trump knapp 13 Prozent. Ein Teil der Techbros bewundert Musk nach wie vor, doch sie sind in der Minderheit. Trotzdem dürften viele Menschen dem zustimmen, was Nilay Patel, der Chefredakteur von The Verge, vor ein paar Stunden auf Slack schrieb:

Right now I’m just tired of Musk / Twitter

Warum das (trotzdem) wichtig ist

Musk-müde sind wir auch. Todmüde. Wir könnten gut und gern bis März Twitter-Winterschlaf halten. Ganz ignorieren geht aber nicht. Wir schreiben über Social Media, und was dort geschieht, ist beispiellos. Einer der reichsten Menschen der Welt verwandelt eine der wichtigsten politischen Kommunikations- und Diskussionsplattformen in sein persönliches Spielzeug und nutzt sie als Werkzeug in seinem Feldzug gegen den vermeintlichen "woke mind virus".

Dabei kuschelt er mit Rechtsextremen, Antisemiten und radikalen Frauenhassern, radikalisiert sich in aller Öffentlichkeit und nimmt antirassistischen, feministischen und Schwarzen Bewegungen Schutz und digitale Heimat (Washington Post). Dem heutigen X weinen wir keine Träne nach, ums alte Twitter trauern wir.

Warum Twitter jetzt X heißt

  • Offen gesagt: Wir haben keine Ahnung. Aber wir versuchen zumindest mal, Musks Strategie nachzuvollziehen.
  • Er hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er fast alles hasst, wofür Twitter stand (Techdirt):

And, at some point, the only conclusion seems to be that Elon never actually liked “Twitter.” Sure, he liked the attention that he got on Twitter. But the rest of Twitter, and the value to users other than himself never seemed to make much sense to him. So he’s burned it all down, and what’s left is an app where it’s only valuable if you are Elon Musk, or someone obsessed with Elon Musk. And, as that flails, his only solution is to try to turn it into something completely different. Something definitively not Twitter as an attempt to salvage every other mistake he’s made so far as being part of some grand strategy.

  • Diese Vergangenheit möchte Musk loswerden (Atlantic). Bereits kurz vor dem Abschluss der Übernahme vor knapp einem Jahr schrieb er (Twitter): "Buying Twitter is an accelerant to creating X, the everything app."
  • Vor knapp einem Jahr bekundete Musk in einem Podcast seine Bewunderung für WeChat (YouTube): "It does everything — sort of like Twitter, plus PayPal, plus a whole bunch of things, and all rolled into one, with a great interface. It's really an excellent app, and we don't have anything like that outside of China."
  • im April benannte er das Unternehmen Twitter in X Corp. um. Der Buchstabe X scheint Musk schon länger zu faszinieren. 1999 gründete er die Online-Bank X.com, auch in SpaceX, dem Tesla Model X und in den Namen seiner Kinder taucht das Zeichen auf. Vor sechs Jahren kaufte er die Domain X.com von Paypal zurück – die Bühne wäre also bereit für "X, the everything app".)
  • Walter Isaacson, der Musk für eine Biografie (Erscheinungstermin 12. September) fast drei Jahre begleitet hat, sagt, das Rebranding sei mehr als neun Monate lang vorbereitet worden (Axios):

He said it can be a trillion-dollar company — easily. This is an idea he has thought about for 25 years — a financial platform that helps anyone profit from creating content. He feels it can transform journalism by offering an alternative to subscription models, where people can just make easy payments for whatever strikes their fancy.

Was gegen Musks Pläne spricht

  • Offenbar ist Musk wirklich davon überzeugt, dass X das WeChat des Westens werden kann. Bislang sind allerdings alle Versuche in diese Richtung gescheitert. Schon die Kombination aus Social Media und Online-Shopping bei Facebook und Instagram war den meisten Nutzerïnnen zu viel.
  • Die Vorstellung, Finanzdienstleistungen, Essensbestellungen, Terminvereinbarungen und Video-Konferenzen in ein und derselben App zu vereinen, ohne Menschen komplett zu verwirren, erscheint uns unrealistisch.
  • Die anekdotische Evident aus ein paar Dutzend Gesprächen und Chats: Bislang kann sich niemand so richtig mit X anfreunden.
  • Medien sind uneins, wie sie Twitter/X und Tweets (Posts? Xeets?) bezeichnen sollen (NYT). Die AP spricht etwa in jeder Meldung zu Beginn von "X, formerly known as Twitter" (Twitter / Seung Min Kim).
  • Anfang Juli schrieben wir (#891):

Seit Musk im vergangenen Herbst Twitter übernahm, hat er sich mächtig ins Zeug gelegt, um die Plattform in jeder nur möglichen Hinsicht zugrunde zu richten. Die meisten Angestellten sind weg, ein Großteil der Werbekunden ebenfalls. Was bleibt, sind technische Probleme, unbezahlte Rechnungen und ein mäßig erfolgreiches Abomodell, dessen Erkennungszeichen als zuverlässiger Deppenfilter funktioniert.

  • Damals hatte Twitter zumindest noch einen guten Namen. Der ist jetzt auch Geschichte. Die Marke war schon immer größer als die Plattform. Fast jeder verbindet etwas mit dem Namen, es gibt ein zugehöriges Verb, der Vogel ist popkulturell aufgeladen und hat großen Wiedererkennungswert.
  • Das schwarze X erinnert an das Logo einer Pornoseite (Twitter / Jesse McLaren), zudem sind die Namensrechte ungeklärt. Meta, Microsoft und zahlreiche kleinere Unternehmen haben Markenrechte am Buchstaben X angemeldet. Twitter könnte also mal wieder verklagt werden.

Wo Twitter überall Klagen drohen

  • Apropos Rechtsstreitigkeiten, da hat sich in den vergangenen Monaten einiges angehäuft. Musk klagt und wird verklagt, wie andere die Socken wechseln.
  • Aktuell geht der selbsternannte Redefreiheit-Absolutist gegen das Center for Countering Digital Hate (CCDH) vor (NYT). Er behauptet, die Forschenden hätten illegal Daten von Twitter gescrapt. Angeblich habe die Organisation versucht, Twitters Werbegeschäft zu beschädigen, indem sie kritische Berichte über die Zunahme von hasserfüllten Tweets veröffentlichte.
  • Gleichzeitig geht die Nachrichtenagentur AFP gegen das Unternehmen vor, um Ausschüttungen auf Grundlage des französischen Leistungsschutzrechts zu erstreiten (AFP).
  • (Randbemerkung: Das Gesetz ist Unsinn, Mike Masnick fasst es gut zusammen (Techdirt):

So, basically, this whole situation seems like a mess. If ex-Twitter still had a legal and policy strategy, it might have handled this more properly, and prepared a real challenge to the nonsense of France’s laws. Or, done something like blocking news links in France. But, either way, this is a very stupid law being abused by a corrupt, greedy, news organization, filing a very silly lawsuit that, as far as I can tell, is saying that Twitter has to pay AFP for the snippets on link cards that AFP itself enabled.)

  • Patrick Beuth hat sich die Mühe gemacht und weitere Prozesse zusammengetragen, in die Twitter verwickelt ist (Spiegel):
  • Twitter vs. texanische Unternehmen, die angeblich in großem Stil Daten gescrapt haben
  • Twitter vs. Wachtell, Lipton, Rosen & Katz, jene Kanzlei, die Twitter engagierte, um die Übernahme durch Musk zu erzwingen, nachdem dieser zwischenzeitlich zurückziehen wollte
  • Ehemalige Angestellte vs. Twitter, die in mindestens vier Sammelklagen Abfindungen in dreistelliger Millionenhöhe fordern
  • Ehemalige Manager vs. Twitter, die auf die Erstattung von Rechtskosten drängen
  • Vermieter vs. Twitter, die ihr Geld für Büros sehen wollen
  • Zudem droht Musk Meta und Microsoft mit Klagen, weil Threads für die Entwicklung der App angeblich Twitters geistiges Eigentum genutzt habe. Microsoft soll seine KI-Systeme mit Tweets trainiert haben.
  • Patrick schreibt treffend:

Die Klagen rund um Tesla kommen noch obendrauf. Wer weniger als drei Unternehmen leitet, mag vielleicht seine täglichen Schritte von einem Fitnesstracker protokollieren lassen. Musk würde ich so langsam einen Zähler für juristische Schritte empfehlen.

Be smart

Die Überschrift dieses Briefings trifft nur dann zu, wenn man sie auf den Namen bezieht. Twitter (oder unseretwegen auch X), die Plattform, lebt weiter. Wir haben uns beide entfremdet und weitgehend zurückgezogen, viele Menschen nutzen Twitter nach wie vor regelmäßig – und zwar längst nicht nur Elon-Fanboys.

Das liegt nicht daran, dass es ihnen egal ist, was Musk mit Twitter anstellt. Es gibt nur immer noch keine richtige Alternative. Nachdem der erste Hype um Threads verflogen ist, sinken die Zugriffszahlen massiv (CNN), zudem sperrt Meta Nutzerïnnen in der EU weiter aus. Mastodon bleibt eine nette Nische, Bluesky ist in der geschlossenen Beta, mit Spill, T2 oder Cohost fangen wir erst gar nicht an.

Zehn Monate, nachdem Musk begonnen hat, Twitter systematisch zu ruinieren, fehlt es an Zufluchtsorten, an denen sich Menschen treffen können, die keine Lust auf die Eskapaden des Eigentümers haben. Das könnte man als Schwäche der Konkurrenz deuten. Oder als Beleg, wie faszinierend und einzigartig Twitter trotz aller Schrulligkeiten war und offenbar immer noch ist.


Social Media & Politik

  • Klage gegen CapCut wegen unrechtmäßiger Nutzung sensibler Daten: Wer in den letzten Jahren mit der Produktion von Kurzvideos zu tun hatte, kam an CapCut eigentlich nicht vorbei. Immer wieder wurde die App aus dem Hause ByteDance empfohlen, um den Editing-Prozess zu streamlinen. Weltweit zählt die App 200 Million monatlich aktive Nutzerïnnen. Neben TikTok gehört CapCut damit zu den erfolgreichsten ByteDance-Apps in der westlichen Welt. Jetzt aber sieht sich das Unternehmen in Illinois mit einer Sammelklage konfrontiert (The Record). Der Klageschrift (PDF) zufolge sammle das Unternehmen sensible Nutzerdaten (etwa biometrische Informationen wie Gesichts- und Stimmenscans), ohne die Userïnnen ausreichend darüber zu informieren.
  • TikTok: Personalisierung des For-You-Feeds in Europa bald optional: Der Digital Services Act (DSA) sieht vor, dass Nutzerïnnen von großen Plattformen künftig selbst entscheiden können, ob sie weiter personalisierte (read: auf ihren Sehgewohnheiten basierend) oder neutrale Feeds nutzen wollen. Zu den großen Plattformen zählt auch TikTok, das nun angekündigt hat, dass europäische Userïnnen bald die Option erhalten, die Personalisierung des For-You-Feeds abzuschalten. Stattdessen würden dann „beliebte Videos aus ihrem Heimatland und aus aller Welt“ gezeigt (The Verge). Zudem soll gemäß DSA künftig 13- bis 17-Jährigen keine personalisierte Werbung mehr angezeigt werden.
  • Meta: Kein Interesse an Trusted-Partner-Programm? Um der Flut an Hassbotschaften bei Instagram und Facebook Herr zu werden, hat Meta ein sogenanntes Trusted-Partner-Programm installiert. 465 NGOs aus 113 Ländern helfen laut Meta dabei, Inhalte, die gegen Community Standards oder lokale Gesetze verstoßen, zu markieren und zur weiteren Überprüfung einzureichen. Eigentlich eine gute Idee, um „lokale Kontexte in globale Standards“ zu übersetzen. Nun aber beschuldigt die gemeinnützige Medienorganisation Internews Meta, das Trusted Partner-Programm weitestgehend zu ignorieren und mit zu wenig Personal auszustatten, berichtet Simon Hurtz für The Verge. (Dass ich das bei den News einmal schreiben darf…)

Follow the money

  • TikTok sucht den Superstar: Dass Musik (und Musikerïnnen !!!) für TikTok elementar ist, sollten alle mitbekommen haben. Kaum eine Industrie dürfte vom TikTok-Boom der vergangenen Jahre stärker betroffen gewesen sein. Um diesen Impact zu untermauern (und die User bei Laune zu halten), veranstaltet TikTok jetzt einen globalen Talentwettbewerb mit dem Namen „Gimme the Mic“. Den Gewinnerïnnen winkt ein Preisgeld in Höhe von 500.000 Diamonds (TikToks hauseigener Währung, bei der uns gerade nicht so ganz klar ist, was sie in Dollar oder Euro entspricht) sowie ein Auftritt beim Live-Finale Ende September. Wer sich die ersten Bewerbungen anschauen möchte, hier entlang: #gimmethemic.
  • Discord entlässt 37 Mitarbeiterïnnen: Auch an Discord geht die Entlassungswelle nicht vorbei. Rund vier Prozent der Workforce müssen ihren Hut nehmen. Es trifft dabei vor allem Menschen aus den Bereichen Marketing, Talent und Policy.
  • Reddit-Protest ist vorbei. Reddit hat gewonnen: Nachdem nun die letzten großen Subreddits, r/aww, r/pics und r/videos, ihre „John-Oliver-Regel“ fallen ließen, nach der aus Protest gegen Reddits neue API-Regeln, nur noch Content mit dem beliebten Moderator gepostet werden durfte, sieht sich Reddit (das Unternehmen !) als Gewinner der Machtprobe. Na, toll. (Gizmodo, Hintergründe in Briefing #887)

Neue Features bei den Plattformen

WhatsApp

  • WhatsApp arbeitet an der Option, mit 32 Personen gleichzeitig per Voice-Chat zu quatschen. (Wabetainfo)

YouTube

  • YouTube testet ein AI-Feature, mit dem sich Videos zusammenfassen lassen. (YouTube Help)
  • Zudem testet YouTube die Option, bei Shorts (vertikal) live gehen zu können.
  • YouTuber-Userïnnen können bei Shorts zudem jetzt analog zu den Duetten bei TikTok via Split-Screen mit anderen Kreativen kollaborieren.
  • Ferner gibt es jetzt bei Shorts Q&A-Sticker wie bei Instagram und die Option, Videos in einer Playlist zu sammeln.

Instagram

  • Instagram-Userïnnen, die permanent von Fremden angeschrieben werden, können auftatmen: Künftig können Accounts, denen mensch nicht folgt, nur noch eine reine Text-Nachricht schreiben. Fotos und Videos zu schicken, sowie wiederholtes Anschreiben, ist nicht länger möglich. (TechCrunch)

Threads

  • Auch wenn die Zahlen schon nicht mehr ganz so famos ausschauen wie beim Start, zeigt sich Meta-Boss Zuckerberg zufrieden mit seinem neuesten Wurf. Als Nächstes werde eine Suchfunktion und eine Webversion ausgerollt, schreibt er bei Threads.

X

  • X-Blue-Userïnnen können jetzt ihren blauen Haken verstecken. Zwar nicht überall, aber immerhin.

Google

  • Google führt einige neue Optionen ein, mit denen Nutzerïnnen mehr Kontrolle über persönlichen Daten erhalten sollen. So soll es leichter werden, Telefonnummern und Adressen aus den Suchergebnissen verschwinden zu lassen. Außerdem wurden die Richtlinien für explizite persönliche Bilder aktualisiert, um diese ebenfalls leichter und schneller aus der Suche entfernen zu können. (TechCrunch)