Was US-Nutzerïnnen sehen, wenn sie Facebook öffnen
Was ist
Laura Hazard Owen und Charlie Warzel hatten unabhängig voneinander eine ziemlich gute Idee: Statt immer nur abstrakt über Facebook zu schreiben und aggregierte Daten und Statistiken heranzuziehen, haben die beiden Reporterïnnen im Laufe des Oktobers echte Menschen gefragt: Welche Inhalte seht ihr eigentlich in eurem Newsfeed?
Warum das wichtig ist
Ist Facebook eine Echokammer? Trägt es dazu bei, dass sich Menschen radikalisieren? Bevorzugt Facebook extreme Meinungen und insbesondere rechtskonservative Seiten? Über diese Fragen wird seit Monaten heftig diskutiert.
Die beiden Recherchen geben darauf keine abschließenden Antworten, dazu sind die Stichproben viel zu klein. Aber sie erweitern die Debatte um neue Perspektiven und ermöglicht gerade deutschen Beobachterïnnen Einblicke in die US-Version des Netzwerks.
Was Warzel herausgefunden hat
- Der Artikel: "What Facebook Fed the Baby Boomers" (NYT)
- Die Herangehensweise: Warzel erhielt von Mitte Oktober bis nach der US-Wahl für drei Wochen die Facebook-Passwörter von zwei US-Amerikanerïnnen und tauchte in ihre Facebook-Welt ein.
- Die Protagonistïnnen: Jim Young, ein 62-jähriger Frührentner, und Karen Pierce, eine 55-jährige Lehrerin – typische Babyboomer. Beide beschreiben sich selbst als tendenziell konservativ, haben 2020 aber für Joe Biden gestimmt.
- Die zentrale Erkenntnis: Young und Pierce sehen eine grauenhafte Mischung aus Aggressivität, Hass, Desinformation und Verschwörungserzählungen. Die beiden Protagonistïnnen leiden unter den Inhalten, die sie sehen.
- Die wichtigsten Zitate:
Warzel:
The feed goes on like this — an infinite scroll of content without context. Touching family moments are interspersed with Bible quotes that look like Hallmark cards, hyperpartisan fearmongering and conspiratorial misinformation. Mr. Young’s news feed is, in a word, a nightmare.
Young:
It’s like going by a car wreck. You don’t want to look, but you have to. (…) Most times there’s no real debate. Just anger. They’re so closed-minded. Sometimes, it scares me.
Pierce:
It’s so extreme. I’ve watched people go from debating the issue to coming up with the craziest thing they can say to get attention. Take the whole anti-abortion debate. People started talking, then started saying ‘if you vote for Biden you’re a murderer.’ Now there’s people posting graphic pictures of fetuses.
- Das Fazit: Facebook spiegelt die traurige Realität der US-Gesellschaft. Die Vereinigten Staaten sind ein zutiefst gespaltenes Land. Biden will die beiden Lager versöhnen – er wird Wunderdinge vollbringen müssen.
Der Text beantwortet nicht die Frage, ob Facebook dafür verantwortlich ist. Am Ende bleibt das Henne-Ei-Problem: Bildet Facebook nur den gesellschaftlichen Graben ab und macht sichtbar, was ist – oder trägt es aktiv zur Polarisierung bei?
Despite spending years studying these toxic dynamics and the better part of a month watching them up close in strangers’ feeds, I was still, like so many, surprised to see it all reflected at the ballot box. We shouldn’t have been surprised; our divisions have been in front of our faces and inside our feeds this whole time.
Was Hazard Owen herausgefunden hat
- Der Artikel: "How much political news do people see on Facebook? I went inside 173 people’s feeds to find out" (Nieman Lab)
- Die Herangehensweise: Hazard Owen fragte zwischen dem 1. und 31. Oktober über Mechanical Turk Screenshots von Facebook-Newsfeeds an. 306 Menschen schickten ihr jeweils die ersten zehn Inhalte ihrer Timelines.
- Die Protagonistïnnen: Bereinigt blieben Daten von 173 Nutzerïnnen übrig. Die Befragten nutzen Facebook regelmäßig, sind relativ jung (81 Prozent unter 45) und politisch liberaler als die US-Bevölkerung.
- Die zentrale Erkenntnis: Facebook ist kein Ort für politische Nachrichten. Obwohl der Oktober einer der politisch relevantesten Monaten der jüngeren US-Geschichte war, sah mehr als die Hälfte der Nutzerïnnen gar keine News mit Politik-Bezug. Seriöse Medien spielten die größte Rolle, irreführende und falsche Nachrichten tauchten nur selten auf. Kein einziger der 1730 Inhalte wurde durch einen Faktencheck widerlegt.
- Das wichtigste Zitat:
141 of the 1,730 posts in my sample could be described as political content. In other words, in this survey, political content made up about 8% of what people saw. That’s pretty close to Facebook’s claimed 6%. (Anmerkung: Die Zahl bezieht sich auf diesen Blogeintrag von Facebook.)
Be smart
Seit Monaten veröffentlicht New-York-Times-Reporter Kevin Roose täglich die zehn Artikel mit den meisten Facebook-Interaktionen (Twitter / Facebook's Top 10). Angesichts der Listen drängt sich der Eindruck auf, dass rechte und rechtsradikale Seiten dominieren. Facebook hält dem entgegen, dass Daten von Crowdtangle und Newswhip keinen unmittelbaren Rückschluss zulassen, wie viele Menschen bestimmte Inhalte sehen und welche Beiträge von Facebooks Algorithmen gepusht werden (mehr zu dieser Debatte in Briefing #666).
Warzels Experiment vermittelt einen Eindruck, wie toxisch Facebook sein kann. Die Recherche von Hazard Owen zeigt dagegen, dass das Netzwerk für manche Menschen ganz anders aussieht, als es die mediale Berichterstattung suggeriert, die sich meist auf Politik und Medien fokussiert: Beiträge von Familie und Freundïnnen überlagern politische Nachrichten bei Weitem.
Beide Artikel sind unbedingt lesenswert, die anekdotische Evidenz lässt sich aber nicht generalisieren. Wenn Facebook die teils sehr aufgeregte Debatte beruhigen und die angeblich nicht repräsentativen Listen von Roose widerlegen will, gäbe es eine einfache Möglichkeit: Es muss Journalistïnnen und Forscherïnnen endlich Zugriff auf aussagekräftige Daten geben, statt sich nur zu beschweren, weil ein Journalist die wenigen verfügbaren Daten nutzt.
Wie überfällig das ist, zeigt eine weitere aktuelle Recherche der New York Times. Demnach gibt es eine interne Metrik namens "news ecosystem quality" (NEQ), um die Seriosität von Nachrichtenquellen zu bewerten. Nach der Wahl erhöhte Facebook den Einfluss des NEQ-Faktors auf die Zusammensetzung der Inhalte des Newsfeeds.
Medien wie CNN, die New York Times und NPR gewannen an Reichweite, während extremere Seiten weniger sichtbar wurden. In einem Meeting sollen Angestellte gefragt haben, ob der "nettere Newsfeed" zum Dauerstand werden könne. Facebook lehnt das ab – warum eigentlich?
Jetzt kommt die Regulierung: Wird Facebook bald zerschlagen?
Was ist
Vergangene Woche berichtete die Washington Post, dass zwei große kartellrechtliche Ermittlungsverfahren in den USA kurz vor dem Abschluss stehen. Demnach sollen sowohl eine Gruppe von Generalstaatsanwältïnnen der Bundesstaaten als auch die US-Handelskommission FTC im Dezember Klage erheben. Es ist noch offen, ob beide Ermittlungen zusammengeführt oder getrennt vorangetrieben werden.
Worum es dabei geht
Im Fokus stehen die Übernahmen von Instagram (2012) und WhatsApp (2014). Der Vorwurf lautet, dass Facebook die Zukäufe genutzt habe, um ein Monopol aufzubauen, das Nutzerïnnen keine Wahl lässt und echte Konkurrenz verhindert. Angeblich drohen Facebook die härtesten kartellrechtliche Sanktionen seiner 17-jährigen Unternehmensgeschichte.
Wie Facebook argumentieren dürfte
Mark Zuckerberg bringt immer wieder TikTok ins Spiel, wenn es ums Wettbewerbsrecht geht. Schließlich hat es ByteDance geschafft, trotz Facebooks Markmacht in kurzer Zeit einen ernstzunehmenden Konkurrenten aufzubauen.
Zudem hatte Facebook Jahre Zeit, sich auf den Abschluss der Ermittlungsverfahren vorzubereiten – und es hat diese Zeit gut genutzt: WhatsApp, Instagram und der Messenger verschmelzen immer mehr. Im Hintergrund versucht Facebook, einen gordischen Knoten zu formen, den die Kartellwächterïnnen nicht mehr entflechten können, ohne Nutzerïnnen zu schaden. Zumindest eine radikale Zerschlagung wird damit unwahrscheinlich – immerhin hatte die FTC den Übernahmen einst zugestimmt (OneZero).
Eine weitere Karte, die Facebook spielen könnte: Sicherheit und Content-Moderation. Zuckerberg betont immer wieder, dass Facebook die drei Plattformen besser schützen und moderieren könne, wenn sie enger aneinander gebunden sind. Drei eigenständige Unternehmen seien dazu nicht in der Lage.
Be smart
Die Budgets von FTC und der Antitrust-Einheit des US-Justizministeriums entsprechen ungefähr dem, was Facebook in drei Tagen verdient. "DOJ is under-resourced, FTC it’s ridiculous", sagte ein Mitarbeiter des Justizministeriums (Big Technology) im September.
Am selben Tag, an dem die Washington Post ihren Bericht über die anstehenden Klagen veröffentlichte, machte Alex Kantrowitz ein internes Memo der FTC publik (Big Technology). Demnach muss die Behörde massiv sparen. "Everything you've just recited is a breathtaking constraint on capacity", sagt der frühere FTC-Vorsitzende. "It severely limits what the institution is going to do."
Zusammengefasst: Zwei vergleichsweise schlecht ausgestattete Institutionen ermitteln gegen einen der mächtigsten Konzerne der Welt, der sich die teuersten und besten Anwältïnnen leisten kann. Waffengleichheit sieht anders aus.
Das heißt aber nicht, dass die Verfahren aussichtslos sind. Biden gilt nicht gerade als Zuckerberg-Freund, und er hat bereits angekündigt, das Budget der FTC aufzustocken – seine Präsidentschaft könnte für Facebook ungemütlich werden.
Header-Foto von Ju On bei Unsplash