4 Reports, die 4 Wochen vor der Wahl genau richtig kommen

Was ist

Wir richten den Blick oft auf die USA. Fast alle relevanten Tech-Firmen sitzen im Silicon Valley, die US-Wahl war das wichtigste politische Ereignis der vergangenen Jahre. 2021 ist das anders: In vier Wochen wird gewählt, also widmen wir uns dem deutschsprachigen Teil des Netzes.

In dieser Ausgabe stellen wir drei Studien vor, die sich damit beschäftigen, was Menschen in Deutschland von Social Media halten. Zudem geben wir zwölf Handlungsempfehlungen eines Papers weiter, um junge Menschen gegen digitale Desinformation und Hassrede zu stärken. Egal, wer die Wahl gewinnt: Es wäre schön, wenn die neue Bundesregierung einige dieser Ratschläge beherzigt.

Die vier Ausarbeitungen stammen von zwei Autoren, die Watchblog-Leserïnnen bekannt sein dürften, weil sie immer wieder in unseren Briefings auftauchen:

  • Alex Sängerlaub hat die Ergebnisse der Befragungen für den Thinktank Reset aufbereitet.
  • Die Vodafone-Stiftung hat Martin Fuchs gefragt, welche politischen Maßnahmen helfen könnten, digitale Souveränität zu stärken.

Reset: Social Media in Deutschland

Die Befragungen umfassen drei Themengebiete (Reset.tech), zu denen jeweils ein Report erarbeitet wurde:

  • Debattenkultur in sozialen Medien (PDF)
  • Desinformation in sozialen Medien (PDF)
  • Hass in sozialen Medien (PDF)

Wir geben nicht die kompletten Ergebnisse wieder, sondern beschränken uns auf ausgewählte Informationen, die uns überrascht haben oder die wir für wichtig halten. Für alle drei Studien wurden Ende Juni jeweils gut 3000 wahlberechtigte Internet-Nutzerïnnen ab 18 Jahren befragt. Die Ergebnisse sind repräsentativ für die Gesamtbevölkerung.

Debattenkultur in sozialen Medien

  • "Debatten, die in den sozialen Medien geführt werden, bereichern unsere Demokratie." Dieser Satz polarisiert: 43 Prozent stimmen zu, 48 Prozent sehen das anders.
  • Wenn man nach dem Einfluss von Institutionen auf die Diskussionskultur fragt, ergibt sich ein interessantes Bild. Mehr als zwei Drittel schreiben Lokalzeitung und öffentlich-rechtlichem Rundfunk positive Effekte zu. Bei sozialen Medien im Allgemeinen glauben das nur ein Drittel der Befragten, Facebook und Twitter im Besonderen schneiden mit jeweils rund 20 Prozent noch schlechter ab. Nur die Bild-Zeitung liegt noch mal drei Prozentpunkte dahinter.
  • Die deutlich negative Einschätzung sozialer Medien teilen alle Altersgruppen. Allerdings sind Jüngere tendenziell positiver eingestellt als Ältere. Auch aktive Social-Media-Nutzerïnnen haben ein etwas besseres Bild der Plattformen. Das zeigt sich insbesondere bei Twitter: 47 Prozent der Befragten, die Twitter selbst nutzen, sehen das Netzwerk positiv – aber nur 20 Prozent der Gesamtbevölkerung.
  • Die einzige Gruppe, die den Ton in sozialen Medien mehrheitlich für angemessen hält, sind AfD-Anhängerïnnen. Nur ein Drittel sagt, der Umgangston sei zu rau. Bei Sympathisantïnnen aller anderer Parteien liegt die Zustimmung bei mehr als der Hälfte.
  • Drei Viertel der Befragten halten sich bei politischen Diskussionen in sozialen Medien lieber zurück. Das sagen mehr Frauen als Männer und Jüngere eher als Ältere. Gerade einmal 15 Prozent liken, teilen, kommentieren oder verfassen häufig Beiträge zum Thema Politik.
  • Für Journalistïnnen bedeutet das: Nein, ein paar Tweets oder Facebook-Posts sind kein Stimmungsbild, sondern stehen fast immer nur für ein paar Leute, die mal ihre Meinung ins Netz schreiben.

Desinformation in sozialen Medien

  • 85 Prozent der Befragten sehen in Desinformation ein großes gesellschaftliches Problem. Wer AfD wählt, ist tendenziell entspannter, was das Thema angeht.
  • Auch mit Bezug auf die Bundestagswahl sehen AfD-Sympathisantïnnen die geringste Gefahr von Fehlinformationen. 37 Prozent machen sich keine Sorgen, bei fast allen großen Parteien liegt dieser Anteil unter 20 Prozent – nur FDP-Anhängerïnnen geben sich ähnlich gelassen wie potenzielle AfD-Wählerinnen (31%).
  • Drastisch fällt der Unterschied beim Medienvertrauen aus. Dem Satz "Ich befürchte, dass Medien nicht korrekt über die Parteiprogramme und Kandidatinnen und Kandidaten berichten werden" stimmen 78 Prozent der AfD-Anhängerïnnen zu. Bei FDP und Linke liegt der Wert knapp über 50 Prozent, bei den anderen Parteien teilen diese Meinung weniger als die Hälfte der Anhängerïnnen.
  • Werden sich ausländische Staaten wie Russland oder China in den Wahlkampf einmischen? Das befürchten insgesamt 41 Prozent, die geringste Gefahr sehen Menschen, die AfD oder Linke wählen wollen.
  • In den USA hat Donald Trump unangebrachte Panik vor vermeintlicher Wahlmanipulation geschürt. Auch in Deutschland scheint diese Sorge in erster Linie am rechten Rand zu verfangen. Mehr als zwei Dritten der AfD-Anhängerïnnen glaubt, dass es "bei der Wahl nicht mit rechten Dingen zugehen wird" und etwa bei der Briefwahl manipuliert werden könnte.
  • Knapp zwei Drittel der Befragten nehmen Desinformation in sozialen Medien häufig oder sehr häufig wahr. Mit zunehmendem Alter sinkt der Wert deutlich. (Was schlicht daran liegen könnte, dass Ältere weniger Zeit mit Social Media verbringen.)
  • Vier von zehn Befragten haben Angst, auf Fehlinformationen hereinzufallen. Drei Viertel glauben, dass sie wüssten, worauf sie achten müssen, um richtige von falschen Behauptungen zu unterscheiden. Wenn wir an die Studie zur digitalen Nachrichten- und Informationskompetenz denken, die wie in Briefing #712 vorstellten, dann ist das … selbstbewusst.
  • Wie wichtig diese Fähigkeit wäre, zeigen die Antworten auf die Frage, woher Menschen politische Informationen beziehen. Insgesamt informiert sich eine knappe Mehrheit offline (TV, Radio, Print). Bei den 18-24-Jährigen sagen aber acht von zehn Befragten, dass sie ihre Informationen überwiegend online bekämen.
  • Interessant und erschreckend ist die Wirkmächtigkeit von Desinformation. Jeweils rund ein Viertel glaubt, dass die Grünen Autofahren verbieten wollen, Muslime in Deutschland einen Gottesstaat mit Scharia errichten wollen und hält die Briefwahl für besonders anfällig für Wahlmanipulation. Allen Aussagen stimmt jeweils mehr als die Hälfte der AfD-Sympathisantïnnen zu, mit deutlichem Abstand folgt die FDP.
  • Beängstigende 17 Prozent sagen, das Coronavirus sei ein Vorwand, um Menschen zu unterdrücken. Auch hier ist die parteipolitische Präferenz entscheidend: 48 Prozent der AfD-Anhängerïnnen hängt dieser Fehlinformation an, bei den Grünen sind es nur sechs Prozent.

Hass in sozialen Medien

  • 85 Prozent der Befragten sehen in Hasskommentaren ein großes gesellschaftliches Problem (kein Copy/Paste-Fehler von oben: Der Wert ist tatsächlich genau derselbe wie bei der Frage nach Desinformation). Die Ergebnisse schwanken aber stark in Abhängigkeit von Geschlecht und politischer Präferenz: 93 Prozent der jungen Frauen, aber nur 62 Prozent der AfD-Sympathisantïnnen nehmen Hass im Netz als Problem wahr.
  • Das korreliert mit der Antwort auf die Frage, wie oft die Befragten Hasskommentare im Netz sehen. Jüngere begegnen ihnen öfter als Ältere, Frauen öfter als Männer.
  • Jede dritte Frau zwischen 18 und 34 Jahren sagt, dass sie in sozialen Medien sexuell belästigt wurde. 19 Prozent der jungen Frauen geben an, dass private Daten gegen ihren Willen veröffentlicht worden seien. Auch Stalking und sexuelle Belästigung über einen längeren Zeitraum treffen etwa jede fünfte Frau aus dieser Altersgruppe.
  • Neben Alter und Geschlecht beeinflussen zwei weitere Faktoren die Erfahrungen mit Social-Media-Hass: LGBTQ und ethnischer Hintergrund, insbesondere die Religion.
  • Das Netzwerk, in dem mit Abstand am meisten Menschen Hasskommentaren ausgesetzt sind, ist Facebook (27%). Danach folgen Instagram (9%), YouTube (5%) und Twitter (3%).
  • Das liegt natürlich auch an der Größe der Plattformen. Doch selbst dann, wenn man nur die jeweiligen Nutzerïnnen befragt, ist die Prävalenz auf Facebook (37%) deutlich größer als auf Instagram (18%) und Twitter (13%).
  • Uns überrascht insbesondere der niedrige Wert bei YouTube: Nur sechs Prozent der Nutzerïnnen haben dort eine Hasserfahrung gemacht. Ähnlich wie bei Twitter erklären wir uns das damit, dass viele der Befragten wohl selten selbst kommentieren, sondern in erster Linie konsumieren, also Videos anschauen oder fremde Tweets lesen.
  • "Es ist nicht gut für mein psychisches Wohlbefinden, viel Zeit in sozialen Medien zu verbringen." Diesem Satz stimmt mehr als die Hälfte der Befragten zu, darunter fast zwei Drittel der jungen Frauen.
  • Vier von zehn Befragten zwischen 18 und 34 Jahren würden gern weniger Zeit mit Social Media verbringen, schaffen es aber nicht.

Vodafone-Stiftung: Digitale Souveränität

Seit drei Jahren befragt die Vodafone-Stiftung immer wieder repräsentativ ausgewählte 14-24-Jährige und interviewt zusätzlich Expertïnnen (die jüngsten Ergebnisse haben wir in Briefing #736 vorgestellt). Dabei geht es um Fragen wie:

  • Wie informiert sich, kommuniziert und engagiert sich Jugend heute in der Demokratie?
  • Welchen Herausforderungen und Gefahren sind Jugendliche im digitalen Umfeld ausgesetzt?
  • Wie kompetent ist diese Generation im Netz wirklich?

Auf Grundlage dieser Studien und Umfrageergebnisse bat die Stiftung Martin Fuchs, "konkrete Handlungsempfehlungen für die neue Bundesregierung zu erarbeiten, die helfen sollen, junge Bürgerïnnen digital souveräner zu machen." Martin hat seine zwölf Ratschläge in drei Themenfeldern zusammengefasst. Wir geben sie gekürzt wieder und verweisen für ausführlichere Informationen auf das Policy-Paper, das am Mittwoch erscheint und dann auf der Seite der Stiftung abrufbar sein wird.

1. Fördert die digitale Diskussionskultur bei Jugendlichen

Vermutlich wirft jede Generation der nächsten vor, sie seit unpolitisch und träge. Auch bei der Gen Z ist das Unsinn. Fridays for Future, Black Lives Matter – junge Menschen wollen ihre Zukunft politisch mitgestalten.

64 Prozent der 14- bis 24-Jährigen gibt an, dass es ihnen wichtig sei, mit anderen über politische Themen zu diskutieren – und das tun sie vor allem im Netz. Eine Mehrheit sagt, dass sie sich am liebsten online austauschen, informieren, organisieren und mit Politikerïnnen in Kontakt treten.

Trotzdem hat ein signifikanter Teil der Jugendlichen noch nie seine politische Meinung im Netz geäußert. Viele nennen die abschreckende Diskussionskultur als Grund. Es gibt also den Wunsch, mit anderen politisch zu debattieren, bislang existieren aber wenig passende Angebote. Daraus leitet Martin folgende vier Empfehlungen ab (das Paper enthält weitere Ausführungen und Details zu den einzelnen Punkten):

  • "Jugend debattiert" für den digitalen Raum
  • Bildungsangebote auf den Plattformen schaffen, wo Jugendliche selbst aktiv sind
  • Messengerdienste als Ort politischer Bildung ernst nehmen
  • Messengerdienste smart regulieren

2. Lasst die Generation Z im Netz nicht allein

Für junge Menschen gehören Falschnachrichten, Hassrede und Mobbing zum digitalen Alltag. Am häufigsten sind Frauen und Menschen mit formal niedriger Bildung betroffen. Eigentlich fühlen sich Jugendliche sicher im Umgang mit sozialen Medien. Wenn sie dort aber beleidigt werden oder jemand falsche Behauptungen in Umlauf bringt, wissen viele nicht wie sie reagieren sollen.

Rund die Hälfte hat bereits Inhalte in sozialen Medien gemeldet, doch in 60 Prozent der Fälle war die Meldung nicht erfolgreich. Die Review-Prozesse der Plattformen dauern oft quälend lang, teils kommt gar keine Rückmeldung. Deshalb fordert Martin:

  • Lebensrealität Jugendlicher muss Basis für Medienkompetenz-Bildung sein
  • Ausbau von Anlauf- und Beratungsstellen für Opfer digitaler Verbrechen
  • Ausbau von Internet-Schwerpunkt-Staatsanwaltschaften bundesweit
  • Verbesserung der Meldesysteme auf den Plattformen und Etablierung unabhängiger Schiedsstellen

3. Bekämpft Desinformation nicht nur im Wahlkampf

Drei Viertel der 14- bis 24-Jährigen sehen mindestens einmal pro Woche Falschnachrichten online oder in sozialen Medien. Binnen zwei Jahren ist der Anteil um 25 Prozentpunkte gestiegen. Die Zahl jener, die mehrfach täglich auf Desinformation stoßen, hat sich im selben Zeitraum fast verdoppelt. Insbesondere seit dem Beginn der Corona-Pandemie ist die empfundene Menge an Falschnachrichten stark gestiegen.

Gleichzeitig steigt die Fähigkeit, Fehlinformationen zu erkennen, nur langsam. Nach wie vor traut sich mehr als ein Drittel der Jugendlichen nicht zu, die Glaubwürdigkeit von Nachrichten richtig zu beurteilen. Sie wünschen sich Bildungsangebote und Unterstützung, werden aber oft allein gelassen. Zwei Drittel geben an, das Thema Falschnachrichten/"Fake News" sei nie in der Schule behandelt worden – und 85 Prozent sagen, es sollte verpflichtender Inhalt des Unterrichts werden.

Dementsprechend wünscht sich Martin, dass Schulen Lehrpläne modernisieren und Lehrerïnnen Hilfe bekommen, die digitale Lebensrealität der jungen Menschen zu verstehen, denen sie etwas beibringen sollen:

  • Thema Desinformation gehört in den Schulunterricht – fächerübergreifend
  • Digitalkompetenz von Lehrkräften kontinuierlich stärken – auch mithilfe von Schülerïnnen
  • Gründung einer Bundeszentrale für digitale Bildung
  • Digital Literacy für die Generation 40+ ausbauen

Neue Features bei den Plattformen

TikTok

  • Boost-Funktion: Bye Bye organische Reichweite: TikTok hat jetzt auch eine Boost-Funktion (TikTok for Business), wie wir sie bereits seit Jahren von Facebook kennen. Wer „sicher“ Reichweite erzielen möchte, muss / kann künftig dafür zahlen. TikTok folgt damit dem klassischen (Facebook-) Playbook:
  1. Reichweite „for free“ servieren
  2. Akteure auf die Plattform lotsen
  3. Für Reichweite kassieren

Header-Foto von Alexandre Debiève bei Unsplash