TikTok-Deal: Microsoft ist raus, viele Fragen bleiben offen

Was ist

Kurz vor Ablauf der Frist, die Donald Trump gesetzt hatte, steht fest: Microsoft wird das US-Geschäft von TikTok nicht übernehmen. Stattdessen will ByteDance mit Oracle zusammenarbeiten, um ein Verbot zu verhindern. Darüber hinaus bleibt die Zukunft von TikTok aber völlig offen. Wir versuchen, die wichtigsten Fragen zu beantworten.

Warum ist Microsoft ausgestiegen?

Am Sonntagabend veröffentlichte Microsoft vier passiv-aggressive Sätze:

ByteDance let us know today they would not be selling TikTok’s US operations to Microsoft. We are confident our proposal would have been good for TikTok’s users, while protecting national security interests. To do this, we would have made significant changes to ensure the service met the highest standards for security, privacy, online safety, and combatting disinformation, and we made these principles clear in our August statement. We look forward to seeing how the service evolves in these important areas.

Der einzige Rückschluss, den diesen Statement zulässt: Microsoft ist ein bisschen beleidigt und angefressen. "Told you so", könnte man sagen. Spätestens, nachdem Donald Trump "Key Money", a.k.a. Schmiergeld, ins Spiel brachte (#658), hätte Microsoft ahnen können, dass es bei diesem erzwungenen Deal nicht um Sicherheit, Datenschutz oder die Interessen der Nutzerinnen geht.

Entscheidend sind ausschließlich politische Motive. Da ist es nur konsequent, dass mit Oracle nun voraussichtlich dessen Gründer Larry Ellison ein Trump-Buddy und Multi-Milliardär den Zuschlag erhält.

Microsoft verkündete seine Entscheidung wenige Stunden, nachdem ByteDance endgültig klarstellte, dass der Algorithmus nicht zum Verkauf steht (SCMP). Wir wollen keinen kausalen Zusammenhang unterstellen, das wissen wir nicht. Klar ist aber, dass TikTok ohne Algorithmus deutlich weniger reizvoll für potenzielle Käufer oder Partner ist.

Warum ist der Algorithmus so wertvoll?

Der Algorithmus ist das Herzstück von TikTok und offenbar auch ein zentraler Teil der Verhandlungen. Er gilt als einer der wichtigsten Gründe für den rasanten Aufstieg von TikTok. Im Gegensatz zu Facebook basieren die vorgeschlagenen Inhalte nicht auf dem Social Graph. Man muss niemandem folgen und erhält trotzdem personalisierte Empfehlungen.

Der Informatiker Marc Faddoul drückt es so aus (SZ):

Auf Facebook sind Sie durch Ihr privates Netzwerk begrenzt. Tiktok nutzt ein anderes Paradigma. Was Sie tun, kann die ganze Öffentlichkeit erreichen. Auch wenn Sie nur 20 Fans haben, können Ihre Beiträge Tausende Male weiterverbreitet werden, weil der Algorithmus sich nicht für Ihr Netzwerk interessiert.

Wer tiefer einsteigen will, sollte diesen Essay von Eugene Wei lesen. Kein anderer Text erklärt so verständlich, was den Algorithmus so einzigartig macht und wie maschinelles Lernen geholfen hat, den tiefen kulturellen Graben, der zwischen China und den USA klafft, zu überwinden:

TikTok didn't just break out in America. It became unbelievably popular in India and in the Middle East, more countries whose cultures and language were foreign to the Chinese Bytedance product teams. Imagine an algorithm so clever it enables its builders to treat another market and culture as a complete black box. What do people in that country like? No, even better, what does each individual person in each of those foreign countries like? You don't have to figure it out. The algorithm will handle that. The algorithm knows.

Spätestens seit Ende August zeichnete sich aber ab, dass dieser Algorithmus kein Bestandteil einer möglichen Übernahme sein würde. Damals legte das chinesische Handelsministerium fest, dass Programmcode aus China nur dann an ausländische Unternehmen verkauft werden darf, wenn die Behörden zustimmen. Kurz darauf teilte ByteDance mit, man werde sich an diese Vorgabe halten – womit eigentlich klar sein musste, dass ein Algorithmus-Ausverkauf vom Tisch ist.

Was ist über den Algorithmus bekannt?

Vergangene Woche gewährte TikTok einer Gruppe US-Reporterïnnen einen kleinen Einblick in seine Secret Sauce und führte sie virtuell durch das neue Transparency-Center in Los Angeles. Dazu zählten etwa Sara Fischer (Axios) und Casey Newton (The Verge).

Zusammengefasst lässt sich sagen: Allzu viele Geheimnisse hat TikTok nicht verraten, das digitale Pendant zum Coca-Cola-Rezept bleibt nach wie vor unter Verschluss.

Was TikTok erzählte:

  • Wer die App das erste Mal öffnet, sieht acht Videos, die unterschiedliche Trends, Musikgenres und Themen enthalten.
  • Jeder Clip ist bis aufs kleinste Detail durchanalysiert. Der Algorithmus scannt Länge, Hashtags, Bildunterschriften und alle anderen Merkmale, die sich maschinell erfassen lassen.
  • Je nachdem, mit welchem Video man wie lange und in welcher Form interagiert, sortiert der Algorithmus Nutzerïnnen in Cluster ein, die ähnliche Interessen und Vorlieben haben.
  • Mit Hilfe von maschinellem Lernen wird der Grad der Überschneidung zu bestimmten Clustern bestimmt. Darauf basieren die weiteren Empfehlungen, die ständig optimiert und an das Verhalten angepasst werden.
  • TikTok streut immer wieder gezielt Inhalte ein, die nicht perfekt auf das Profil passen. Nutzerïnnen sollen sich schließlich nicht langweilen. Angeblich wolle man damit auch Filterblasen platzen lassen und Echokammern verhindern.

TikTok preist dieses Minimum an Information schon als Transparenz. Ende Juli versprach (TikTok-Newsroom) der damalige Chef Kevin Mayer, man werde seinen Algorithmus offenlegen. Wenn es TikTok damit ernst meint, müssen auf den ersten Einblick noch viele weitere Schritte folgen.

Fairerweise müssen wir aber auch sagen, dass TikTok damit schon mehr getan hat als Facebook oder YouTube. Deren Erklärungen (Facebook, Instagram und insbesondere YouTube) sind mindestens genauso dürftig – und obwohl Facebook seit Jahren verspricht, Forscherïnnen weitgehenderen Zugriff auf Daten zu geben, bleibt die Plattform eine Blackbox.

Wie passt Oracle zu TikTok?

Oracle verdient sein Geld, indem es anderen Unternehmen Datenbanken zu Verfügung stellt (BBC) und große Datenmengen verarbeitet. Das Cloud-Zeitalter hat der Konzern verschlafen, dort dominieren Amazon (AWS) und Microsoft (Azure). Immerhin schloss Oracle kürzlich einen Vertrag mit Zoom, dem es sichere Server zu Verfügung stellt. Privatnutzerïnnen kommen mit Oracle kaum in Kontakt, geschweige denn Teenagerïnnen.

Gründer und Chef Ellison pflegt gute Beziehungen ins Weiße Haus. Sein erster Kunde war die CIA, es folgten Navy, Air Force und NSA. Oracle ist also noch ein gutes Stück weiter von der TikTok-Zielgruppe entfernt, als Microsoft es gewesen wäre. Es ist gut vorstellbar, dass Oracle TikTok in kürzester Zeit ruiniert hätte, wäre es zu einem vollständigen Verkauf gekommen.

Eine Partnerschaft, wie auch immer sie am Ende ausgestaltet wird, könnte da besser passen, sagt Dong Jielin, der am China Institute for Science and Technology Policy an der Tsinghua Universität in Peking forscht:

It makes more sense for Oracle to be a tech partner rather than completely buying TikTok in the US, otherwise Oracle’s culture will encumber TikTok’s development. As an enterprise software developer, Oracle’s slow pace doesn’t match the fast pace required by the consumer market.

Wie könnte ein Deal aussehen?

Stand Montagabend scheint nur klar zu sein, dass das US-Geschäft von TikTok nicht zur Gänze verkauft wird. Dagegen hat China ein hartes Veto eingelegt, auch ByteDance hat daran kein Interesse. Treffend beschreibt es die Financial Times:

If you were trying to explain this deal to a teenage TikTok fan you might say: imagine the Hype House of influencers tried to convince TikTok star Charli D’Amelio to join, but only succeeded in getting her to redirect her mail. The arrangement looks like a fudge.

Nun müssen sich Oracle und ByteDance einig werden, was sie genau unter einer "Technologie-Partnerschaft" verstehen:

  • Bezahlt TikTok, weil es seine Daten in der Cloud von Oracle speichern darf und Ellison hilft, Trump zu beruhigen? (Interessanter Randaspekt: Erst im Juli kaufte sich TikTok für 800 Million Dollar (The Information) Speicherplatz in der Google-Cloud – was geschieht damit?)
  • Oder fließt Geld aus den USA nach China, weil Oracle und andere Investoren wie General Atlantic und Sequoia Capital ihre Anteile an TikTok aufstocken?

Und selbst wenn das geklärt ist, bleiben zwei entscheidende Fragen offen:

  • Was sagt Trump? Eine Partnerschaft ist etwas anderes als der Verkauf, den der US-Präsident ursprünglich gefordert hatte. Reicht es, dass sein Kumpel Ellison profitiert und vielleicht noch die eine oder andere Milliarde "Key Money" ans Finanzministerium fließt?
  • Stimmt China zu? Die bisherigen Äußerungen aus Peking lassen auf einen harten Kurs schließen, der US-Einfluss auf TikTok weitgehend ausschließt. War das nur Verhandlungstaktik?

Wie lange bleibt noch Zeit?

Seit Wochen kursieren drei unterschiedlichen Datumsangaben: der 15. September, der 20. September und der 12. November.

  • Warum Trump immer wieder den 15.9. in Spiel bringt, weiß nur er selbst. Die beiden Executive Orders (EO) enthalten jedenfalls keinen Hinweis auf dieses Datum.
  • Die erste EO vom 6. August setzte eine Frist von 45 Tagen, innerhalb derer TikTok verkauft werden muss. Andernfalls würden am 20.9. alle Geschäftsbeziehungen zu ByteDance verboten.
  • Die zweite EO verlängerte die Frist auf 90 Tage. Allerdings muss der Deal nach wie vor bis zum 20.9. verkündet werden – nur bleibt bis zum 12.11. Zeit, um alle Details abschließend zu klären.

Das passen auch die Aussagen von US-Finanzminister Steven Mnuchin. Bei CNBC nannte er als Stichtag den kommenden Sonntag. Außerdem bestätigte er (Axios), dass Oracle einen Vorschlag vorgelegt hat, den das Weiße Haus nun prüfe. Demnach will Oracle unter anderem TikToks Firmensitz in die USA verlagern und dort 20000 Jobs schaffen.

Wird TikTok jetzt wirklich sicherer?

Worum ging es bei der ganzen Sache nochmal? Ach ja, Datenschutz und Sicherheit. Hätte man fast vergessen können. Facebooks früherer Sicherheitschef Alex Stamos sieht (Twitter) den sich abzeichnenden Deal jedenfalls als Indiz, dass die angeblichen Sicherheitsinteressen nur vorgeschoben waren:

A deal where Oracle takes over hosting without source code and significant operational changes would not address any of the legitimate concerns about TikTok, and the White House accepting such a deal would demonstrate that this exercise was pure grift.

Zwar soll der Oracle-Plan auch Vorschläge enthalten, wie Daten vor chinesischem Zugriff geschützt werden können. Doch solange der Code aus fremder Hand stammt, können Backdoors nicht ausgeschlossen werden – siehe etwa den Streit um die Netzwerktechnik von Huawei.

Hinzu kommt, dass sich mit einem Käufer Oracle ganz neue Datenschutz- und Sicherheitsbedenken auftun. Ausgerechnet Michael Beckerman, mittlerweile für TikToks Public Policy in den USA zuständig, schrieb 2019 in seiner damaligen Funktion als Vorsitzender der Internet Association in einem Gastkommentar (Fox News):

While individuals expect a social media company to know about the information on their profiles, they likely have no idea that Experian, Oracle, or many other massive data brokers have their address, phone number, and a dossier of their probable medical ailments.

Be smart

Es gab noch eine dritte EO (White House), die sich gegen WeChat richtete (SZ). Für Tencent gelten dieselben Fristen wie für ByteDance – Verkaufen oder Verbieten. Die Verordnung kam damals überraschend und wird seitdem kaum noch erwähnt. Doch wenn es Trump ernst meint und kein überraschender Käufer (oder "Technologie-Partner") auftaucht, müsste er die App am Sonntag aus den USA verbannen.

Und was auch immer mit TikTok geschieht: Die Konkurrenz hat sich bereits in Stellung gebracht. Facebook mit dem eher stümperhaften Klon Reels (NYT) und nun auch YouTube: Die Kurzvideo-App Shorts startet gerade in Indien (YouTube-Blog) und soll bald in weiteren Märkten verfügbar sein.


Neues von den Plattformen

Messenger

Instagram

  • Patent auf „Links nur gegen Geld“: Bei Instagram können ja in der Caption bislang keine echten Links gesetzt werden. Ihr kennt das. Facebook hat sich jetzt eine Technologie patentieren lassen, mit der Nutzerïnnen sehr wohl Links posten können – gegen Geld. Instagram erklärt dazu: "We have no plans of introducing this functionality on Instagram." Das wollen wir auch hoffen. Ansonsten wäre es einfach nur Mittelfinger an die Ursprungsidee des World Wide Web.

Header-Foto von Walid Hamadeh bei Unsplash