Google ist zur Sackgasse geworden
Was ist
Ein Großteil der Google-Suchen führt zu keinem weiteren Klick. Menschen googeln – und bekommen die gewünschte Antwort schon auf der Ergebnisseite. Aus dem digitalen Wegweiser ist eine gigantische Wissensdatenbank geworden.
Warum das wichtig ist
Das freie Netz ist vom Aussterben bedroht. Big Tech dominiert das World Wide Web, und jeder dieser Konzerne versucht, Menschen möglichst lang im eigenen Ökosystem festzuhalten. Diese Entwicklung ist nicht neu, doch die aktuellen Zahlen verdeutlichen, wie stark sich auch Google gewandelt hat.
Für Seiten, die auf SEO-Traffic angewiesen sind, ist das eine beängstigende Perspektive. Ihr Geschäftsmodell beruht darauf, über Google gefunden zu werden. Deshalb dürfte das Thema auch Kartellbehörden interessieren, die prüfen, ob Google seine Marktmacht rechtswidrig ausnutzt.
Was die Zahlen sagen
- Rand Fishkin ist SEO-Experte und Gründer der Analyse-Firma SparkToro. Auf Grundlage von SimilarWeb-Daten schreibt er, dass im vergangenen Jahr 64,82 Prozent aller Google-Suchen zu keinem weiteren Klick geführt hätten.
- Die Zahlen beruhen auf einem globalen Panel mit mehr als 100 Millionen Nutzerïnnen. Trotzdem dürfte das Ergebnis nicht komplett repräsentativ sein.
- Am besten rundet man also nicht nur die beiden Nachkommastellen weg, sondern macht daraus: mehr als die Hälfte, vielleicht sogar zwei Drittel.
- Fishkin hatte eine ähnliche Auswertung bereits vor anderthalb Jahren vorgenommen und kam damals auf gut 50 Prozent. Die Zahlen lassen sich aber nicht direkt miteinander vergleichen, weil sie aus unterschiedlichen Quellen stammen und sich die Analyse 2019 nur auf die USA bezog.
- Grundsätzlich kann man sagen, dass der Klickanteil am Desktop deutlich höher liegt. Dort führen rund die Hälfte der Suchen zu einem weiteren Klick.
- Wer auf dem Handy oder Tablet googelt, endet aber in mehr als drei Viertel der Fälle in einer Sackgasse.
Was Google sagt
- Google-Manager Danny Sullivan versucht in einem Blogeintrag, die Behauptungen von Fishkin zu entkräften: „To set the record straight, we wanted to provide important context about this misleading claim.“
- Danach folgt allerdings kein echtes Dementi, sondern nur zusätzliche Informationen. Die helfen zwar, die aktuellen Daten einzuordnen – wen die grundsätzliche Entwicklung beunruhigt, findet aber wenig Gründe, sich keine Sorgen mehr zu machen.
- Sullivan beschreibt, dass viele Menschen ihre Suchanfragen umformulierten, ohnehin nur auf der Suche nach schnellen Fakten seien oder Google nutzten, um Unternehmen direkt zu kontaktieren.
- Jedes Jahr schicke Google Milliarden Menschen zu anderen Webseiten, und der Traffic steige kontinuierlich. Das könnte aber auch an einem insgesamt gestiegenen Suchvolumen liegen. Relevant ist der Anteil der Weiterleitungen – und den verschweigt Sullivan.
- Google liege das offene Netz am Herzen, die Suche helfe Unternehmen, Verlagen und Creators.
- All das mag zutreffen. Doch wahr ist auch: Wenn Google weniger Informationen direkt in der Suche präsentiert, besuchen mehr Menschen andere Seiten.
- Aus Sicht der Nutzerïnnen mag das teils umständlicher sein, aus Sicht der Seitenbetreiberïnnen ist es aber definitiv gewünscht.
Wie und warum Google sich gewandelt hat
- Als Google vor 17 Jahren an die Börse ging, sagte Gründer Larry Page in einem Interview mit dem Playboy (Kottke): „Wir wollen, dass Sie zu Google kommen und schnell finden, was Sie wollen. Dann schicken wir Sie gern weiter zu anderen Seiten.“
- Der Reporter fragte Page, was er von Plattformen halte, die Nutzer so lang wie möglich bei sich halten wollten. Antwort: „Wir wollen, dass Sie Google so schnell wie möglich verlassen.“
- Heute hat Google nichts mehr mit dem Unternehmen zu tun, das Page beschrieb. Früher war Google ein Bibliothekar, der wissbegierigen Menschen sagte, in welchen Büchern sie die hilfreichsten Informationen finden.
- Heute kennt der Bibliothekar Standort und Klappentext aller Bücher sowie deren Inhalt. Und beantwortet viele Fragen einfach selbst.
- Für die Besucherïnnen ist das bequem: Sie müssen keine Bücher mehr aufschlagen, sondern erfahren sofort, was sie wissen wollten.
- Die Autorïnnen sind weniger begeistert: Lesen immer weniger Menschen, verliert ihre Arbeit an Wert.
- Kurzfristig trifft das nur Schriftstellerïnnen, langfristig die ganze Bibliothek: Hören Menschen auf, Bücher zu schreiben, weil sie nicht davon leben können, dass der Bibliothekar ihre Werke zusammenfasst?
- Die Antwort auf diese Frage betrifft ein paar Milliarden Menschen und die Zukunft des offenen Netzes.
- Hinter der Entwicklung steckt der sogenannte Knowledge Graph, den Google seit 2012 pflegt. In diese Sammlung fließen Informationen von Milliarden Seiten ein, die Google systematisch durchsucht, indexiert und aufbereitet.
- Der Knowledge Graph ist größer als alle Bibliotheken, Datenbanken und Informationssammlungen, die Menschen je erstellt haben. Bereits 2016 soll er 70 Milliarden Fakten enthalten haben.
- Früher glichen sich fast alle Ergebnisseiten: zehn Links, manchmal eine Anzeige. Wer heute googelt, sieht bei manchen Suchanfragen auf den ersten Blick nur noch Informationen aus dem Knowledge Graph und Ergebnisse, für die Google Geld erhält.
- Viele Ergebnisse bestehen aus mehreren Werbeanzeigen, Youtube-Videos, einem Kasten mit häufigen Nutzerfragen und einem Auszug aus dem entsprechenden Wikipedia-Eintrag. Um das erste klassische Suchergebnis zu sehen, muss man mehrfach nach unten scrollen.
- Manche Unternehmen sehen sich gezwungen, Anzeigen auf ihren eigenen Namen als Suchbegriff zu schalten, damit ihre Webseite überhaupt gefunden wird.
- Google selbst sagt, man wolle Menschen nicht nur Antworten geben, sondern ihnen helfen, Dinge zu erledigen.
- Tatsächlich ist der Knowledge Graph praktisch: Wenn die Suche auch Fragen beantwortet, das Wetter anzeigt, Rechenaufgaben löst, Flugpreise vergleicht oder Podcasts abspielt, spart das Zeit.
- Es stecken aber auch finanzielle Motive dahinter, denn Behalten ist lukrativer als Weiterleiten: Wenn Nutzerïnnen mehr Zeit mit Google, YouTube, Maps oder Gmail verbringen, kann das Unternehmen ihnen entweder mehr Werbung zeigen oder mehr Daten sammeln, um Inhalte und Anzeigen zu personalisieren.
Be smart
In seinem Blogeintrag schreibt Fishkin:
Scholars, economists, technologists, and hopefully a few folks in the antitrust world will likely draw their own conclusions about this data, and while I have strong opinions on the matter, I’ll let the numbers speak for themselves in this post.
Diese Kalkulation dürfte aufgehen. Es ist wohl kein Zufall, dass Google nur zwei Tage, nachdem Fishkin seine Zahlen veröffentlicht hatte, mit einem Eintrag im offiziellen Firmenblog reagierte.
Tatsächlich schauen Kartellwächter gerade in vielen Ländern aus unterschiedlichen Gründen ganz genau hin, was Google macht. 2017 verhängte die EU bereits eine Milliardenstrafe, weil der Konzern seinen Shopping-Dienst in der Suche bevorzugt haben soll. Reiseportale wie Yelp und Tripadvisor hatten geklagt, Google missbrauche seine Marktmacht.
Jetzt hat auch YouTube seinen TikTok-Klon
Was ist
Keine Social-Media-App der Welt wächst schneller als TikTok. YouTube Shorts soll junge Nutzerïnnen im Google-Universum halten. Nach einem Beta-Test in Indien wird der TikTok-Klon jetzt in den USA ausgerollt.
Wie YouTube Shorts funktioniert
- Das Prinzip ist das Gleiche wie bei TikTok: Videos dürfen höchstens 60 Sekunden lang sein, mit der Multi-Segment-Kamera können Nutzerïnnen viele kurze Clips zusammenschneiden.
- YouTube hat Verträge mit mehr als 250 großen Labels abgeschlossen (Techcrunch), damit eine große Auswahl an Musik zur Verfügung steht, mit der man die Videos unterlegen kann.
- Die Filter sind längst noch nicht so zahlreich und ausgereift wie bei TikTok, aber grundsätzlich erinnert das Backend stark ans große Vorbild.
- Auch das Frontend hat YouTube kopiert und die „For You“-Seite nachgebaut. Navigation und Funktionen ähneln denen von TikTok.
- Einen großen Vorteil hat YouTube: Man kann die Tonspur jedes Videos der Plattform als Grundlage für einen eigenen Clip nutzen. „We’re planning to create a playground of creativity“, sagt Todd Sherman, der Produktchef von Shorts.
Woran es YouTube Shorts fehlt
- Da Shorts bislang nicht in Deutschland getestet wird, können wir keine eigenen Eindrücke teilen. Dementsprechend heben wir uns eine ausführlichere Betrachtung für einen späteren Zeitpunkt auf.
- Für den Moment verweisen wir auf die Kritik von Chaim Gartenberg (The Verge) und Casey Newton (Platformer).
- Shorts kratze bislang höchstens an der Oberfläche seines Potenzials, schreibt Gartenberg. Es fehlten wichtige Funktionen und eine Möglichkeit für Creator, Geld zu verdienen.
- Newton bezweifelt, dass es eine gute Idee ist, eine Abspielfläche für kurze Clips in eine Plattform zu integrieren, auf der viele Menschen minuten- oder gar stundenlange Videos anschauen. Er glaubt nicht, dass eine App gleichzeitig beide Zielgruppen und Bedürfnisse bedienen könne.
- Tatsächlich könnte YouTube schnell überladen wirken, wenn es seine App mit Shorts zusammenführt. Ähnliches ist auch schon bei Instagram zu beobachten, wo Reels manchmal wie ein Fremdkörper wirkt.
Be smart
Bevor wir Shorts nicht selbst ausprobiert haben, wollen wir keine Prognose abgeben, wohin sich die Plattform entwickelt. Grundsätzlich sind die Möglichkeiten aber riesig: Tatsächlich könnte YouTube davon profitieren, dass es bereits einen gewaltigen Videoschatz besitzt, wie Newton schreibt:
Given YouTube’s vast corpus of content, it’s easy to imagine how this might jump-start the ecosystem. I’m sure Shorts creators will have a lot of fun lip-synching to their favorite YouTubers.
Doch Google hat in der Vergangenheit immer wieder bewiesen, dass es kein allzu glückliches Händchen mit Social Media hat. Erinnert sich noch jemand an Google+ oder kann die ungefähr 27 unterschiedlichen Messenger-Plattformen auseinanderhalten, die Google im Monatsrhythmus startet, zusammenlegt und wieder einstampft?
Klar ist auch, dass YouTube mit seinem TikTok-Klon spät dran ist. Facebook hat es mit Lasso schon vor Jahren versucht und ist gescheitert. Dann startete der Konzern mit Reels einen zweiten Versuch und hat offenbar aus seinen Fehlern gelernt. Zumindest die Zahlen deuten daraufhin, dass es jetzt besser läuft.
Shorts hat also große Konkurrenz – und mit TikTok einen Rivalen, der sich nicht so einfach kopieren lässt. In einem Essay beschrieb Eugene Wei vergangenen Monat, wie einzigartig TikTok ist:
Of course, people grab TikToks and share them on YouTube or Twitter or as Reels on Instagram, but those apps receive flattened video files and can’t break them into component parts to be remixed the way you can on TikTok. Those other services are fine endpoints for distribution, but the creativity happens on TikTok. (…)
This is why TikTok’s network effects of creativity matter. To clone TikTok, you can’t just copy any single feature. It’s all of that, and not just the features, but how users deploy them and how the resultant videos interact with each other on the FYP feed. It’s replicating all the feedback loops that are built into TikTok’s ecosystem, all of which are interconnected. Maybe you can copy some of the atoms, but the magic lives at the molecular level.
Social Media & Politik
Studie stellt NetzDG mieses Zeugnis aus
- Ein Team unter der Leitung des Juristen und Medienwissenschaftlers Marc Liesching hat eine Teilevaluation des deutschen Netzwerkdurchsetzungsgesetzes vorgelegt.
- Die Studie „Das NetzDG in der praktischen Anwendung (Carl Grossman Verlag)“ kritisiert das Gesetz gegen Hassrede. Es „bringt wenig und führt zu Overblocking“, fasst Heise die Ergebnisse zusammen.
- „Die Studienbefunde lassen aus unserer Sicht wenig Raum, Overblocking weiterhin als ‚bloße Spekulation‘ zu bagatellisieren“, sagt Lieschnig (Netzpolitik).
- Die sozialen Netzwerke hätten in der Befragung teils selbst eingeräumt, dass sie aufgrund des NetzDG im Zweifel mehr löschten, um Bußgelder zu vermeiden.
- Dem stehe geringer Nutzen gegenüber. Das NetzDG habe entgegen den Aussagen der Bundesregierung „eine nur marginale Bedeutung in der Anwendungspraxis“.
- Auch deshalb sei es notwendig, genau zu prüfen, ob das NetzDG geeignet, erforderlich und angemessen und damit verfassungskonform sei.
Die Urheberrechtsreform kommt in den Bundestag
- Apropos kritikwürdige deutsche Netzgesetze: Am Freitag steht die Bundestagsdebatte über die Reform des Urheberrechts an.
- Den „Entwurf eines Gesetzes zur Anpassung des Urheberrechts an die Erfordernisse des digitalen Binnenmarktes“ haben wir in Briefing #700 ausführlich beleuchtet.
- Damals beschloss das Bundeskabinett den Gesetzentwurf, inhaltlich hat sich seitdem nichts daran geändert.
- Wenn du dich über den aktuellen Stand informieren willst, kannst du also einfach unsere Analyse aus dem Februar lesen – oder die Vorschau, die Golem auf die Debatte veröffentlicht hat: „Wie sich die Koalition die Uploadfilter schönredet„
Neue Features bei den Plattformen
- Twitter forscht an Emoji-Reaktionen: Twitter prüft, mehr Reaktions-Optionen (The Verge) einzuführen. Im Moment lassen sich Tweets nur mit einem Herz liken, das könnte sich bald ändern. Ähnlich wie bei Facebook und LinkedIn dürften bald zusätzliche Emojis zur Verfügung stehen.
YouTube
- YouTube erkennt Produkte in Videos: Ausgewählten US-Nutzerïnnen wird derzeit unterm Videoplayer eine Liste mit Produkten (9to5google) angezeigt, die in dem gerade betrachteten Video zu sehen sind. Ob die Funktion grundsätzlich ausgerollt wird, ist noch nicht klar.
Slack
- Slack baut Messenger-Funktion massiv aus: Connect DMs heißt das neue Feature mit dem Slack-Userïnnen in Kontakt mit anderen Slack-Userïnnen treten sollen (Protocol) – und zwar Channel- und Workspaces-übergreifend. Via geschäftlicher E-Mailadresse können Einladungslinks versendet werden. Die Konversationen sind an die Organisation der Benutzerïnnen gebunden, existieren aber in einem separaten Abschnitt der Slack-App. Slack erhofft sich dadurch, der zentrale Ort für jegliche Arbeits-Kommunikation zu werden. Der Witz an der Sache: Bereits nach zehn Minuten musste Slack das Feature (vorerst) wieder zurücknehmen, weil die Plattform extremes Spamming verursachte.
Header-Foto von Jonathan Farber bei Unsplash
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