Fünf Sichtweisen auf TikTok
Was ist
2022 müssen wir niemandem mehr erklären, wie groß und relevant TikTok ist (in Briefing #768 haben wir es trotzdem getan). Mit der enormen Reichweite geht Verantwortung einher, der TikTok nicht immer gerecht wird – genauso wie alle anderen Plattformen. In dieser Ausgabe sammeln wir einige aktuelle Entwicklungen rundum TikTok, die in keinem direkten Zusammenhang stehen. In der Summe vermitteln sie aber ein gutes Bild davon, wo die App gerade steht und welche Herausforderungen warten.
1. TikTok hat ein Vertrauensproblem
- Schon wieder ein Zensurvorwurf, und wieder war es Netzpolitik. Nach den Enthüllungen im Jahr 2019 (Netzpolitik), die Einblick in TikToks Moderationsregeln gaben, haben die Kollegïnnen erneut etwas ausgegraben.
- Sebastian Meineck ist aufgefallen, dass TikTok bestimmte Wörter zu zensieren schien (Netzpolitik), wenn die Tonspur von Videos automatisch in Untertitel umgewandelt wird.
- Die neue Funktion machte bestimmte deutsche Wörter unkenntlich, aus "Umerziehungslager" wurde etwa "umerziehung", wer "Prostitution" sagte, las nur "pros". Insgesamt geht es um neun Begriffe.
- Nach der Veröffentlichung des Berichts hat sich TikTok bei uns gemeldet. Demnach hatte Netzpolitik eine knappe Deadline gesetzt, man habe intern weiter recherchiert.
- Das Ergebnis: "Bei einem kürzlichen Test von Untertiteln wurden veraltete englische Sprach-Schutzmaßnahmen, einschließlich Einschränkungen für englischsprachige Schimpfwörter, fälschlicherweise für die deutsche Funktion angewendet."
- Tatsächlich enthalten alle fraglichen Begriffe einen englischsprachigen Ausdruck wie "ass" (etwa in "Rassismus"), "tit" ("Prostitution") oder "slag" ("Arbeitslager"). Die Erklärung klingt also nachvollziehbar.
- Netzpolitik schreibt aber auch:
Zahlreiche andere Wörter wurden von TikTok problemlos in Text verwandelt, darunter Schimpfwörter, sexuelle Begriffe und Wörter, die Menschenrechtsverletzungen in China anprangern. Selbst wenn hinter den unkenntlich gemachten Untertiteln ein politischer Einfluss auf bestimmte Themen stecken würde, dann wäre er nicht konsistent. Wir wollten von TikTok wissen, nach welchen Kriterien die betroffenen Worte ausgewählt wurden – keine Antwort.
- Auch auf Englisch gab es Probleme mit der Transkription, unter anderem wurde der Ausdruck "asian woman" nicht in Text umgewandelt.
- Grundsätzlich können wir verstehen, dass eine große Plattform, die auch Menschen in den prüden USA und im Nahen Osten ansprechen will, bestimmte Schimpfwörter oder sexualisierte Ausdrücke unkenntlich macht.
- Instagram handhabt das übrigens ähnlich (Mashable), bei YouTube lässt sich die Option zumindest deaktivieren (Google-Support). Im angelsächsischen Raum setzen audiovisuelle Medien den bleep censor (Wikipedia) ein, um Teenager bloß nicht mit einem "fuck" zu verstören, das sie sonst sicher nie in den Mund nehmen.
- Wir möchten TikTok aber nicht in Schutz nehmen, die Kritik ist berechtigt. Schließlich geht die Plattform völlig intransparent vor, es gibt keinen Überblick und keine Auskunft, welche Wörter auf dem Index stehen.
- Das zieht bereits einen Chilling Effect nach sich. Creator verfremden in Texttafeln bestimmte Wörter, weil sie Drosselung oder Zensur fürchten. Aus "sexueller Gewalt" wird dann "s3ksu3ll3r G3w4lt", andere schreiben von "Seggs" oder "D€pr€$$ion".
- Für uns zeigt der aktuelle Fall: TikTok hat in der Vergangenheit zu oft mit offenbar politischer Motivation zensiert (Guardian), LGBTQ-Inhalte unterdrückt (Reuters), Schwarze Creator vor den Kopf gestoßen (NBC) und entgegen aller Beteuerungen eng mit China zusammengearbeitet (Insider), um noch einen Vertrauensvorschuss zu genießen.
- Wir halten es für plausibel, dass TikTok die Begriffe, die Netzpolitik aufgefallen waren, aufgrund eines technischen Fehlers unkenntlich gemacht hat. Wir können aber auch verstehen, warum solche Erklärungen manche misstrauisch machen und sie sich fragen, ob nicht doch mehr dahintersteckt.
2. TikTok ist hochpolitisch
- Der Ukraine droht ein Krieg, Zehntausende Soldatïnnen sind in der Grenzregion postiert und bereiten sich auf einen Angriff vor.
- Auf TikTok kursieren Videos der russischen Truppen (Axios). Viele stammen von den Soldaten (Twitter / Michael Kofman) oder Zivilistinnen (Twitter / Rob Lee), die russische Kämpfer beobachten (Twitter / 4emberlen).
- Der für uns interessanteste Absatz aus dem Axios-Text:
And TikTok's specific algorithm amplifies user-generated content over professional content, which is helping these videos about geopolitical conflicts overseas go viral quickly.
- Diese Erkenntnis ist nicht neu oder spektakulär, aber sie passt gut zu unserem nächsten Punkt …
3. TikTok will eine Wohlfühl-Plattform sein
- …weil sie verdeutlicht, dass TikTok einen schwierigen Spagat schaffen muss. "Wir wollen eine Entertainment-Plattform sein", diesen Satz sagte TikTok-Chef Tobias Henning ungefähr ein halbes Dutzend Mal, als wir im vergangenen Jahr mit ihm sprachen. "Drei Viertel unserer Nutzerinnen und Nutzer sagen, dass sie zu Tiktok kommen, um sich unterhalten zu lassen."
- Politik findet auf TikTok statt, aber sie wird dort bestenfalls geduldet und nicht gefördert. Man hat aus dem abschreckenden Beispiel gelernt, das Plattformen wie Facebook vorgelebt haben: Politische Inhalte machen in erster Linie Ärger, Comedy-Clips, Tanz-Videos und Koch-Tutorials sind pflegeleicht und lukrativ.
- Das muss nichts Schlechtes sein. Das Leben besteht nicht nur aus Politik und Nachrichten. Die meisten Menschen möchten sich lieber unterhalten lassen, und das ist auch okay.
- Eine Plattform von der Größe TikToks kann die Welt aber nicht aussperren. Mehr als eine Milliarde Menschen nutzen die App, und damit kommt nicht nur harte Realpolitik, sondern auch andere herausfordernde Inhalte.
- Vergangene Woche skizzierte Cormac Keenan, bei TikTok für Trust & Safety zuständig, in einem Blogeintrag neue Maßnahmen, "damit Menschen auf TikTok sich weiterhin sorglos miteinander vernetzen, Inhalte erstellen und teilen und die Zeit zusammen genießen können".
- Im Fokus steht eine geschützte und sichere "Entertainment-Plattform" (da ist wieder dieses Wort). Deshalb verschärft TikTok unter anderem das Vorgehen gegen bestimmte gefährliche Challenges, verändert den Umgang mit Essstörungen und verbannt etwa Deadnaming, Misgendering oder Frauenfeindlichkeit.
- Das zeigt, wer die wichtigste Zielgruppe für TikTok ist (Platformer):
I was struck by how focused they are on young people: addressing concerns about eating disorders, the treatment of LGBT people, and the kind of dangerous stunts that sometimes go viral in schools.
- Die Ankündigungen sind sinnvoll, aber bislang sind es eben Ankündigungen. Auch andere Unternehmen geben sich sinnvolle Regeln, scheitern aber an der Umsetzung (hi, Meta). Marcus Bösch merkt deshalb zu Recht an:
While this sounds good, TikTok has always been good at promising great things without doing much afterwards. See our investigation for Mozilla – Broken Promises: TikTok and the German Election. For example: It is not necessarily the community guidelines that are a problem but the lack of enforcement.
- Daran schließt erneut der folgende Punkt an …
4. TikTok wildert bei der Konkurrenz
- …denn TikTok scheint sich bewusst zu sein, dass es mehr Content-Moderatorïnnen braucht, um seine Richtlinien zu überprüfen und durchzusetzen.
- Offenbar versucht das Unternehmen derzeit, Hunderte Mitarbeiterïnnen abzuwerben (FT), die bei Drittfirmen für Facebook und andere Plattformen arbeiten, mit denen TikTok in Konkurrenz steht.
- Dabei scheint es unter anderem mit besseren Arbeitsbedingungen zu locken: "I chose TikTok because the benefits are better, the environment is better, and the company values every member", zitiert die FT eine abgeworbene Person, die zuvor für den Dienstleister Accenture tätig war.
- Die Menge an verstörenden Inhalten sei vergleichbar, dafür soll die psychologische Unterstützung besser sein. Das sagt eine andere Person, die bislang für YouTube nach Inhalten suchte, die gegen die Gemeinschaftsstandards verstoßen.
- Das sehen aber nicht alle Moderatorïnnen so. In Kalifornien verklagt eine ehemalige TikTok-Mitarbeiterin das Unternehmen (NBC), weil die Videos sie krank gemacht hätten und sie angeblich unter PTSD leidet.
- Wir wissen wenig über die konkreten Verhältnisse bei TikTok, können aber mit Sicherheit sagen: Unabhängig von der Plattform ist Content-Moderation immer ein extrem belastender Job, bei dem Zehntausende Menschen im Sekundentakt fürchterliche Inhalte anschauen müssen.
- Wenn TikToks Abwerbeversuche dazu führen, dass Plattformen nicht nur um Creator, sondern auch um Content-Moderatorïnnen konkurrieren, könnte das die übelsten Missstände beseitigen. Dann müssten die Unternehmen bessere Arbeitsbedingungen bieten, die Schichten verkürzen, den Zeitdruck entschärfen und womöglich auch mehr zahlen, um Kündigungen zu vermeiden.
5. TikTok hat noch lange nicht gewonnen
- Als Mark Zuckerberg die enttäuschenden Quartalszahlen (#775) erklärte, erwähnte er mehrfach TikTok.
- Die App ist einer der Gründe, warum sich jüngere Menschen erst gar nicht mehr bei Facebook anmelden und auch Instagram bangen muss.
- Zuckerberg setzt seine Hoffnungen in Reels. Der TikTok-Klon soll die Abwanderungsbewegung der Nutzerïnnen stoppen.
- Bislang ist der Erfolg überschaubar, TikTok wächst und wächst und wächst (#768). Es wäre aber zu früh, Reels abzuschreiben und TikTok zum Sieger zu erklären.
- Als Instagram das Stories-Format von Snapchat kopierte, dauerte es auch eine Weile, bis die Strategie aufging und der Hype um Snapchat abflaute. TikTok ist um ein Vielfaches größer und (für Meta) gefährlicher, als es Snapchat je war – trotzdem hat Instagram einige Vorteile, auf die Alex Kantrowitz hinweist (Big Technology).
- Erstens ist Instagram ungefähr doppelt so groß wie TikTok. Wenn TikTok seine Nutzerzahl auf zwei Milliarden verdoppeln möchte, muss es neue Zielgruppen erschließen. Für Teenager mag TikTok die App der Wahl sein – deren Eltern könnten Reels bevorzugen.
- Zweitens wirft Meta mit Geld um sich und wirbt Creator ab. Derzeit lässt sich auf Instagram deutlich mehr verdienen als auf TikTok, das von der Kreativität seiner Nutzerïnnen lebt. Wenn die talentiertesten Creator gehen, wird es schnell langweilig.
- Drittens ist Indien ein riesiger Markt, auf dem TikTok nicht mehr mitspielen darf. Dadurch verlangsamte sich das weltweite Wachstum im vergangenen Jahr massiv. TikTok hat offenbar mehrfach vergeblich versucht, Indien zu überzeugen, das Verbot aufzuheben. Die Position der Regierung scheint endgültig zu sein.
- Viertens sind Werbetreibende oft träge. Es dauert, bis sie ihr Budget umschichten. "I rarely get primary inquiries about spending on TikTok or Snapchat; it’s always about Facebook and Instagram", zitiert Kantrowitz einen Branchenexperten.
- Der letzte Punkt steht in Widerspruch zu einem Bericht von The Information, demzufolge Agenturen und Unternehmen verstärkt auf TikTok werben. Trotzdem schließen wir uns dem Fazit an, das Kantrowitz zieht:
TikTok is the world’s hottest app. It regularly beats Instagram’s download numbers in the U.S. and across the globe. TikTok, as Ritholtz Wealth’s Josh Brown said on Big Technology Podcast this week, is Facebook’s most serious competition since MySpace. That said, Reels has a lot to lean back on, and you can bet it will use those resources to ward off a quiet death.
Zahlen, Daten, Reports
- Status Quo 2022: Der neue Global Overview Report: Digital 2022 ist da. Wer sich für Zahlen rund um die Nutzung von Internet, Social Media, Apps und E-Commerce interessiert, sollte sich den Report in voller Länge (300 Seiten!) anschauen. Wer nicht ganz so viel Zeit hat, kann auf die Analyse von Marie-Christine Schindler bauen. Auf ihrem Blog bietet sie eine lesenswerte Zusammenfassung des Reports. Einige der abgeleiteten Key-Learnings:
Social Media verzeichnen ein zweistelliges Wachstum: Die Nutzerzahlen der sozialen Medien wachsen weiterhin und das noch schneller als vor der Pandemie.
TikTok, YouTube und Instagram verzeichnen ein massives Wachstum. (…) Die Nutzung von YouTube und Facebook verharrt auf hohem Niveau. Userinnen verbringen inzwischen fast einen ganzen Tag pro Monat damit, Videos in der App anzusehen.
Die Kosten für Werbung in sozialen Medien sind erheblich gestiegen
Social Media & Journalismus
- Facebooks News Feed heißt jetzt nur noch Feed: Facebooks News Feed wurde nicht nur notorisch falsch geschrieben. Dieser eine zentrale Ort, dem Facebook (die App) zu +90 Prozent seine Milliarden-Gewinne zu verdanken hat, ist auch schon lange kein Angebot mehr, das Nutzerïnnen primär mit News versorgt. Um diesem Wandel gerecht zu werden, wird nun das News aus dem Namen gestrichen. Für Publisher sind das sicherlich nur mäßig gute Zeichen, unterstreicht es doch einmal mehr, wie wenig Bock Facebook auf News hat. Nun ja, happy scrolling, wie Facebook twittert.
Follow the money
- TikTok Instant Pages: Erinnert sich jemand an Instant Articles bei Facebook? Dahinter stand einmal die Idee, dass Facebook-Nutzerïnnen häufig nicht geduldig genug sind, um darauf zu warten, dass die Hundert Skripte eben jener Seite geladen haben, auf die sie über einen Link-Post im News Feed gestolpert sind. Mit Instant Articles bekamen Publisher die Möglichkeit, ihre Inhalte direkt auf Facebook zu hosten. Alles sehr viel schneller, aber eben auch voller Sorgen und Probleme. TikTok führt nun eine ganz ähnliche Funktion ein. Allerdings nicht für Publisher sondern für Unternehmen, die ihre Produkte bei TikTok anpreisen möchten. Damit TikTok-Nutzerïnnen es sich nach eineinhalb Sekunden nicht doch anders überlegen und lieber wieder im Feed abtauchen wollen, bietet TikTok jetzt mit Instant Pages die Option, Infos direkt auf TikTok zu hosten, um von dort aus weiter zu den eigentlichen Websites der Unternehmen zu gelangen. Wahrscheinlich lädt dann im Hintergrund schon die eigentliche Ziel-Seite. So ist sie beim Click Through gleich da… Magic.
Metaverse / AR / VR
- Facebook meint es ernst mit dem Metaverse: In einem internen, virtuellen Meeting hat Mark Zuckerberg seinen Mitarbeiterïnnen verdeutlicht, wie ernst er es mit dem Metaverse meint. Um den Umbau des Unternehmens zu zementieren, gibt Zuck seinem Laden neue Werte (@alexeheath) an die Hand.
- Aus “move fast” wird “move fast together”
- „Be bold" ersetzt "build awesome things"
- “Be open” wird ersetzt durch “live in the future”
- “Focus on long term impact” kommt neu hinzu
- Und “Meta, metamates, me” ist ebenfalls neu (und ziemlich cringe?!?)
Außerdem hat Zuckerberg seine Kollegïnnen aufgefordert, man solle sich nicht "zu Tode schmusen”. Hihi. Wir haben nur eine ungefähre Vorstellung davon, wie die Unternehmenskultur bei Facebook so aussieht. Aber dass es nicht hochgradig kompetitiv zugeht, kann uns keiner erzählen. Zuck scheint das aber nicht zu reichen.
Creator Economy
- Snapchat teilt Werbeeinnahmen: Ja, Werbung innerhalb von Stories nervt mega. Bislang haben aber vor allem diejenigen, die die Stories erstellt haben, von den Werbeeinnahmen nicht einmal profitiert. Das soll sich bei Snapchat nun ändern. Das Unternehmen plant, ihre größten Creator, die sogenannten Snap Stars, an den Einnahmen zu beteiligen (Techcrunch).
Neue Features bei den Plattformen
- Stories kriegen Likes: Es hatte sich abgezeichnet, jetzt ist es soweit: Instagram führt bei Stories eine Like-Funktion ein (The Verge). Die Likes sind allerdings privat und es gibt auch keine Anzeige, wie viele Likes eine Story erhalten hat. Zudem wird die Inbox jetzt nicht mehr mit sinnlosen Hinweisen gecrashed, dass Steffie, Karl und Kevin deine Story geliked haben.
One more thing
- Newsletter-Empfehlung: Es gibt nur wenige Kollegïnnen, die uns so sehr beim Aufbau des Paid-Modells vom Social Media Watchblog geholfen haben wie Sebastian Esser (@sebastianesser). Nachdem er sechs Jahre beim Aufbau Steady mitgewirkt, verlässt er nun das operative Geschäft und macht sich auf zu neuen Ufern. Wo genau die Reise hingeht, ist noch unklar. Zunächst macht er sich jedenfalls daran, seine Learnings zum Thema Membership in Form eines kostenfreien Newsletters weiterzureichen. Hier geht es zu Essers Blaupause.
Header-Foto von Sebastian Unrau