Facebooks "Datenschatz" ist offenbar ein fürchterliches Chaos

Was ist

Motherboard-Reporter Lorenzo Franceschi-Bicchierai wurde ein Dokument zugespielt (Vice), das Facebook wohl lieber unter Verschluss gehalten hätte. Das 15-seitige PDF (Document Cloud) wirft mehrere Fragen auf: Hat Facebook die Kontrolle über die Daten verloren, die es von Milliarden Menschen sammelt? Kann es Daten unter diesen Voraussetzungen überhaupt legal verarbeiten? Und bedeutet dieses Datenchaos, dass auch Facebooks Versprechungen über die angeblich ach so effektive personalisierte Werbung übertrieben sind?

Was das Dokument aussagt

  • Entwicklerïnnen aus dem Team für Ad and Business haben die interne Analyse vergangenes Jahr erarbeitet. Bislang waren die Inhalte nicht öffentlich.
  • Die Autorïnnen wählen einen Vergleich, um Facebooks Datensammlung zu veranschaulichen:

We’ve built systems with open borders. The result of these open systems and open culture is well described with an analogy: Imagine you hold a bottle of ink in your hand. This bottle of ink is a mixture of all kinds of user data (…) You pour that ink into a lake of water … and it flows … everywhere. How do you put that ink back in the bottle? How do you organize it again, such that it only flows to the allowed places in the lake?

  • Uff, das klingt unschön. Und es ist auch ein echtes Problem für Facebook, wie die Entwicklerïnnen konstatieren:

We do not have an adequate level of control and explainability over how our systems use data, and thus we can’t confidently make controlled policy changes or external commitments such as ‘we will not use X data for Y purpose.’ And yet, this is exactly what regulators expect us to do, increasing our risk of mistakes and misrepresentation.

  • Anders ausgedrückt: Facebook hat angeblich wenig bis keine Ahnung, wie es Daten verarbeitet und wohin sie innerhalb von Facebooks Systemen fließen.
  • Facebook beschreibt mehrere Strategien, um wieder mehr Kontrolle über die Daten der Nutzerïnnen zu gewinnen. Unter anderem sollte Anfang 2022 in Europa ein neues Produkt namens "Basic Ads" fertig sein, das Facebook so beschreibt:

When launched, Facebook users will be able to "opt-out" from having almost all of their 3P and 1P data used by Ads systems – page likes, posts, friends list, etc.

  • Klingt vielversprechend. Leider ist bislang nichts davon zu sehen. Es wäre nicht das erste Mal, dass sich eine Datenschutzfunktion lange verzögert.

Warum das gefährlich für Facebook ist

  • Die Europäische Datenschutzgrundverordnung schreibt fest, dass Daten nur für "festgelegte, eindeutige und legitime Zwecke erhoben werden". Facebook und andere Unternehmen brauchen also eine Rechtsgrundlage, wenn es Daten nutzen will, und muss dafür erklären können, warum es welche Daten sammelt und was damit geschieht.
  • Ein Beispiel: Früher fragte Facebook die Telefonnummer für die Zwei-Faktor-Authentisierung ab, nutzte sie dann aber auch für die "People You May Know"-Funktion (Gizmodo), um neue Kontakte vorzuschlagen. Solche Praktiken sind illegal.
  • Glaubt man dem geleakten Dokument, verstößt Facebook weiter fortlaufend gegen die DSGVO. Motherboard drückt es so aus:

It shows Facebook may not even have the ability to limit how it handles users’ data. The document raises the question of whether Facebook is able to broadly comply with privacy regulations because of the sheer amount of data it collects and where it flows within the company.

  • Ein ehemaliger Facebook-Angestellter, der für den Artikel interviewt wurde, wählt noch etwas drastischere Worte:

Facebook has a general idea of how many bits of data are stored in its data centers. The where the data goes part is, broadly speaking, a complete shitshow.

This document admits what we long suspected: that there is a data free-for-all inside Facebook, and that the company has no control whatsoever over the data it holds. It is a black and white recognition of the absence of any data protection. Facebook details how it breaks each principle of data protection law. Everything it does to our data is illegal. You’re not allowed to have an internal data free-for-all.

Die Zweckbindung ist ein zentrales Prinzip in der DSGVO. Wenn ein Unternehmen nicht genau sagen kann, für welchen Zweck personenbezogene Daten am Ende genutzt werden, dürfen sie schlicht nicht verarbeitet werden.

Was Facebook sagt

  • Ein Sprecher weist die Vorwürfe zurück. Es sei falsch, aus dem Dokument zu schlussfolgern, dass Facebook die DSGVO oder andere Datenschutzgesetze verletze.
  • Das Dokument zeige die technischen Lösungen, an denen Facebook arbeite, um die rechtlichen Auflagen und Anforderungen zu erfüllen.
  • Die Analogie des Datensees aus dem ersten Zitat treffe nicht zu, da Facebook sehr wohl umfassende Prozesse und Kontrollen etabliert habe, um Daten zu verarbeiten.

Wie die Politik reagiert

  • Die Veröffentlichung des Dokuments hat viele Reaktionen von Politikerïnnen und Aufsichtsbehörden ausgelöst. Motherboard fasst die Statements in einem Follow-up zusammen.
  • Inhaltlich ähneln sich die Aussagen: Mehrere US-Senatorïnnen fordern Konsequenzen und schärfere Datenschutzgesetze. Kommt uns irgendwie bekannt vor. Warten wir mal ab, ob da irgendwas kommt.
  • Aus deutscher und europäischer Perspektive ist insbesondere die Reaktion von Alexandra Geese spannend, die für die Grünen im EU-Parlament sitzt und den Digital Services Act (DSA) mitverhandelt hat.
  • Facebook sei offensichtlich "strukturell unfähig", europäischem Recht zu entsprechen. Das sei ein Skandal. Mit Blick auf den DSA und den parallel verhandelten Digital Markets Act (DMA) sagt sie:

We are introducing strict rules to limit unfettered data use and profiling for advertising purposes – Facebook will certainly also have problems complying with the new EU DSA/DMA laws. It is therefore good that we will see much stronger enforcement here, independent control through access to platform data and juicier penalties than in data protection laws. The DSA will also give the EU Commission the power to take further action against a service in the event of repeated violations.

  • Der vollständige Text des DSA liegt leider immer noch nicht in einer öffentlichen Form vor. Ausführlichere Analysen sparen wir uns auf, bis wir den gesamten und endgültigen Gesetzestext lesen können.
  • Für den Moment verweisen wir an drei weiterführende Texte, die wir in den vergangenen Tagen gelesen haben:
  • Daphne Keller fasst für Center for Internet and Society der Stanford Law School die zentralen Bestandteile übersichtlich zusammen.
  • Julia Angwin, Chefredakteurin von The Markup, spricht mit Joris van Hoboken, der das Digital Service Act Observatory leitet, über die Frage, was das Gesetz verändern könnte.
  • Das Science Media Center hat sechs Expertïnnen aus der deutschen Wissenschaftslandschaft um ihre Einschätzungen zum DSA gebeten.

Be smart

Wenn wir ein Unternehmen wären, die regelmäßig Anzeigen bei Facebook buchen, würden wir uns jetzt ähnliche Fragen stellen, wie sie Michael Kalina aufwirft (mkln.org):

Könnte es denn gar sein, dass Facebooks Werbesystem mit all seinem Personalisierungsschnickschnak vielleicht nur heiße Luft ist? Dass sinkende Conversions gar nichts mit der Qualität der dort eingespeisten Werbung zu tun haben, sondern mit einem Matching-System, das, nun ja, ohne "adequate level of control" agiert?


Follow the money

Wir sind kein Finanz-Portal, sehr wohl interessieren wir uns aber für die Frage, ob die Tech-Unternehmen, über die wir hier in aller Ausführlichkeit seit zehn Jahren berichten, tendenziell wachsen oder Federn lassen müssen. Die Quartalszahlen liefern dafür stets gute Anhaltspunkte. Hier einige ausgewählte Zahlen:

  • Facebook konnte in Sachen täglich aktive Nutzerïnnen (DAU) wieder zulegen: um 4 Prozent im Jahresvergleich – auf nun 1,96 Milliarden Menschen (Facebook Earnings Report, PDF). Der asiatische Markt ist dabei hauptsächlich für das Wachstum verantwortlich. In den USA konnte Facebook in Sachen DAU leicht zulegen, in Europa hingegen sank die Zahl der täglichen aktiven Nutzerïnnen um 2 Millionen. Wenn es um die Frage geht, ob Menschen mindestens einmal im Monat (MAU) die App öffnen, zählt Facebook weltweit ein Wachstum von 3 Prozent. In Europa hingegen verbucht das Unternehmen einen Verlust von 9 Millionen. Die Verluste in Europa lassen aber noch keinen Trend erkennen – sie könnten auch mit der Sperrung von Facebook in Russland zusammenhängen. Facebook ist tot? Mitnichten.
  • Pinterest konnte sich zu Beginn der Pandemie hinsichtlich der Nutzerzahlen enorm steigern. Dieser Boom ist nun wieder vorbei. Das Unternehmen vermeldet (Pinterest Earnings Report, PDF) im Jahresvergleich einen deutlichen Rückgang der monatlich aktiven Nutzerïnnen von 9 Prozent.
  • LinkedIn scheint hingegen weiter an Attraktivität zuzulegen. Zwar hat Microsoft (LinkedIns Mutterkonzern) keine neuen Nutzerzahlen ausgegeben. Die Sessions, die Menschen auf LinkedIn verbringen, sei aber um 22 Prozent gewachsen (Microsoft Earnings Report).

Social Media & Journalismus

  • Die Macht der Plattformen: Der Direktor des Reuters Institute for the Study of Journalism, Rasmus Kleis Nielsen, hat ein Buch zum Verhältnis von Internet-Giganten und Journalismus veröffentlicht. Wir hatten noch keine Gelegenheit, das Buch zu lesen. Der Essay beim NiemanLab und Nielsens Twitter-Thread sehen aber vielversprechend aus. Gern möchten wir uns in den kommenden Tagen ausführlicher mit dem Thema beschäftigen.

Video / Audio

  • Facebook macht Schluss mit Podcasts (und Social Audio): Holla, die Waldfee, das ging schnell! Nach nicht einmal einem Jahr beerdigt Facebook seine Podcast-Pläne wieder (Bloomberg). Ab dem 3. Juni wird es überhaupt gar keine Podcasts mehr bei Facebook geben, schon ab dieser Woche können keine neuen Episoden mehr hochgeladen werden. Zudem macht Facebook auch das innovative Audio-Feature Soundbites (#717) dicht und überführt den Clubhouse-Herausforderer Live Audio Rooms in das reguläre Facebook-Live-Angebot.
  • Als Facebook die neue Audio-Funktionen ankündigte, schrieben wir

„Facebook macht Ernst in Sachen Audio“.

  • Wir schrieben allerdings auch:

Wer aktuell an der eigenen Audio-Strategie feilt, sollte sich unserer Meinung nach nicht all zu sehr auf eine Plattform festlegen, sondern weiterhin vor allem im Blick behalten, wo die Zielgruppe unterwegs ist. Denn Audio ist bald überall.

  • Facebooks Track-Record in Sachen „Wir sind keine verlässlichen Partner für Anbieter von professionellen Inhalten“ ist damit wieder um eine Episode reicher: Nach „Pivot to Video“, Facebooks Umstellung des News Feeds, um Inhalte von Freunden und Bekannten zu priorisieren, und dem Umbau von Instagram von einer Foto- zu einer Video-Plattform (Jetzt macht endlich alle Reels!!!!) ist das nun der nächste Streich. Wir hoffen sehr, dass nicht all zu viele Kollegïnnen von den Änderungen betroffen sind.
  • Werbung bei YouTube Shorts: Nach der Ankündigung von Snap, bei Spotlight Werbung unterbringen zu wollen, und den ersten Tests von Instagram, bei Reels Anzeigen zu schalten (#791), kommt nun auch YouTube aus der Deckung und erklärt, Ads bei YouTube Shorts zu testen (Alphabet Earnings Report).

AR / VR / Metaverse

  • Snaps Selfie-Drohne: 230 Dollar für ein Selfie? Well, kein Problem. Snap hat eine neue Drohne im Angebot (Pixy), die gerade einmal so groß wie eine Hand ist, von selbst startet, fliegt und landet, und dabei auch noch schicke Fotos für Snapchat knipsen kann. Wir sind bislang not convinced, staunen aber über Snaps Ehrgeiz, die Grenzen in Sachen Foto- und Consumer-Tech immer wieder etwas zu verschieben.
  • Metas Headset-Pläne: Meta möchte gern ebenfalls Grenzen verschieben und plant daher, in den kommenden zwei Jahren vier unterschiedliche VR-Headsets auf den Markt zu bringen (The Information). Irgendwie müssen diese Dinger doch Salon-fähig und das Metaverse Realität werden.

Aus der Praxis

  • 10 Hacks für Instagram-Teaser: Im Newsletter von Anne-Kathrin Gerstlauer (Twitter) gibt es immer wieder interessante Tipps und Tricks, um auf Social einen besseren Job zu machen. Gemeinsam mit Andreas Rickmann (Twitter) hat sie in der aktuellen Ausgabe 10 Hacks für Instagram-Teaser sowie 5 Reichweiten-Hacks aufgeschrieben. Wir zitieren zwei Tipps, freuen uns aber vor allem, wenn ihr euch zu TextHacks rüberklickt.
  • Jeder redet von Reels. Kann ich auf Instagram nur noch mit Videos Reichweite erzielen? Nein. Im ersten Quartal 2022 konnten auch Fotos und Feed-Posts mehr Menschen erreichen, als ein Account Follower hat.
  • Sollte ich mich also eher auf Fotos, statt auf Videos konzentrieren, um Reichweite zu erzielen? Tipp: Frag deine Community, welche Formate sie lieber mag (z.B. über deine Story). Eine ältere Community sieht in der Regel lieber Bilder an, eine jüngere Community eher Reels.

Neue Features bei den Plattformen

Instagram

  • 90-sekündige Reels: Was habe ich (Martin) mich neulich geärgert, als ich bei Instagram mein zweites Reel hochladen wollte. Ja, klar, natürlich hätte ich es besser wissen müssen. Aber dass diese doofe App mein Video nach 60 Sekunden radikal abschneidet, war dann doch mit einigermaßen viel Frust verbunden. Nun denn, das kann mir künftig womöglich nicht mehr passieren. Einige ausgewählte Nutzerïnnen können bereits testweise 90-sekündige Reels hochladen (@jonah manzano). Wahrscheinlich schaffe ich es dann aber, ein 93-sekündiges Reel aufzunehmen…
  • Instagram Communities: Es sieht ganz danach aus, als könnten Instagram Communities schon bald mehr als nur ein Gerücht sein. Auf Twitter kursieren bereits die ersten Bilder (@alex193a), wie das neue Gruppen-Feature aussehen könnten. Auch wird deutlich, dass Insta-Communities offen oder geschlossen sein könnten.

Twitter

WhatsApp

YouTube

  • Super Thanks: Vor gut einem Jahr hatte YouTube die Funktion Super Thanks initial ausgerollt. Die Idee: Zuschauer bezahlen freiwillig für Inhalte und erhalten im Gegenzug dafür ein bissl Extra-Aufmerksamkeit der Creator. Das Feature kann nun in weiteren 68 Ländern (YouTube Blog) genutzt werden – auch in Deutschland, Österreich und Schweiz.

Telegram

  • Premium Subscription: Telegram arbeitet an einer Abo-Funktion. Wie The Verge berichtet, werkelt das Unternehmen an einer Premium-Variante, bei der Nutzerïnnen u.a. mehr Sticker und andere Emojis nutzen können. Sicherlich erst einmal nur ein Testlauf. Aber definitiv spannend zu sehen, wie alle derzeit versuchen, in der Abo-Wirtschaft Fuß zu fassen. (Hint: brand eins widmet dem Thema die aktuelle Ausgabe.)

One more thing

  • 103 Anregungen: Kevin Kelly hat uns mit seiner Idee, dass 1000 echte Fans ausreichen, um im Internet erfolgreich zu sein, maßgeblich dazu ermutigt, das Social Media Watchblog zu starten. Zu seinem 70. Geburtstag hat Kelly 103 Anregungen veröffentlicht, von denen er sich gewünscht hätte, dass er sie schon sein ganzes Leben lang berücksichtigt hätte. Wie es immer so ist mit solchen Listen: einiges ist ziemlich trivial. Da die Liste aber nun einmal von Kevin Kelly kommt, lohnt sich ein Blick allemal.
  • About 99% of the time, the right time is right now.
  • No one is as impressed with your possessions as you are.
  • Dont ever work for someone you dont want to become.
  • Cultivate 12 people who love you, because they are worth more than 12 million people who like you.
  • Dont keep making the same mistakes; try to make new mistakes.

Header-Foto von Philip Myrtorp