Facebook und Instagram: Der Anfang vom Ende der Likes?

Was ist

Seit vergangener Woche kann man auf Facebook und Instagram die Likes ausblenden (Instagram-Blog). Die Funktion wurde mehr als zwei Jahre lang in mehreren Ländern und mit unterschiedlichen Nutzerïnnengruppen getestet. Jetzt gibt es die Option für alle – allerdings mit Einschränkungen.

Warum das wichtig ist

Likes sind eine der einflussreichsten Währungen des World Wide Web. Sie verleihen Beiträgen und Fotos einen Wert, quantifizieren ihre Bedeutung, dienen als Gradmesser für Erfolg – zumindest in den Augen vieler Menschen.

Doch es gibt auch eine Schattenseite: Likes messen nicht nur scheinbare Relevanz, sondern auch das Gegenteil. Eine 14-Jährige schießt 47 Selfies, bis sie endlich zufrieden ist, bearbeitet das Bild, postet es in freudiger Erwartung auf Insta … und erhält vier traurige Likes. Die Quantifizierbarkeit sozialer Resonanz kann auch fürchterlichen Druck auslösen und nicht nur Teenager verzweifeln lassen.

Wie Instagram mit Likes umgeht

Im April 2019 kündigte Instagram an (The Verge), dass es für Nutzerïnnen in Kanada die öffentliche Anzahl der Likes ausblenden werde. Statt einer Zahl sieht man nur noch: „Gefällt Simon und weiteren Personen“. Der Test wurde sukzessive auf andere Länder ausgeweitet und durch Forschung begleitet. Instagram wollte herausfinden, wie Nutzerïnnen darauf reagieren und ob es den sozialen Druck mindert, keine Likes mehr zu sehen (dazu später mehr).

In seiner Ankündigung schreibt Instagram: „(…) that everyone on Instagram and Facebook will now have the option to hide their public like counts“. Im Facebook-Newsroom heißt es dann aber: „In the next few weeks you will see both of these controls come to Facebook.“ Dort dauert es also noch ein wenig.

Am 26. Mai schaltete Instagram die Option global und für alle Menschen frei. Es gibt aber vier Gründe, warum der Schritt weniger drastisch ist, als es zunächst klingen mag.

1. Standardmäßig bleibt alles beim Alten

  • Likes werden weiter standardmäßig eingeblendet. Wer das ändern will, muss einen recht langen Weg nehmen: Einstellungen > Privatsphäre > Beiträge > „Hide Like and View Count“ (die Option wurde offenbar noch nicht übersetzt). Auf dem Desktop fehlt die Möglichkeit bislang komplett, die Einstellung aus der App hat dort auch keine Auswirkung.
  • Standardeinstellungen haben große Macht: Nur wenige Menschen klicken sich durch die Menüs und ändern die Vorgaben.
  • Facebook und Instagram wissen das genau, schließlich werden per default so viele Daten wie möglich gesammelt, Werbe-IDs erstellt und Anzeigen personalisiert. Das lässt sich zwar abstellen, aber dafür muss man selbst aktiv werden. Wäre es andersherum, fehlten in der Quartalsbilanz wohl ein paar Nullen.
  • Deshalb dürfte der Großteil der Nutzerïnnen wohl nach wie vor die Anzahl der Likes zu Gesicht bekommen, ob sie es nun wollen oder nicht. Sie werden schlicht nicht wissen, dass es auch anders geht.
  • Instagrams Blogpost enthält einen Screenshot, der einen Hinweis auf die neue Option zeigt, der offenbar über dem Feed erscheinen soll. Wir haben in unseren Instagram-Apps aber noch nichts dergleichen gesehen, auch nicht mit englischer Sprachversion.

2. Eigene Posts werden anders behandelt

  • Selbst wenn man die Like-Zahl ausblendet, wirkt sich das nur auf die Posts von anderen aus. Bei eigenen Beiträgen ist die Anzahl für einen selbst weiter sichtbar.
  • Wer das ändern will, muss jedes bislang gepostete Fotos separat auswählen und dort in den Optionen die „Anzahl der ‚Gefällt mir‘-Angaben verbergen“. Dann sieht man nur noch einen Namen und den nicht quantifizierten Zusatz „und weiteren Personen“.
  • Ein Klick darauf offenbart dann alle Namen – und auch die Anzahl der gesamten Likes. Da man die Option aber ohnehin für jeden zurückliegenden Beitrag einzeln aktivieren muss, hat man zu dem Zeitpunkt den Like-Count wohl ohnehin schon wahrgenommen.
  • Zumindest bei neuen Posts gibt es in den erweiterten Einstellungen die Möglichkeit, Likes dort von Anfang an zu verbergen. Das lässt sich später auch wieder rückgängig machen.
  • Für andere Nutzerïnnen verschwindet die Anzahl dann dauerhaft und unabhängig davon, ob diese Likes anzeigen lassen oder ausgeblendet haben.

3. Der Algorithmus reagiert weiter auf Likes

  • Ob eingeblendet oder verborgen bleiben Likes eines der wichtigsten Relevanzsignale.
  • Facebooks und Instagrams Algorithmen werden von einer Vielzahl von Faktoren bestimmt, die Anzahl der Likes ist einer der wichtigsten. Ob ein Beitrag Reichweite erhält, hängt nach wie vor davon ab, wie viele Menschen damit interagieren.
  • Auch ohne Like-Count merkt man, ob ein Foto „erfolgreich“ ist. Die Zahl der Kommentare und Shares bleibt öffentlich, die Resonanz lässt sich sehen und messen.
  • Zugegeben: Eine tiefgreifende Änderung der Algorithmen stand nie zur Debatte und ist auch kaum vorstellbar. Facebook müsste sich dafür grundlegend neu erfinden.

4. Metriken bleiben omnipräsent

  • Die Anzahl der Likes ist nur eine von Dutzenden Zahlen, mit denen Facebook und Instagram Reichweite und digitalen sozialen Status quantifizieren.
  • Followerïnnen, Story-Views, Kommentare, Shares und alle Metriken in den Insights bleiben sichtbar.
  • Das ist wenig überraschend: Man kann sich den Aufschrei von Influencerïnnen und Unternehmen vorstellen, deren Einkommen auf diesen Zahlen beruht.
  • Sie brauchen Metriken wie „Reach“, „Interactions“, „Watch Time“ und „Conversion Rates“ um KPIs zu definieren und „Erfolg“ zu messen. Social Media ist keine Wohlfühloase, sondern ein Milliarden-Business.

Warum Instagram an Likes festhält

  • Der Blogpost enthält genau zwei Sätze zur Motivation. Der erste beschreibt den Grund für den Test: „We tested hiding like counts to see if it might depressurize people’s experience on Instagram.“
  • Der zweite erklärt die unentschlossene Umsetzung: „What we heard from people and experts was that not seeing like counts was beneficial for some, and annoying to others, particularly because people use like counts to get a sense for what’s trending or popular, so we’re giving you the choice.“
  • Kurzum: Manche mögen Likes, andere nicht. Leider geht der Blogeintrag nicht weiter ins Detail.
  • In einem Briefing mit Reporterïnnen sagte Instagram-Chef Adam Mosseri, dass die Auswirkungen insgesamt weniger eindeutig ausgefallen seien, als sich Instagram erwartet hattet. Die Tests hätten vielmehr stark polarisiert.
  • Statt Likes pauschal für alle auszublenden, werde man sich darauf fokussieren, Nutzerïnnen „mehr Kontrolle“ zu geben, damit sie Facebook und Instagram für ihre eigenen Bedürfnisse anpassen könnten.

Wie Instagram früher klang

  • Mosseris heutige Aussagen stehen in starkem Kontrast zu 2019. Damals sagte er (Wired): „The idea is to try and depressurize Instagram, make it less of a competition, give people more space to focus on connecting with the people that they love, things that inspire them.“
  • Die Aussage bezog sich zwar nicht ausschließlich auf Likes, sondern generell auf die Auswirkung von sozialen Medien auf junge Menschen. Doch Mosseri erwähnte die Likes mehrfach und sagte, dass sie negative Effekte haben und eine Kultur erzeugen könnten, die „dem Wohlergehen und der kreativen Kultur nicht zuträglich“ sei.
  • In fast allen Interview zu diesem Thema betonte er, wie sehr ihm dieses Thema am Herzen liege. Er habe eine Menge seiner eigenen Zeit darin investiert.
  • Um seine jüngeren Nutzerïnnen zu schützen, werde Instagram Entscheidungen treffen, die sich wirtschaftlich kurzfristig negativ auswirkten. Denn was gut für die psychische Gesundheit der Menschen sei, sei langfristig auch gut fürs Geschäft.

Was Studien über Likes sagen

Warum wir uns kein Urteil zutrauen

  • Wenn sich schon Wissenschaftlerïnnen derart uneins sind, wollen wir uns nicht anmaßen zu sagen, wie es wirklich ist.
  • Unsere anekdotischen Evidenz aus Besuchen bei Schulklassen oder Gesprächen mit Jugendlichen zeigt, dass Instagram (und mittlerweile TikTok) eine enorme Rolle spielen und sich Teenager viele Gedanken darüber machen, wie sie sich dort präsentieren.
  • Welche Rolle dabei die Anzahl der Likes spielt und ob es ohne Smartphones und Social Media nicht sofort ganz andere Statussymbole gäbe, wissen wir nicht.
  • Deshalb müssen wir vorerst Instagram und Mosseri vertrauen, der versichert hat (WSJ), dass Instagram bereit gewesen wäre, Likes standardmäßig auszublenden, wenn es Nutzerïnnen einen Teil des Drucks genommen hätte – unabhängig von den finanziellen Auswirkungen für Instagram. Nur sei keine eindeutig positive Auswirkung messbar gewesen.
  • Wir könnten uns vorstellen, dass es sehr wohl etwas änderte, sämtliche öffentlichen Metriken auszublenden. Dieser Schritt geht Instagram aber wohl zu weit. (Und dürfte zugegebenermaßen auch vielen Nutzerïnnen gar nicht gefallen.)
  • „Giving people more control“ klingt zwar verdächtig nach der Leier, die Facebook auch immer anstimmt, wenn es um Datenschutzeinstellungen geht – wohl wissen, dass kaum jemand die Standardeinstellungen antastet. Aber vielleicht ist es tatsächlich ein sinnvoller erster Schritt, zumindest die Option anzubieten, Likes auszublenden.

Be smart

Zwei Menschen, die den Like-Button mit erfunden haben, halten sich heute so weit wie möglich davon fern. Der ehemalige Facebook-Entwickler Justin Rosenstein nennt das sehnsüchtige Warten auf Facebook-Likes ein „Pseudo-Vergnügen“, ebenso oberflächlich wie verführerisch. „Es kommt oft vor, dass Menschen mit den besten Absichten Dinge erfinden, die später negative Auswirkungen haben“, sagte er dem Guardian 2017.

Seine frühere Kollegin Leah Perlman, ebenfalls an der Entwicklung des Like-Buttons beteiligt, nutzte später eine Browser-Erweiterung, die den Facebook-Newsfeed blockiert. Die Illustratorin beschäftigte eine Social-Media-Managerin, um ihre Comics auf Facebook zu bewerben. Sie selbst will ihren Feed nicht mehr anschauen (The Ringer).

Wir haben in unseren Briefings mehrfach die Projekte von Ben Grosser erwähnt. Der Künstler und Entwickler hat unter anderem „Demetricator“ für Facebook, Twitter und Instagram programmiert. Die Browser-Erweiterungen blenden Zahlen aus, Retweets, Benachrichtigungen, Followerïnnen, einfach alles.

Aus eigener Erfahrung können wir sagen: Der Effekt ist enorm. Anfangs sucht man unwillkürlich nach der Anzahl der Retweets oder Likes, um die scheinbare Relevanz eines Beitrags auf einen Blick zu erfassen. Allmählich beginnt man, sich weniger auf Zahlen und mehr auf Inhalte zu konzentrieren. Leider funktionieren die Erweiterungen nur im Browser, auf die Apps haben sie keine Auswirkungen. Aber es reicht, um sich vorzustellen, wie soziale Medien ohne Zahlendruck aussehen könnten.


Neue Features bei den Plattformen

WhatsApp

  • Kommando zurück! WhatsApp-Nutzerïnnen, die sich mit den neuen Bestimmungen nicht einverstanden zeigen, müssen nun doch keine Konsequenzen (The Next Web) fürchten, erklärt das Unternehmen. Hui – das ist nun mittlerweile die drölfzigste Wendung in dieser Sache. In Briefing #722 erklären wir die Hintergründe. WhatsApp lässt verlauten:

Given recent discussions with various authorities and privacy experts, we want to make clear that we currently have no plans to limit the functionality of how WhatsApp works for those who have not yet accepted the update. Instead, we will continue to remind users from time to time about the update as well as when people choose to use relevant optional features, like communicating with a business that is receiving support from Facebook

Twitter

  • Und jetzt zum Wetter Twitter startet in den USA einen lokalen Wetterdienst (Axios) und bietet eine Mischung aus kostenlosen und kostenpflichtigen Inhalten. Der Service ist zugleich auch Showcase für Twitters neue Suite an Creator Tools: u.a. kommen Newsletter und kostenpflichtige Spaces zum Einsatz.

Facebook

  • Mehr Monetarisierungsoptionen bei Facebook Gaming: Stars, Facebooks eigene Pseudo-Währung (nicht zu verwechseln mit Facebooks Crypto-Währungs-Überlegungen), können jetzt testweise auch bei Videos on-demand verteilt werden. Bislang ging das nur bei Live-Content. Speaking of Live: Gamer können jetzt während des Live-Zockens Werbung einblenden, etwa um einmal kurz Pause zu machen. Hier geht es zu Facebooks Ankündigungen.

YouTube

  • Mehr Monetarisierungsoptionen bei YouTube: Die Forschungs- und Entwicklungsabteilung von Google, Area 120, testet den Verkauf digitaler Waren (Protocol). Der Test ist nicht in die YouTube-Website oder die YouTube-App integriert, sondern wird über eine separate Plattform namens Qaya abgewickelt. Über Qaya lassen sich PDFs, mp3s und Videos verkaufen – so könnten YouTuber beispielsweise weiteres „Material“ zu einem bestimmten Thema verkaufen.

TikTok

  • Livestreams planen: Auch bei TikTok lassen sich Livestreams künftig wohl besser planen und bewerben (Digital Information World).

Header-Foto von Phát Trương bei Unsplash