Europa nimmt die Regulierung in die eigenen Hände
Was ist
Vergangene Woche hat das Europaparlament seine Position zum Digital Services Act (DSA) beschlossen. Das Gesetz soll die Grundrechte und das Mitspracherecht der Nutzerïnnen im Netz stärken, Online-Plattformen transparenter machen und strengere Regeln für den Umgang mit illegalen Inhalten festschreiben.
Warum das wichtig ist
Das Gesetzespaket aus DSA und Digital Markets Act (DMA), der fairen Wettbewerb zwischen Konzernen und Start-ups garantieren soll, könnte das wichtigste Regulierungsvorhaben der jüngeren Internetgeschichte werden. Es wird die Machtverhältnisse im Netz nicht auf den Kopf stellen, dürfte aber größere Auswirkungen haben als etwa DSGVO und EU-Urheberrechtsreform.
Damit entwickelt sich Europa zunehmend zur treibenden Kraft der digitalen Regulierung. In den USA gibt es zwar mehrere Gesetzesentwürfe (Axios), die Teilaspekte des DSA abdecken und ähnliche Maßnahmen vorsehen. Doch angesichts der teils diametral entgegengesetzten Positionen von Demokraten und Republikanern ist es unklar, ob und wann diese Vorhaben umgesetzt werden – und was dann noch davon übrig ist.
Warum Vorsicht geboten ist
Bislang gibt es keine finale Verfassung, sondern unterschiedliche Entwürfe des EU-Parlaments, der Kommission und des Rats. Noch kurz vor der Abstimmung des Parlaments wurden wichtige Passagen geändert, etwa bei der Online-Werbung und den Regeln für Porno-Portale.
So wird es auch weitergehen: Branchenverbände, Unternehmen und Lobby-Organisationen werden versuchen, Einfluss auf die Gesetzgebung zu nehmen. Seit die EU-Kommission Ende 2020 ihren Entwurf vorstellte, gab es mehr als 600 Treffen mit Lobbyistïnnen, zuvorderst Google (23), Meta (16), Amazon (15) und Microsoft (12). Vergangene Woche warnte Lobby-Control, der DSA drohe verwässert zu werden:
Mehr als 97 Mio. Euro gibt die Digitallobby nach offiziellen Angaben in Europa für Lobbyarbeit aus. Hinzu kommen Millionen für Imagewerbung von Google und Facebook in Zeitungen und Online aus. Offenbar mit Wirkung: Eine ursprünglich diskutierte stärkere Regulierung von personalisierter Werbung wurde deutlich aufgeweicht, wie die aktuellen Vorschläge der EU-Kommission und des Europäischen Parlaments zeigen.
Besonders deutlich wird die Einflussnahme beim erwähnten, ursprünglich geplanten Verbot verhaltensbasierter Werbung. Ingo Dachwitz beschreibt (Netzpolitik), mit welchen Methoden die betroffenen Verbände und Konzerne dagegen Stimmung machten – natürlich mit verhaltensbasierter Werbung:
Um ein generelles Verbot abzuwehren, setzte die Datenindustrie nicht nur auf zahlreiche Lobbytreffen mit Abgeordneten, sondern auch auf Öffentlichkeitsarbeit. Corporate Europe Observatory berichtet unter anderem von einer millionenschweren Print-Anzeigen-Kampagne von Facebook und Microtargeting-Werbung in Sozialen Medien. Unter anderem haben dem Report zufolge die Branchenverbände IAB und CCIA sowie Amazon auf Twitter gezielt Menschen mit Werbung zu dem Thema bespielt, die ein ähnliches Profil haben wie einflussreiche Journalist:innen des Politik-Mediums Politico.
Wir wissen also nicht, welche der aktuell diskutierten Vorschläge sich später im Gesetz finden werden. Unsere Erfahrungen mit DSGVO und insbesondere der Urheberrechtsreform zeigen, dass sich auf den letzten Metern noch jede Menge ändern kann.
Deshalb beschäftigen wir uns nicht mit den Details der Entwürfe, weil wir davon ausgehen, dass ein Teil davon eh bald wieder obsolet sein wird. Das heben wir uns für einen späteren Zeitpunkt auf und geben nur einen groben Überblick der Politikfelder, die der DSA neu gestalten will.
Was der DSA regelt
- Große Online-Plattformen wie Facebook, Instagram, YouTube und TikTok sollen verpflichtet werden, illegale Inhalte zu entfernen – allerdings erst, nachdem sie gemeldet werden. Das Provider-Privileg wird also (zum Glück) nicht angetastet, die Haftung beginnt nicht nach dem Upload, sondern nach dem Hinweis.
- Bislang wurde noch keine Frist dafür gesetzt. Eine zu kurze Reaktionszeit könnte zum Einsatz von Upload-Filtern führen, die nach den Erfahrungen mit der Urheberrechtsreform verhindert werden sollen.
- Bei der Online-Werbung ist derzeit noch viel im Fluss. Grüne und Linke fordern drastische Einschränkungen oder ein Verbot von Tracking und Profilbildung, Werbewirtschaft, Tech-Konzerne und auch viele Medien stemmen sich mit aller Kraft dagegen. Verbände warnen etwa, dass Online-Angebot deutlich teurer werden könnten (Meedia).
- Der aktuelle Entwurf des Parlaments verbietet personalisiertes Targeting bei Minderjährigen, erlaubt verhaltensbasierte Werbung aber grundsätzlich. Nur bestimmte Kategorien wie sexuelle Orientierung und politische Einstellung werden ausgeschlossen.
- Die Verleger-Lobby drängte lange Zeit auf eine Sonderregelung für journalistische Inhalte. Plattformen hätten solche Inhalte dann nur noch löschen dürfen, wenn diese eindeutig gegen Gesetze verstoßen. Was auf dem Papier gut klingt, birgt die Gefahr, zweifelhaften "Medien" eine Art Freifahrtsschein auszustellen (mehr dazu in #756).
- "Volltreffer, Pressefreiheit versenkt", titelt nun etwa die FAZ und beklagt, dass für Medien keine Ausnahmen gelten. Wir schließen uns den Faktencheckerinnen und Desinformations-Forschern an, die mit einem offenen Brief davor gewarnt hatten, und sagen: gut so!
- Der DSA sieht ein Verbot sogenannter Dark Patterns vor, also Manipulation durch Design. Dazu zählen etwa irreführende Opt-in-Dialoge und Cookie-Banner, die unaufmerksame oder ungeduldige Nutzerïnnen dazu verleiten, Dingen zuzustimmen, die sie gar nicht wollen. Solche Schaltflächen müssen verständlich und fair gestaltet werden, die Entscheidung soll gespeichert und dauerhaft respektiert werden.
- Plattformen sollen transparenter werden, sowohl für die Wissenschaft als auch für die Öffentlichkeit. Forscherïnnen und NGOs können etwa Empfehlungslogiken und Daten einsehen und auswerten. Zudem müssen die Konzerne jährliche Risikobewertungen vorlegen und unabhängig überprüfen lassen.
- Nutzerïnnen sollen erfahren, warum ihnen bestimmte Inhalte angezeigt werden, und Einfluss auf die Algorithmen nehmen können. Plattformen müssen auch eine chronologische Version des Feeds anbieten.
- Generell wird die Position der Nutzerïnnen gegenüber den Plattformbetreibern gestärkt. Unter anderem sind einheitliche Meldeprozesse, Beschwerde-Möglichkeiten und externe Streitschlichtungs-Verfahren vorgesehen. Damit sollen Betroffenen sich etwa gegen willkürliche Löschungen und Sperrungen wehren können.
Wie es weitergeht
Nachdem EU-Kommission, Rat und Parlament ihre Position festgelegt haben, beginnen nun die Trilog-Verhandlungen. Noch bis Ende Juni hat Frankreich den Ratsvorsitz inne und möchte DSA und DMA bis dahin beschließen. Das gilt aber als ambitioniert, womöglich dauert es länger.
Falls das Gesetzespaket tatsächlich bis zum Sommer steht, tritt es trotzdem nicht sofort in Kraft. Zwar handelt es sich um Verordnungen, die im Gegensatz zu Richtlinien nicht erst von den Parlamenten der Mitgliedsstaaten in nationales Recht überführt werden müssen. Da DSA und DMA weitreichende Folgen hätten, könnte die EU den betroffenen Unternehmen aber bis zu 18 Monate Zeit geben, um die Vorgaben umzusetzen.
Be smart
Über Weihnachten haben viele Menschen ihren Eltern, Großeltern oder anderen Verwandten Smartphones eingerichtet und Online-Konten angelegt. Das ist eine interessante Erfahrung, weil man sieht, wie Nutzerïnnen mit Technik umgehen, die weniger Zeit damit verbringen und weniger davon verstehen – und weil man eine Idee bekommt, wie Regulierung wirklich helfen könnte: Was wäre, wenn standardmäßig keine oder nur die minimal nötige Menge an Daten gesammelt werden dürften?
Soziale Netzwerke, Suchmaschinenbetreiber und App-Entwicklerïnnen müssten Menschen erst erklären, warum es womöglich in ihrem Interesse liegt, bestimmte Daten preiszugeben, statt einfach alle Datenschleusen von der ersten Sekunde an zu öffnen. Tatsächlich kann es dafür gute Gründe geben, aber die aktuelle Standardeinstellung kann nicht im Sinne der Nutzerïnnen sein.
Follow the money
- Mehr Werbebudget landet bei TikTok: The Information berichtet, dass Agenturen dieses Jahr einen wesentlich größeren Anteil ihrer Werbebudgets für Anzeigen bei TikTok nutzen wollen. Zwei Gründe lassen sich dafür ausmachen: Erstens ist TikToks Popularität ungebremst. Zweitens sorgen Apples Tracking-Einschränkungen dafür, dass die auf Personalisierung ausgerichteten Anzeigen-Optionen von Apps wie Meta und Snapchat weniger attraktiv sind.
- ByteDance Umsätze wachsen um 70 Prozent: TikToks Mutterhaus ByteDance wird sich darüber freuen, dass bei TikTok künftig größere Budgets platziert werden sollen. Zwar sind die Umsätze 2021 um satte 70 Prozent gewachsen. Das Wachstum war aber trotzdem etwas langsamer als im Vergleich zum Vorjahreszeitraum – dort betrug die Steigerung noch 100 Prozent.
- Creator klagen über maue Einnahmen bei TikTok: Mit Blick auf das Wachstum bei ByteDance, respektive TikTok, wird es höchste Zeit, dass Creator auch etwas davon abbekommen. Bislang sehen die Einnahmen nämlich im Vergleich zu anderen Plattformen (The Information) ziemlich mau aus. Ein Beispiel: Der maximal erfolgreiche MrBeast hat bei YouTube unglaubliche 54 Millionen Dollar generiert und zählt damit zu den absoluten Top-Verdienern auf der Plattform. Bei TikTok hingegen hat MrBeast trotz Millionen Followern gerade einmal 15000 Dollar umgesetzt. Andere Creator berichten von ähnlich ernüchternden Ergebnissen – etwa Hank Green (YouTube). Der Hauptgrund für die mageren Umsätze: Anders als etwa bei YouTube werden TikTok-Creator nicht an den Werbeeinnahmen beteiligt, die im Umfeld ihrer Videos platziert werden. TikTok-Creator erhalten (neben eigenen Brand Deals und Zuwendungen von Fans) nur Geld über den Creator Fund (Newsroom TikTok). Dieser aber scheint sich trotz der Ankündigung, dreistellige Millionenbeträge an Creator ausschütten zu wollen, bislang nicht wirklich bemerkbar zu machen.
- Social Commerce boomt: Laut einer Studie der Unternehmensberatung Accenture werden die Umsätze, die direkt über Social-Media-Plattform generiert werden, dreimal so schnell wachsen wie im traditionellen E-Commerce-Sektor – und zwar auf ein Gesamtvolumen von bis zu 1,2 Billionen US-Dollar im Jahr 2025. Das Wachstum wird dabei vor allem von der Generation Z und der Millennials vorangetrieben, auf die bis 2025 62 Prozent der weltweiten Social-Commerce-Ausgaben entfallen werden. Laut Accenture gehören Kleidung, Unterhaltungselektronik und Wohnkultur zu den beliebtesten Produkten, die über soziale Netzwerke verkauft werden. Aber auch der Bereich Schönheit und Körperpflege würden enormes Wachstumspotential aufweisen. Interessanterweise sieht die Unternehmensberatung in ihrem Bericht gar nicht einmal die großen Marken so sehr im Vorteil – vor allem kleinere und mittelständische Unternehmen hätten Grund zur Annahme, ihre Abverkäufe über Social-Commerce kräftig steigern zu können. Spannend!
Tipps und Tricks
- 3 Hacks für LinkedIn: Kollegin Anne-Kathrin Gerstlauer präsentiert in ihrem Substack-Newsletter 3 Hacks für LinkedIn, die letztlich für jede Plattform funktionieren sollen. Sogar für Datingprofile. Als Tipp-Geberin fungiert Sara Weber. Wenn jemand wissen muss, wie sich LinkedIn sinnvoll für den Aufbau der eigenen Marke nutzen lässt, dann sicherlich die ehemalige LinkedIn-Redaktionsleiterin.
Neue Features bei den Plattformen
- Alles ist ein Remix: Instagram hat ankündigt, dass fortan alle öffentlichen Videos zum Remixen freigegeben sind (Techcrunch) – egal ob Reel oder längeres Video. TikTok zeigt mit seiner Duett- und Switch-Funktion schon lange, wie viel Kreativität diese Form der Remix-Kultur zutage fördern kann.
TikTok
- Avatare, For-You-Filter, Gruppenchats, Audio-Live-Streaming, Screen-Sharing und Subscription-Only-Features: TechCrunch berichtet über eine ganze Reihe von Feature-Tests bei TikTok. Noch ist nicht ganz klar, ob und wann diese Features ausgerollt werden. Die Tests zeigen aber, dass TikTok nicht immer nur Vorreiter sein muss, sondern sehr wohl auch In der Lage ist, Features von anderen Plattformen zu shangaien.
- TikTok Top-Songs: Wer sich einen Überblick darüber verschaffen möchte, welche Themen bei TikTok gerade trennen, kann dies bekanntlich seit einigen Monaten in dem eigens dafür eingerichteten Creative Center tun. Nun legt TikTok nach und präsentiert dort auch die aktuellen Top-Songs – auch nach Regionen sortiert. Wer sichergehen möchte, den richtigen Track für das neue TikTok zu nutzen…
- Flock: Twitter bastelt an einem Feature, das es ermöglicht, Tweets nur einer (geheimen) ausgewählten Gruppe an Followern zugänglich zu machen (The Verge).
YouTube
- Loop Video Chapters Feature: Videos lassen sich bei YouTube ja schon lange im Loop anschauen. Künftig könnte es allerdings auch möglich sein, bestimmte Abschnitte eines Videos in Endlosschleife zu betrachten. Youtube bastelt derzeit an einer entsprechenden Funktion.
Snapchat
- Umfrage-Sticker, individuelle Replies in Gruppenchats, Bitmoji-Reactions und bessere Live-Chat-Optionen – das ist die Bandbreite an Neuerungen bei Snapchat, über die WERSM berichtet.
- Video-Trimmer: Videos boomen – das hat auch LinkedIn erkannt. Komisch allerdings, dass so rudimentäre Features wie eine Trim-Funktion erst jetzt in den Editor integriert werden.
One more thing
Netzkulturcharts: Zu guter Letzt ein Tipp: Kollege Dirk von Gehlen präsentiert jeden Monat seine ganz persönlichen Netzkulturcharts – eine subjektive Auswahl an Memes und Hypes. Dirk ist immer auf der Suche nach Tipps und Hinweisen. Wer mag, kann mit Dirk gern jederzeit Kontakt aufnehmen. Wir präsentieren heute in Absprache mit Dirk Platz 1 seiner Januar-Charts:
Fünf Buchstaben, sechs Versuche – das sind die Eckdaten für den Frühjahrs-Hype des Jahres 2022 im Netz: Wordle ist ein schlichtes Wortratespiel, dessen Ergebnis-Quadrate derzeit alle Timelines in grün, gelb und grau erstrahlen lassen (siehe Bild rechts). Wer einen richtigen Buchstaben errät, erhält ein gelbes Feld, wenn dieser auch noch auf der richtigen Stelle steht, erstrahlt das Feld grün. Mit diesen Hinweisen muss täglich ein – und nur ein – Wort erraten werden. Im WDR hat Dennis Horn den Hype erklärt und das deutschsprachige Angebote Wordle.at empfohlen. Das englischsprachige Original wurde im vergangenen Oktober von Josh Wardle gemeinsam mit seiner Freundin Palak Shah erfunden. In diesem Slate-Interview spricht er über den erstaunlichen Erfolg des Spiels, der unter anderem mit der Verlinkung in einem New York Times-Newsletter und Neuseeland zu tun hatte. Die NYT wiederum widmete sich in einer eigenen Hymne dem Spiel, das vor allem deshalb so toll ist, weil es so schlicht und so wenig auf den Hype hin erstellt wurde. Deshalb muss man genau diesen genau jetzt loben!
Header-Foto von Svyatoslav Romanov
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