Salut und herzlich Willkommen zur 595. Ausgabe des Social Media Watchblog Briefings. Heute beschäftigen wir uns ausführlich mit der Kritik von Amnesty International und Sacha Baron Cohen an Facebook und Co. Zudem blicken wir darauf, wie der Web-Erfinder das Internet retten will. Wir wünschen eine gewinnbringende Lektüre und bedanken uns für das Interesse, Simon, Tilman und Martin
Alle gegen Facebook und Google – zurecht?
Was ist: In der vergangenen Woche haben zwei prominente Absender Fundamentalkritik an Facebook und Google geübt: Sacha Baron Cohen und Amnesty International. Der Comedian und die Menschenrechtsorganisation werfen dem Unternehmen vor, Demokratie und Grundrechte zu gefährden.
Warum das wichtig ist: Facebook-Bashing ist en vogue: Alle paar Tage stellt eine Politikerin, ein CEO oder eine NGO das Unternehmen an den Pranger. Die Vorwürfe von Cohen und Amnesty haben aber ungewöhnlich viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen und fast durchgängig Zustimmung gefunden.
Ich habe mir die Rede und den Bericht angesehen und finde, dass in beiden Fällen mehr Differenzierung nötig ist. Erst fasse ich die Vorwürfe zusammen, dann erkläre ich, was mich daran stört.
Was Cohen sagt: Die Rede, die Cohen am 21. November bei einer Veranstaltung der Anti-Defamation League gehalten hat (Youtube), wurde einen Tag später transkribiert (Guardian) und mittlerweile mehr als 1,2 Millionen Mal angeschaut. Am Montag hat Cohen seine Kritik in Form eines Op-eds verschriftlicht (Washington Post).
- Cohen macht Plattformen wie Facebook mitverantwortlich für die Verbreitung von Hass, die Beeinflussung von Wahlen und Genozide wie in Myanmar. Sie hätten nur oberflächliche Gegenmaßnahmen ergriffen, und die Verantwortlichen interessierten sich nicht dafür, dass soziale Netzwerke Lügen und Verschwörungstheorien verbreiteten.
- Er hält die Plattformen für „die größte Propaganda-Maschine der Geschichte“. Dazu trügen Algorithmen bei, die auf maximales Engagement optimiert seien und die niederen Instinkte der Nutzerïnnen ansprächen.
- Insbesondere nimmt Cohen Bezug auf eine Rede, die Mark Zuckerberg vor einem Monat an der Georgetown University gehalten hat (Washington Post). Zuckerberg warnte darin vor allzu harter Regulierung und pries Redefreiheit als essenziell für eine funktionierende Demokratie.
- Cohen hält das für ein vorgeschobenes Argument und wirft Zuckerberg vor, keine Verantwortung für Inhalte übernehmen zu wollen, die auf Facebook geteilt werden. Als Beispiel führt er unter anderem die umstrittene Aussage Zuckerbergs über Holocaustleugnung an (SZ) und Briefing #471).
- Die „Silicon Six“, also Zuckerberg, Sundar Pichai, Larry Page, Sergey Brin, Susan Wojcicki und Jack Dorsey, seien mehr daran interessiert, den Aktienwert ihrer Unternehmen zu steigern, als die Demokratie zu schützen. Das sei „ideologischer Imperialismus“.
- Facebook, Google und Twitter seien unvorstellbar reich und hätten die besten Entwicklerïnnen der Welt. Mit diesen Ressourcen müsse es möglich sein, Hass, Lügen und strafbare Inhalte effektiv aufzuspüren und zu entfernen. Cohen glaubt, die Unternehmen täten nichts dagegen, weil diese Inhalte noch mehr Engagement, Reichweite und damit Geld garantierten.
- Tech-Plattformen seien nichts anderes als große Verlage, die genauso für alles verantwortlich gemacht werden müssten, was auf ihren Webseiten und in ihren Apps geschehe.
- Cohen bringt erneut Facebooks Umgang mit politischer Werbung ins Gespräch. Nach aktuellem Regelwerk hätte sogar Hitler auf Facebook werben dürfen. Das zeige, wie verantwortungslos das Unternehmen handele.
Was davon zu halten ist: Kein einziger von Cohens Kritikpunkte ist neu, aber er äußert sie pointiert und verständlich. Auch deshalb gibt es eine Menge Applaus, etwa auf Twitter und Reddit.
Ein Teil der Vorwürfe ist berechtigt, wie etwa ein aktuelles Beispiel zeigt: Obwohl Facebook im vergangenen März versprochen hat, rassistische Inhalte der White-Supremacy-Bewegung zu löschen, verbreiten prominente Akteure weiter ungestört ihr Gift (Guardian). Cohens Kritik geht tiefer als viele der oberflächlichen Wortmeldungen von Prominenten oder Politikerïnnen – aber in entscheidenden Punkten macht er es sich zu einfach:
- Ich glaube nicht, dass die „Silicon Six“ kein Interesse daran haben, strafbaren Hass zu löschen. Die Plattformen haben das Thema lange Zeit vernachlässigt und tun immer noch viel zu wenig. Aber die Forderung „sie sollen mal mehr löschen“ hat Stammtischniveau und ignoriert die Herausforderungen, die Content-Moderation auf globalen Kommunikations-Infrastrukturen mit sich bringt (Techdirt).
- In diesem Zusammenhang beklagt Cohen, dass Section 230 die Plattformen von jeglicher Verantwortung freispreche. Dieses US-Gesetz schützt Betreiberïnnen von Webseiten oder Infrastruktur vor Klagen, wenn Dritte dort strafbare Inhalte posten (EFF). Seit Monaten tobt in den USA eine heftige Debatte über Section 230, vor allem die Republikaner wollen das Gesetz ändern (Wired).
- Leider sind Cohens Schlussfolgerungen verkürzt und teils schlicht falsch. Die Diskussion ist aus deutscher Perspektive nur eingeschränkt relevant, deshalb gehe ich nicht im Detail darauf ein. Wer tiefer einsteigen will, liest am Besten bei Mike Masnick (Techdirt) und Casey Newton (The Verge) nach.
- Masnick fasst meine Kritik an Cohens Kritik gut zusammen:
„He’s getting it all backwards, blaming the wrong thing, and misunderstanding what’s at the heart of the issue. Along the way, he also makes some factual mistakes. Indeed, it seems like while he’s touching on some truths, and some realities about how people are using social media and how social media companies operate, he’s so focused on the superficial aspects of it, that he’s completely misunderstanding the deeper workings, motivations, and incentives at play.“
Was Amnesty sagt: Am vergangenen Donnerstag hat die Organisation einen Bericht veröffentlicht, der die „Surveillance Giants“ Facebook und Google scharf angreift (Amnesty). Die „heimtückische Kontrolle unserer Online-Leben“ untergrabe jegliche Privatsphäre und bedrohe die Menschenrechte, sagt Generalsekretär Kumi Naidoo.
Auf 60 Seiten (PDF) skizzieren die Autorïnnen, wie Facebook und Google den Überwachungskapitalismus etabliert hätten. Ihre Geschäftsmodelle beruhten auf massenhaftem Datenschutzmissbrauch, der die Grundrechte gefährde. Ausführliche Zusammenfassungen gibt es bei Heise und dem Guardian.
Was davon zu halten ist: Die Wortwahl ist etwas drastisch, aber die Kritik trifft zumindest teilweise zu. Tatsächlich verdienen Facebook und Google Dutzende Milliarden Dollar pro Quartal, weil sie es besser als alle anderen Unternehmen verstanden haben, aus Daten über den Umweg personalisierter Werbung Geld zu machen. Auch die beispiellose Gatekeeper-Rolle, die wenige Unternehmen im Netz einnehmen, prangert Amnesty zurecht an.
Ich würde aber nicht so weit gehen zu sagen, dass dem gesamten Geschäftsmodell Datenschutzverstöße und Menschenrechtsverletzungen zugrunde liegen. Man kann darüber streiten, ob alle Nutzerïnnen der Datensammlung bewusst und informiert zugestimmt haben, aber ein Großteil von dem, was Facebook und Google machen, ist legal.
Was nicht heißt, dass es legitim ist – doch wer etwas daran ändern und die Dominanz der Tech-Konzerne einschränken will, sollte einen anderen Adressaten wählen: die Politik. Ich glaube nicht, dass private Konzerne freiwillig etwas von ihrem Gewinn und ihrer Macht abgeben.
Auf Seite 49 enthält der Bericht einige (sinnvolle) Forderungen, die Staaten umsetzen sollten, etwa Regulierung und schärfere Datenschutzgesetze. Das ist für mich der wichtigste Teil, denn ohne politisches Framework wird sich in einem kapitalistischen System gar nichts ändern.
Der Web-Erfinder will das Netz retten
Was ist: Tim Berners-Lee hat auf dem Internet Governance Forum in Berlin die erste Version des „Contract for the Web“ vorgestellt. Er enthält neun Richtlinien, die dazu beitragen sollen, „dass das Netz den Menschen dient“.
Worum es geht: Ein Jahr lang haben NGOs, Aktivistïnnen, Wissenschaftlerïnnen, Unternehmen, Regierungen und Bürgerinnen an dem Vertrag gearbeitet. Er skizziert einen Weg, wie das positive Potenzial des World Wide Web ausgeschöpft und seine Risiken und Nebenwirkungen abgeschwächt werden können.
Denn Berners-Lee bereut seine Schöpfung nicht und glaubt nach wie vor, dass das Netz Gutes bewirken kann: „Es hat wissenschaftlichen Fortschritt ermöglicht, Milliarden Menschen vernetzt und ihnen eine Stimme gegeben“, sagt er. Nur: „Wenn wir jetzt nicht handeln, dann (…) spaltet das Netz, statt Menschen zu verbinden, dann riskieren wir eine digitale Dystopie.“
Was in dem Vertrag steht: Von den neun Regeln richten sich jeweils drei an Regierungen, Unternehmen sowie Bürgerïnnen:
- Staaten sollen sicherstellen, dass alle Menschen Zugang zum Internet haben, Netzsperren verhindern und sich für Datenschutz und digitale Grundrechte einsetzen.
- Unternehmen werden verpflichtet, das Netz für alle Gruppen und Minderheiten zu öffnen, die Privatsphäre und Menschenrechte zu respektieren und offene Technologien zu entwickeln, die Nutzerïnnen statt Profit in den Vordergrund stellen.
- Bürgerïnnen sollen Inhalte erstellen und teilen, offene Netzwerke nutzen und Gemeinschaften bilden, die jeden willkommen heißen und den zivilen Diskurs stärken.
Wer den Vertrag unterstützt: Bislang haben mehr als 160 Organisationen, Unternehmen sowie die Regierungen von Deutschland, Frankreich und Ghana unterschrieben. Darunter das Geigengeschäft Devon Strings Workshop, wie Patrick Beuth aufgefallen ist (Spiegel Online), aber auch Google, Facebook und Microsoft.
Be smart: Ich unterstütze alle Forderungen, die Berners-Lee formuliert. Sie sind nicht neu, aber sinnvoll. Dennoch habe ich Fragen:
- Ist es eine gute Idee, einen Appell für das freie, demokratisch kontrollierte Netz von Unternehmen unterstützen zu lassen, die mit ihren geschlossenen Ökosystemen, Quasi-Monopolen, Datenschutzverstößen und Tracking-Werkzeugen maßgeblich dazu beigetragen haben, das World Wide Web in ein Instrument des Überwachungskapitalismus zu verwandeln?
- (Das ist keine rhetorische Frage: Vielleicht ist ohne die Unterstützung dieser Konzerne ohnehin keine Veränderung möglich. Ich wundere mich nur, wie die Forderungen des Vertrags und die Geschäftsmodelle der Unternehmen zusammenpassen.)
- Was passiert, wenn einer der Unterzeichner gegen die Regeln verstößt? Die schärfste Sanktion: den Namen von der Liste der Unterstützer zu nehmen. Ist das eine echte Drohung?
- Werden Länder wie die USA, China oder Russland den Vertrag unterschreiben? Es ist ja schön, dass die Bundesregierung an Bord ist – aber global betrachtet leider auch relativ egal.
- Es gibt viele Internet-Manifeste, die ähnliche Forderungen aufstellen. Der „Contract for the Web“ hat durch die Person von Berners-Lee, die lange Konzeptionsphase, Hunderte beteiligte Expertïnnen und die breite Unterstützung durch große Konzerne und Organisationen wie Wikimedia und Mozilla etwas mehr Gewicht.
- Aber im Moment fehlt mir die Fantasie, um mir vorzustellen, wie aus dieser unverbindlichen Absichtserklärung konkrete Veränderung erwachsen soll. Am ehesten noch, indem sich die UN, einzelne Regierung und Regulierungsbehörden an ihren Inhalten orientieren (was explizit als eines der Ziele formuliert wird).
- Ich wünsche Berners-Lee jedenfalls viel Erfolg und würde mich freuen, wenn sich meine Skepsis als unberechtigt herausstellt.
Abteilung Datenschutz
Facebook Face Recognition App: Ok, das ist echt creepy! Facebook hat zwischen 2015 und 2016 eine App gebaut, die es ermöglicht, Menschen per Gesichtserkennung zu identifizieren, indem das Smartphone auf sie gerichtet wird. Die App war nur für Testzwecke gedacht und wurde nur intern ausprobiert. Dort habe sie gute Ergebnisse erzielt, berichtet Business Insider. Mit Blick auf die Datenschutz-Querelen habe Facebook aber davon abgesehen, die App weiter zu entwickeln. Äh, ja! Gracias.
Schon einmal im Briefing davon gehört
Cocoon: Zwei ehemalige Facebook-Mitarbeiter haben eine neue App am Start: Cocoon wirbt damit, Familien und Freunden einen sicheren und intimen Ort zum Austausch zu bieten. Alles ohne Tracking und Werbung, dafür aber später einmal mit einer Bezahl-Version. Bislang haben wir die App noch nicht getestet – wir schauen uns das aber auf jeden Fall einmal an.
Neues von den Plattformen
- Dating jetzt mit Stories: Wer Facebook Dating nutzt, kann fortan auch auf seinem Dating-Profil die eigenen Stories von Instagram und Facebook teilen (Techcrunch). Na, dann passt mal schön auf, was ihr teilt!
- Favorites: Facebook testet ein Feature mit dem Namen Favorites (Techcrunch). Analog zur Close-Friends-Liste bei Instagram könnte dann beim Posten ausgewählt werden, dass nur vorher definierte Freunde das Post auch wirklich zu sehen bekommen – nämlich via Messenger. Facebook verspricht sich davon wieder mehr Aktivität auf der Plattform. Die FB-eigenen Listen-Angebote, mit denen Nutzerïnnen ihre FB-Freunde sortieren konnten, haben nie richtig gezündet und wurden jüngst eingestampft.
- Viewpoints: Facebook startet eine neue Marketing-Research-App mit dem Namen Viewpoints, die Nutzerïnnen dafür bezahlt, an Umfragen teilzunehmen. Das letzte Mal hatte das für ziemlich viel Aufsehen gesorgt – Stichwort Onavo. (Briefing 520)
- Assistant: Der Google Assistant kann nun Websites ansurfen und dort Tickets kaufen. Das ist zwar nicht direkt ein Social-Thema, aber es braucht nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, dass das etwas ist, was die Social-Media-Plattformen auch gern anbieten würden.
Tumblr
- Tags: Bei Tumblr lassen sich Inhalte nun auch über Tags finden. (Adweek)
- Löschung von inaktiven Accounts: Wer einen Account bei Twitter hat und sich länger als sechs Monate lang nicht einloggt, dem droht die Löschung seines Accounts. (Techcrunch)
Tipps, Tricks und Apps
Twitter 2Factor: Es ist nun endlich nicht mehr notwendig,Twitter seine Telefonnummer zu geben, um die 2-Faktor-Authentifizierung zu nutzen (Wired). Also: Go for it!
SmallPDF: Eine schweizer Firma hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Welt ein kleines bisschen besser zu machen. Wie sie das anstellen möchte? Ganz einfach: Sie erleichtert einem das Leben mit PDFs. Egal ob es darum geht, ein PDF zu komprimieren, zu konvertieren, zu skalieren… SmallPDF is there to help you. Allerdings kostenpflichtig.
One more thing
Wir haben ein neues Logo und werden es ab heute benutzen 🙂 Also nicht wundern, wenn wir künftig bei Twitter, auf unserem Blog und im Newsletter ein bissl anders aussehen. Möge die schwarze Raute auf gelbem Hintergrund in Frieden ruhen! Und wir sind künftig auch unter watchblog.io zu erreichen – ein erster, kleiner Schritt zur Neugestaltung unserer Website, die künftig mehr Funktionen aufweisen wird. Stay tuned!
Header-Foto von Danis Lou bei Unsplash