Orte wie diesen den Schreihälsen und Populisten zu überlassen ist leicht. Aber es sich leicht zu machen kann nicht die Lösung sein. Nicht heute. Nicht in dieser Woche. Nicht in dieser Zeit. Deshalb bin ich wieder auf X.
Das ist ein bemerkenswerter Sinneswandel. Vor knapp sechs Jahren hatte der Grünen-Politiker seinen Abschied von Twitter auf seinem Blog noch so begründet:
Twitter ist, wie kein anderes digitales Medium so aggressiv und in keinem anderen Medium gibt es so viel Hass, Böswilligkeit und Hetze. Offenbar triggert Twitter in mir etwas an: aggressiver, lauter, polemischer und zugespitzter zu sein – und das alles in einer Schnelligkeit, die es schwer macht, dem Nachdenken Raum zu lassen. Offenbar bin ich nicht immun dagegen.
Wir wissen nicht, was genau Habeck zu diesem Schritt bewogen hat. War es der anstehende Wahlkampf, in dem er seine Reichweite auf X nutzen möchte? Glaubt er, dass die Plattform tatsächlich zivilen Austausch ermöglicht, wenn nur genug Menschen dort bleiben oder auf X zurückkehren, die Interesse daran haben?
Das kann der Vizekanzler nur selbst beantworten. Letztlich sind seine Motive aber nebensächlich. Wir bewerten nur die Entscheidung – und die halten wir für falsch, unabhängig davon, welche Gründe dazu führten.
Habeck sendet ein deutliches Signal: X ist ein Ort, an dem politischer Diskurs möglich ist, den Politikerïnnen und Behörden mit Inhalten befüllen sollen.
Viele seiner Kollegïnnen scheinen das ähnlich zu sehen. News und Einordnungen zum Bruch der Koalition oder den Streit um den Termin für Neuwahlen findet man nach wie vor am ehesten auf X. Dort trifft sich das halbe politische Berlin. Bundeskanzler, Parteivorsitzende, Abgeordnete, Ministerien, Behörden – sie haben fast alle aktive Accounts.
Daraus ergibt sich eine Dynamik, die wir für fatal halten. Weil Politikerïnnen und Behörden weiter auf X kommunizieren, nutzen Journalistïnnen die Plattform als bevorzugte Informationsquelle. Sie zitieren Posts auf X (obwohl die gleichen Stellungnahmen in vielen Fällen auch auf Instagram, Facebook, Threads, Bluesky oder Mastodon veröffentlicht werden) und tragen damit zum Eindruck von Relevanz bei. Das wiederum bestärkt politische Akteure, die Plattform zu bespielen.
Das ist ein Fehler. Twitter hatte viele Probleme, konnte aber trotz allem ein wertvoller Ort für politische Diskussionen, persönlichen Austausch und wunderbaren Quatsch sein. X hat keine Probleme, die gesamte Plattform ist ein Problem.
Der beste Zeitpunkt, X zu verlassen, war vor zwei Jahren. Der zweitbeste Zeitpunkt ist jetzt. Aus diesen sieben Gründen halten wir den eXit für nötig:
1. Elon Musk
Der Eigentümer allein ist Grund genug, X besser gestern als heute den Rücken zu kehren. Genauer gesagt: Musk allein ist nicht nur Grund, sondern Gründe. Viele Gründe. Und täglich kommen neue dazu.
Dabei geht Musk vollkommen scham- und skrupellos vor. Er spendet Hunderte Millionen für Trumps Wahlkampf und postet Dutzende Male pro Tag: Lügen, Verschwörungserzählungen und wütende Angriffe auf alle, die weniger rechtsradikal sind als er. (…) Musks Parteiergreifung hat ein beispielloses Ausmaß erreicht. Der Eigentümer von Tesla, SpaceX, Neuralink, Starlink und X ist der mächtigste und gefährlichste politische Influencer der Welt, der damit zum Steigbügelhalter für einen rassistischen, autoritären und demokratiefeindlichen US-Präsidenten werden könnte.
Diese Befürchtung hat sich bewahrheitet. Für seine Unterstützung im Wahlkampf erwartet Musk Gegenleistungen, die Trump ihm offenbar gewähren wird. Der reichste Mensch der Welt wird bald nicht nur ein halbes Dutzend Unternehmen kontrollieren, sondern auch direkten Einfluss auf die US-Politik nehmen.
Diese Machtkonzentration ist einzigartig. Im Gegensatz zu anderen einflussreichen Menschen gibt sich Musk nicht einmal Mühe, den Anschein von Verantwortung zu erwecken.
Auf X bedeutet das: Musk feuert willkürlich Tausende Angestellte, heißt gesperrte Rechtsextreme willkommen, drosselt und zensiert Medien, fantasiert offen vom Bürgerkrieg in Großbritannien und verbreitet fast täglich übelste Desinformation an mehr als 200 Millionen Follower.
Die Meinungsfreiheit, die Musk einst beschwor, bedeutet für ihn: Alle dürfen ihre Meinung äußern, solange es meine ist.
Allein in der vergangenen Woche mischte sich Musk zweimal in die deutsche Innenpolitik ein und bezeichnete Olaf Scholz und Robert Habeck als "Narren".
Das ist sein gutes Recht, Kritik und Widerspruch sind legitim. Problematisch sind aber die Konten, mit denen er interagierte.
Das weckt Erinnerungen an den Sommer, als Musk mehrfach der AfD applaudierte und sich auf Grundlage eines Posts einer rechtsradikalen Klimaleugnerin bei Olaf Scholz über El Hotzo beschwerte (SZ).
Man braucht nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, was das für den anstehenden Bundestagswahlkampf bedeutet. Musk wird munter mitmischen und demokratiefeindlichen Positionen Reichweite verschaffen.
Bundesregierung und Bundeskanzler lächeln solche Angriffe ironisch weg. "Es herrscht eben auf X Narrenfreiheit", sagte die stellvertretende Regierungssprecherin zu Musks Beleidigungen. Bei Caren Miosga wollte sich Scholz nicht länger mit Musk beschäftigen:
Ich kommentiere keine Tech-Milliardäre, ein Staatschef ist er nicht, auch wenn man manchmal den Eindruck hat, mancher Tech-Konzern sei mächtiger als Staaten.
Grundsätzlich ist das die richtige Haltung. Wir fragen uns nur: Wenn Bundeskanzler und Bundesregierung Tech-Milliardäre nicht kommentieren – warum kommentieren sie dann auf der Plattform des reichsten, mächtigsten und mit Abstand radikalsten Tech-Milliardärs?
2. Die Algorithmen haben Schlagseite nach rechts
Habeck und viele andere argumentieren, dass man den "Schreihälsen und Populisten" etwas entgegensetzen müsse.
Dabei übersehen sie, dass X eben kein Ort ist, an dem sich das bessere Argument durchsetzt. Wer auf X diskutiert, unterwirft sich dem größten Schreihals und Populisten – der keine Skrupel hat, die Spielregeln zum eigenen Vorteil zu ändern.
Eine Anekdote aus dem vergangenen Jahr verdeutlicht, wie schamlos Musk bei X eingreift (Platformer, weitere Details im Buch "Character Limit"). Als ein Tweet von Joe Biden zum Super Bowl häufiger gesehen wurde als sein eigener, verlor Musk schlagartig das Interesse am Football-Spiel. Er löschte den Tweet und flog im Privatjet zurück nach San Francisco.
Dutzende Entwicklerïnnen legten am späten Sonntagabend los, um sicherzustellen, dass sich Musk nie wieder mit weniger Aufmerksamkeit als der US-Präsident zufriedengeben muss. Seitdem wird alles, was Musk auf X von sich gibt, im Programmcode mit author_is_elon gekennzeichnet. Das bedeutet: Diesen Inhalt mit höchster Priorität behandeln und möglichst vielen Menschen zeigen.
Studien zeigen, dass der Anteil an Verschwörungserzählungen, Desinformation und beleidigenden, antisemitischen oder rassistischen Posts seit der Musk-Übernahme zugenommen hat. Das ist kein Wunder, schließlich verbreitet er solche Inhalte aktiv mit.
Ende Oktober zeigte eine Datenanalyse der Washington Post, dass auf X überwiegend rechte bis rechtsradikale Inhalte viral gehen.
Kurz vor der US-Wahl startete das Redaktionsnetzwerk Deutschland ein bezeichnendes Experiment. Neue Konten mit US-amerikanischer IP-Adresse sahen nach der Erstanmeldung fast ausschließlich Inhalte, die man als Wahlwerbung für Trump einstufen könnte.
In einem solchen Umfeld gibt es für Demokraten nichts zu gewinnen – und damit meinen wir nicht die US-Partei, sondern die Überzeugung, die hoffentlich fast alle politischen Akteure in Deutschland teilen.
3. Musk, Trump und Vance halten Erpressung für Verhandlungstaktik
Bereits im September knüpfte J.D. Vance die US-Unterstützung für die Nato an die Bedingung, dass die EU X nicht weiter reguliert (The Independent):
It’s insane that we would support a military alliance if that military alliance isn’t going to be pro-free speech. I think we can do both. But we’ve got to say American power comes with certain strings attached. One of those is respect free speech, especially in our European allies.
Dieser Mann ist jetzt Vizepräsident. Die EU ermittelt wegen möglichen Verstößen gegen den Digital Services Act in mehreren Fällen gegen X.
Es wäre fahrlässig, eine Plattform zu stärken, die von der neuen US-Regierung als Druckmittel missbraucht werden könnte.
4. X ist und bleibt eine fast luftdichte Blase
Es gibt mehrere gute Gründe, als Politikerin oder öffentliche Person nicht auf TikTok zu kommunizieren – unter anderem nachgewiesene Zensur, mögliche Manipulation durch Algorithmen, gezieltes Ausspähen von Journalistinnen, Datenschutzbedenken, Spionagevorwürfe, intransparente Verbindungen nach China, Risiken für die mentale Gesundheit und mangelnde Content-Moderation.
Es gibt aber auch einen gewichtigen Grund, trotz allem dort präsent zu sein: Man erreicht Millionen überwiegend junge Menschen, die sonst selten oder gar nicht mit politischen oder journalistischen Inhalten in Berührung kommen.
Dieses Argument zieht auf X nicht. Wir haben selbst x-fach beschrieben, warum X eine Nische ist. Dieses Mal zitieren wir zur Abwechslung Christian Stöcker, der in seiner Spiegel-Kolumne beschreibt, warum ein Wahlkampf auf X ein Albtraum wäre:
Die Plattform ist hierzulande ein Nischenphänomen, selbst Snapchat oder Pinterest nutzen mehr Deutsche. Laut der jüngsten Medienstudie im Auftrag von ARD und ZDF waren 2024 drei Prozent der Deutschen täglich und sieben Prozent der Deutschen wöchentlich bei X, das ist ein Rückgang um einen Prozentpunkt. Bei Instagram sind es 26 täglich und 37 Prozent wöchentlich, ein Wachstum um drei Prozentpunkte gegenüber dem Vorjahr. TikTok hat in Deutschland viermal so viele tägliche Nutzerinnen und Nutzer wie Twitter. X, das ist Deutschlands polit-mediale Social-Media-Blase, mit ein bisschen Sport und Unterhaltung – und vielen Trollen. Sonst nichts.
5. Wer bleibt, macht es sich leicht
Habeck schreibt, dass es leicht sei, sich zurückzuziehen. Das Gegenteil ist der Fall.
Leicht ist es, sich an der mühsam aufgebauten Reichweite, dem sorgsam kuratierten Netzwerk und den vielen Reaktionen festzuklammern.
Viele Journalistinnen und Politiker nutzen X länger als Musk, ihre Konten haben teils Hunderttausende oder Millionen Follower. Auch wir haben Zehntausende Tweets geschrieben und in jeweils rund 15 Jahren Hunderte (Tausende? Hilfe!) Stunden auf dem früheren Twitter verbracht.
Schwer ist es dagegen, sich einzugestehen, dass diese Zeit vorbei ist, dass dieses digitale soziale Kapital seinen Wert verloren hat, dass Twitter tot und X kein Ersatz ist.
Es ist aber die richtige Entscheidung (Damon Kiesow):
We ourselves have torn down the wall between editorial and business interests if as journalists, our calculation here is not values-based. To wit: “But I have a large following and neither BlueSky or Threads does.” That is the rationalization of a marketer, not a journalist who believes in the SPJ Code of Ethics dictate to “minimize harm.”
6. Jede und jeder Einzelne zählt
Reichweite, Netzwerk, Clout: Wer nur auf sich selbst schaut, kann problemlos Gründe finden, warum es sich lohnt, auf X zu bleiben. Das ist das Gefangenendilemma von Social Media: Individuell rationales Verhalten führt nicht zum besten Ergebnis für die Gemeinschaft.
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