Was ist

Nachrichtlich haben wir beide Ereignisse bereits am Dienstag in unserer ersten Ausgabe nach der Sommerpause abgebildet (SMWB):

  • Vor anderthalb Wochen nahmen die französischen Behörden Pawel Durow fest, als dieser am Pariser Flughafen landete. Ihm werden etliche Straftatbestände zur Last gelegt, unter anderem Beihilfe zur organisierten Verbreitung von Kindesmissbrauchsmaterial und die Weigerung, den Behörden Informationen oder Unterlagen zu übermitteln, die für gesetzlich zulässige Abhörmaßnahmen erforderlich sind. Unter strengen Auflagen kam Durow wieder auf freien Fuß, eine Anklage dürfte folgen. Die genauen Gründe und Umstände der Verhaftung sind nach wie vor unklar.
  • Elon Musk weigert sich, bestimmte Konten auf Anordnung der brasilianischen Justiz zu sperren. Deshalb ordnete der Richter Alexandre Moraes an, X-Mitarbeiter zu verhaften und die Plattform landesweit zu sperren. Musk schloss daraufhin die brasilianische Niederlassung. Moraes, einer der zehn Richter am brasilianischen Verfassungsgericht, liegt seit Monaten im Clinch mit Musk und hat in den vergangenen Jahren immer wieder fragwürdige Anordnungen erlassen und Urteile gefällt. Seine Rolle und Beweggründe sind ähnlich undurchsichtig wie die Durow-Verhaftung in Frankreich.

Wir haben weder Kontakte zur französischen Cybercrime-Einheit C3N, noch sind wir Experten für brasilianische Justiz. Deshalb sparen wir uns Spekulationen über die juristischen Hintergründe. Stattdessen blicken wir etwas allgemeiner auf die beiden Fälle und konzentrieren uns dabei auf die Rolle der Plattformen sowie ihrer Eigentümer. Unsere Gedanken haben wir in Form von fünf Thesen, Fragen und Beobachtungen festgehalten:

1. Musk und Durow sind keine Märtyrer der Meinungsfreiheit

  • In rechten und rechtsradikalen Kreisen ist die Deutung einhellig: Durow wurde festgenommen, weil er aufrichtig für Redefreiheit einsteht. X wurde gesperrt, weil Brasilien die Plattform zensieren will.
  • Beide Annahmen sind grundfalsch. Musk und Durow mögen sich als Märtyrer inszenieren (404 Media), mit Meinungsfreiheit hat das aber wenig zu tun.
  • Besonders eindeutig ist die Lage bei Musk. Der selbsternannte "free speech absolutist" ist keiner. Seit er das damalige Twitter übernahm, hat sich Musk immer wieder den Anordnungen von Regierungen gebeugt und etwa nach dem Willen von Iran, Türkei und Vereinigten Arabischen Emiraten zensiert (The Verge).
  • Musks Weigerung, antisemitische, rassistische und frauenfeindliche Inhalte auf X zu moderieren, bedeuten letztlich das Gegenteil von Redefreiheit. X ist für viele Menschen zu einem Ort geworden, an dem sie konstant beleidigt und bedroht werden. Deshalb ziehen sie sich zurück, wichtige Stimmen verstummen. Diese falsch verstandene, absolutistische Meinungsfreiheit bedeutet letztlich, dass hauptsächlich Schreihälse übrig bleiben und viele andere sich nicht mehr trauen, ihre Meinung zu äußern.
  • Im Fall von Durow ist es etwas komplexer. Tatsächlich ist Telegram ein wichtiges Werkzeug für viele Dissidentinnen und Oppositionelle, die in autoritären Regimen verfolgt werden. Anders als bei Musk wirkt Durows radikaler Libertarismus konsequent und halbwegs glaubwürdig.
  • Trotzdem wäre es absurd, die Verhaftung in Zusammenhang mit der Meinungsfreiheit zu bringen. Telegram weigert sich notorisch, terroristische Inhalte, Gewaltaufrufe oder Aufnahmen von Kindesmissbrauch konsequent zu löschen und verlässlich mit Strafverfolgungsbehörden zu kooperieren. Diese Renitenz hat nichts mit Redefreiheit zu tun (The UnPopulist):
Free speech deserves to be jealously guarded. But the ill-advised and off-base response to Durow’s indictment on platforms like X that encourage follower-chasing influencers to engage in performative moral outrage does not advance this cause. To the contrary, in fact. If it seems that free speech has become a license for terrorism, money laundering, and the sexual abuse of children—and is being used to thwart the investigation of these crimes—this cherished right might well face a public backlash.

2. Was ist Telegram?

  • Über kaum eine Plattform existieren so viele Fehlannahmen und Missverständnisse wie Telegram. Das fängt bereits bei der Bezeichnung an. Ist Telegram ein Messenger? Ein soziales Netzwerk? Ein Massenmedium?
  • Die Antwort lautet: von allem ein bisschen. Was als Messenger begann, ist durch Gruppen und Kanäle längst zu einer Plattform zur Massenkommunikation geworden. Das gibt es bei WhatsApp zwar auch, dort sind Gruppen aber auf 1024 Personen limitiert. Bei Telegram können sich bis zu 200.000 Menschen in einer Gruppe unterhalten. Das hat eindeutig Netzwerk-Charakter.
  • Der wohl größte Trugschluss betrifft aber ein anderes Wort, das sich oft als Zuschreibung findet: "verschlüsselt". Telegram ist vieles, aber sicher nicht sicher und verschlüsselt.
  • Standardmäßig werden Chats lediglich auf dem Transport vom Endgerät zum Server verschlüsselt. Dort liegen alle Inhalte im Klartext, Telegram selbst kann jederzeit darauf zugreifen. Im Gegensatz zu Signal oder WhatsApp, die auf sichere Ende-zu-Ende-Verschlüsselung setzen, muss man Telegram also vertrauen.
  • Optional lassen sich private Nachrichten verschlüsseln. Das ist aber umständlich und gut versteckt, zudem gilt das proprietäre Protokoll als weniger robust als das von Signal. Gruppenchats und Kanäle sind immer unverschlüsselt. Der Kryptografie-Experte Matthew Green bilanziert deshalb (Cryptographic Engineering):
My strong suspicion is that many people who join Telegram for its social media features also end up using it to communicate privately. And I think Telegram knows this, and tends to advertise itself as a “secure messenger” and talk about the platform’s encryption features precisely because they know it makes people feel more comfortable. But in practice, I also suspect that very few of those users are actually using Telegram’s encryption. Many of those users may not even realize they have to turn encryption on manually, and think they’re already using it.
  • Und Signal-Chefin Meredith Whittaker macht die Unterschiede deutlich (Wired):
Telegram and Signal are very different applications with very different use cases. Telegram is a social media app that allows an individual to communicate with millions at once and doesn't provide meaningful privacy or end-to-end encryption. Signal is solely a private and secure communications app that has no social media features. So we're already talking about two different things.
  • Ein weiterer, von Telegram selbst befeuerter Mythos betrifft die Kooperation mit Strafverfolgungsbehörden. Auf seiner eigenen Webseite beantwortet Telegram die Frage "Reagiert ihr auf Datenanfragen?" so:
Bis zum heutigen Tag wurden 0 Byte Nutzerdaten an Dritte weitergegeben, einschließlich aller Regierungen.
  • Das ist eine Lüge. In mehreren Fällen hat Telegram etwa Nutzerdaten an das BKA weitergegeben (NDR), auch mit Europol arbeitet man zusammen. Diese Kooperation betreffen aber immer nur Einzelfälle, einen zuverlässigen Informationsaustausch gibt es nicht.
  • Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine ist Telegram zu einer wichtigen Propagandaplattform für Russland geworden, auch das russische Militär nutzt Telegram zur internen Kommunikation (Spiegel). Angeblich hat Durow Russland seit Kriegsbeginn mehr als 50 Mal besucht, so berichten es jedenfalls russische Medien.
  • Solche Berichte nähren Spekulationen, dass Durow, der Russland einst im Streit mit dem FSB verließ, die Seiten gewechselt haben könnte und den russischen Staat mitlesen lässt (Read Max). Technisch wäre das möglich, Belege gibt es dafür aber keine.

3. Durow muss sich entscheiden, was Telegram sein soll

  • Die Verhaftung scheint Durow komplett überrascht zu haben. Die FT gibt ein Treffen im März folgendermaßen wieder:
He appeared relaxed, however, over the rise of legislation worldwide targeting the power of tech companies, as well as growing concerns about the spread of harmful content online. “We are confident that we can adapt,” said Durow. “We don’t expect any significant challenges going forward.
  • Das war naiv. Durow hielt sich selbst für immun und nahm die Drohungen der französischen Behörden nicht ernst (Spiegel).
  • Er hat sich selbst in diese Situation gebracht. Einerseits durch seine Einreise nach Frankreich, andererseits durch die Entscheidungen, mit denen er Telegram in das verwandelte, was es heute ist: eine halböffentliche Plattform, die theoretisch auf fast alle Inhalte zugreifen kann, sich aber gleichzeitig jeglicher Moderation verweigert und Ermittlungsbehörden selbst bei schweren Straftaten meist abblitzen lässt.
  • Das Unternehmen selbst schreibt auf X:
Telegram abides by EU laws, including the Digital Services Act — its moderation is within industry standards and constantly improving.
  • Das ist Unsinn. Meta, YouTube und TikTok beschäftigen jeweils eine fünfstellige Zahl an Content-Moderatorïnnen, selbst X gibt sich im Vergleich ernsthaft Mühe. Telegram lässt Pädokriminelle und Terroristen gewähren und hat noch nie eine Meldung an das National Center for Missing and Exploited Children (NCMEC) geschickt, der wichtigsten Koordinierungsstelle im Kampf gegen Aufnahmen von Kindesmissbrauch (Spiegel).
  • Durow kann nicht beides gleichzeitig haben: keine Verschlüsselung und keine Moderation. Entweder geht Telegram den Weg von Signal und WhatsApp und sperrt sich selbst aus. Dann kann Durow halbwegs glaubwürdig beteuern, Telegram könne nichts gegen strafbare Inhalte unternehmen, weil man ja gar nicht sehe, was auf der eigenen Plattform geschehe. (Randnotiz: Auch Signal und WhatsApp kooperieren nach Möglichkeit mit NCMEC und in begründeten Fällen auch mit Ermittlungsbehörden.)
  • Oder Telegram entscheidet sich, dass man nicht Messenger, sondern öffentliche Plattform sein möchte. Dann müsste Durow über seinen Schatten springen, in Teams für Sicherheit und Moderation investieren und zumindest eindeutig strafbare Inhalte sperren lassen.
  • Klar ist aber auch: Das wäre teuer und könnte Telegrams geplanten Börsengang erschweren (SZ):
Telegram ist dagegen Durows große Geschäftsidee. Er träumt von einem Börsengang und rühmt sich, mit nur 50 Mitarbeitern eine App zu betreiben, die die Welt bewegt. Telegrams Untätigkeit angesichts krimineller Beiträge ist deshalb auch eine Finanzfrage. Niedrige Personalkosten gleich höhere Gewinne durch Werbung und Abos. Jeder zusätzliche „Moderator“, der bösartiges Zeug aus der App fischt, macht die Firma für Investoren weniger interessant. Was aussieht wie Freiheitskampf, ist eben manchmal einfach ein gutes Geschäft.

4. Festnahmen und Sperren sind das falsche Mittel, um Druck auszuüben

  • Musk und Durow sind sehr reich, mächtig und gefährlich. Auf X und Telegram kommt ihr fragwürdiges Verständnis von Meinungsfreiheit zum Ausdruck, ihre Plattformen schaden dem öffentlichen Diskurs. Man könnte also sagen: Endlich greift mal jemand durch, jetzt kommt die überfällige Reaktion des Rechtsstaats.
  • Wir sehen das anders. Bislang waren derart drastische Methoden nur aus autoritären Staaten bekannt. Russland und Indien haben immer wieder gedroht, Angestellte von Tech-Plattformen zu verhaften und die Konzerne damit gezwungen, ihre dortigen Büros zu schließen.
  • Allein die Tatsache, dass Irans Führer applaudiert, sollte Frankreich zu denken geben (AP):
In Iran, where Telegram is widely used despite being officially banned after years of protests challenging the country’s Shiite theocracy, Durow’s arrest in France prompted comments from the Islamic Republic’s supreme leader. Ayatollah Ali Khamenei weighed in with veiled praise for France for being “strict” against those who “violate your governance” of the internet.
  • Dass Donald Trump damit drohte, Mark Zuckerberg lebenslänglich ins Gefängnis zu stecken, ist auch kein gutes Argument, um Durows Festnahme zu legitimieren (Techdirt). Faustregel: Wenn du zu ähnlichen Mitteln greifst wie Khomeini und Trump, solltest du zumindest darüber nachdenken, ob deine Mittel angemessen sind.

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