Was ist

Die Superlative sind uns längst ausgegangen. Was Twitter seit dem vergangenen Donnerstag abgezogen hat, war mal wieder ein Desaster mit Ansage. Deshalb drehen wir das Spiel um. Wir gehen in diesem Briefing davon aus, dass es Elon Musk darauf angelegt hat, Twitter – den vermeintlichen Hort der Wokeness, die Lieblingsplattform der Linksliberalen – zu ruinieren. Aus diesem Blickwinkel hat er am Wochenende grandios abgeliefert.

Die Ausgangslage

  • Knapp sechs Monate nach der Übernahme ist Musk seinem Ziel schon erstaunlich nahegekommen. Mehr als 80 Prozent der Angestellten und drei Viertel der wichtigsten Werbekunden sind weg, der Umsatz und der Wert von Twitter haben sich halbiert.
  • Doch ein Restrisiko bleibt: Wenn genug Menschen bereit sind, für Twitter Blue zu bezahlen, könnte das Abomodell den Exodus der Werbetreibenden kompensieren und Twitter dauerhaft rentabel machen.
  • Was also tun? Man muss den blauen Haken sabotieren, eines der wenigen verbliebenen Statussymbole auf Twitter, von dem eine gewisse Glaubwürdigkeit ausgeht – und für den Menschen womöglich bereit sind zu bezahlen.
  • Die paar Musk-Fans und Tesla-Fahrer, die Blue bislang abonniert haben, stellen keine Gefahr dar. Insgesamt dürfte es sich um höchstens 650.000 Accounts handeln (Github), das bedeutet einen Jahresumsatz im mittleren bis hohen zweistelligen Millionenbereich – rund ein bis zwei Prozent des gesamten Umsatzes im vergangenen Jahr.
  • Was aber dringend verhindert werden muss: Dass reihenweise Promis, die nach dem alten System gratis verifiziert waren, ebenfalls Twitter Blue abonnieren.
  • Das könnte Vorbildcharakter haben und eine bedrohliche Kettenreaktion auslösen. Wenn nur ein Bruchteil der jeweils mehr als 100 Millionen Follower von Justin Bieber, Rihanna, Cristiano Ronaldo und Katy Perry ihren Idolen folgt und ebenfalls für Blue zahlt, schießen die Einnahmen so schnell nach oben, dass Twitter tatsächlich eine Zukunft haben könnte.

Die Vorbereitung

  • Twitters Zerstörung ist sorgfältig geplant. Seit Jahren macht sich Musk über den blauen Haken lustig, wenige Tage nach Kaufabschluss schreibt er (Twitter): "Twitter’s current lords & peasants system for who has or doesn’t have a blue checkmark is bullshit."
  • Das reicht natürlich nicht. Mitte November ignoriert Musk alle Warnungen seiner Angestellten und schaltet Blue erstmals frei.
  • Binnen weniger Stunden wimmelt es von Fakes: Nintendo lässt Super Mario den Mittelfinger zeigen, Chiquita verkündet, die brasilianische Regierung gestürzt zu haben, und der Pharmakonzern Eli Lilly setzt einen folgenreichen Tweet ab: "Wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu können, dass Insulin jetzt kostenlos ist."
  • Alle diese Accounts haben einen blauen Haken, weil sie für Blue bezahlen. Keiner davon ist echt. Obwohl Twitter das Blue-Abo schnell wieder stoppt, zieht Eli Lilly Konsequenzen und wirbt seitdem nicht mehr auf Twitter.
  • Gleichzeitig setzt Musk alles daran, sich bei einem Großteil der Twitter-Nutzerïnnen derart unbeliebt zu machen, dass der Haken zum Demarkationssymbol wird. Wer ihn besitzt, ist offenbar bereit, Musks Eskapaden zu finanzieren – ein rotes Tuch für viele Menschen.
  • Damit ist das erste Ziel erreicht: Der blaue Haken ist in Verruf geraten. Was jahrelang für Authentizität stand, ist jetzt mit Zweifeln verbunden: Wurde der Account verifiziert, oder zahlt er für Blue?

Die Umsetzung

  • Musk schafft weitere Unsicherheit. Am 1. April sollen alle bislang verifizierten Accounts die blauen Haken verlieren. Wie so oft setzt Twitter die Ankündigung nicht in die Tat um. Ein Aprilscherz? Unklar.
  • Kurz darauf legt sich Musk auf ein neues Datum fest: den 20. April. Das Datum, 4/20 nach US-Schreibweise, beinhaltet seine Lieblingszahl: 420, in den USA ein Codewort für Cannabiskonsum.
  • Musk übernahm Twitter für einen Preis von 54,20 Dollar pro Aktie und schlug einst vor, sein Unternehmen Tesla von der Börse zu nehmen – für einen Aktienwert von 420 Dollar. Es ist also ein besonderer Tag für den Twitter-Chef, und Musk zelebriert ihn auf seine ganz eigene Art.
  • Am späten Donnerstagabend deutscher Zeit verlieren auf Twitter die rund 420.000 verifizierten Accounts ihren blauen Haken – eine Zahl, die Musk gefallen dürfte, in diesem Fall aber tatsächlich Zufall ist.
  • Doch schnell zeigt sich ein Problem, das Musk nicht bedacht hatte. "Endlich sind wir alle gleich und die Arschlöcher wieder gut zu erkennen", drückt es Jan Böhmermann aus (Twitter), der nun ebenfalls hakenlos daherkommt.
  • Bislang konnte man nicht genau feststellen, wer den Haken aus welchen Gründen trägt. Plötzlich ist klar: Diese Person hat Blue abonniert. Schnell trendet #BlockTheBlue (WaPo), und die ersten Anleitungen kursieren, wie sich Blues automatisch blockieren lassen.
  • Eigentlich ist das eine wünschenswerte Entwicklung, schließlich wird das Abo damit weiter diskreditiert. Dennoch ist unklar, ob sich einflussreiche Promis wirklich davon abschrecken lassen.
  • Wenn sie ihren blauen Haken zurückwollen und Blue abonnieren, könnte das unerwünschte Nebenwirkungen haben. Man muss also dringend verhindern, dass Stars wie LeBron James, der noch vor wenigen Wochen kategorisch ausgeschlossen hatte, für Blue zu zahlen, ihre Meinung ändern.
  • Worst case: Die Prominenten schließen nicht nur ein Abo ab, sondern lernen auch noch die Vorteile zu schätzen und machen aktiv Werbung dafür. Es gäbe wenig wirksamere Marketing-Strategien als bekannte und beliebte Twitter-Nutzerïnnen, die ihrem Millionenpublikum erzählen, wie toll Blue ist, für das sie nachweislich selbst bezahlen.
  • Zum Glück hat Musk eine weitere geniale Idee: Er stiftet so große Verwirrung, dass niemand mehr sicher sein kann, wer den Haken aus welchen Gründen hat.

Das Chaos

  • Zunächst statuiert Musk ein Exempel. LeBron James, Stephen King und William Shatner haben sich immer wieder mit Musk angelegt, also rächt sich der Twitter-Chef auf seine Weise: Er sponsert den Dreien den Haken aus eigener Tasche – und erweckt damit öffentlich den Eindruck, selbst seine Kritiker zahlten für Twitter Blue.
  • Wenige Stunden später setzt Musk das Verwirrspiel fort. Übers Wochenende erhalten immer mehr Accounts das Symbol zurück, dem sie wenige Tage zuvor beraubt wurden.
  • Zunächst wird spekuliert, das gelte für alle Konten mit mindestens einer Million Followern. Dagegen spricht, dass einige Accounts mit Dutzenden Millionen Followern keinen Haken erhalten, etwa der Schauspieler Ryan Reynold (Twitter).
  • Um das Chaos perfekt zu machen, verifiziert Twitter auch Accounts von Toten, darunter Michael Jackson, Anthony Bourdain, Pelé, Kobe Bryant und – besonders geschmacklos – den ermordeten Journalisten Jamal Khashoggi.
  • Bei einem Klick auf das Profil heißt es auch bei den Verstorbenen: "Dieser Account ist verifiziert, weil er Twitter Blue abonniert hat und die Telefonnummer verifiziert wurde."
  • Teils scheint Twitter das Symbol auch als eine Art Bestrafung zu verleihen. Der Satire-Account @dril, der Mashable-Journalist Matt Binder und selbst der vergleichsweise kleine Volksverpetzer kommen plötzlich wieder mit Haken daher (Volksverpetzer).
  • Schnell entdecken derart stigmatisierte Accounts einen Lifehack: Wer seinen Namen ändert, verliert die Verifizierung. Doch bei manchen Kritikern scheint es Musk mit dem Trollen besonders ernst zu sein. @dril benennt sich mehrfach um (Garbage Day), nur um wenige Minuten später wieder verifiziert zu werden.
  • Schließlich nimmt das Katz-und-Mausspiel ein passendes Ende: @dril nennt sich "slave to Woke", verliert den Haken – und kann seinen Namen jetzt nicht mehr ändern. Man könnte sich keine bessere Zusammenfassung der Ära Musk ausdenken.

Die Belohnung

Any tweet now with science, data, and facts about #climatechange is now swarmed by climate-denying trolls, bots, and idiots because science, data, and facts scare the hell out of them, and because Elon's Twitter now promotes them.

  • Dieses Muster zeigt sich unter fast allen viralen Tweets. 95 Prozent der unangenehmen bis widerlichen Antworten kommen von Blues – die dank ihres Abos besonders prominent auftauchen.
  • Zu den Blue-Kundïnnen zählen bekannte Verschwörungsideologen, Rechtsradikale, Rassisten und Antisemiten (Volkverpetzer). Zudem verifiziert Twitter Fake-Accounts von Trollen (Mashable) oder ermöglicht es einem gefälschten Konto, gefährliche Desinformation über den Krieg im Sudan zu verbreiten – natürlich mit blauem Haken (Vice).
  • Kurzum: Musk hat es geschafft. Das einzige verbleibende Geschäftsmodell für Twitter ist ruiniert. Blue ist der Lächerlichkeit preisgegeben, das Symbol ist zum Schandfleck geworden.
  • Das spiegelt sich in den Zahlen wider. Von den mehr als 400.000 Accounts, die am Donnerstag ihren Haken verloren, sollen rund 320 Blue neu abonniert haben. Gleichzeitig beendeten rund 290 ihr Abo.
  • Das macht ein Plus von 28 Blue-Abos. Da Musk ein paar der Abos selbst bezahlt, entspricht das einem monatlichen Umsatz von rund 200 Dollar.

Herzlichen Glückwunsch, Elon Musk!