Zukunft von Social Media: Nischen-Netzwerke statt Eine-für-alles-Plattform | Ausgabe #875

Facebook ist alt, Instagram öde und TikTok alles, aber nicht sozial. Twitter … ach, Twitter. Was kommt nach den großen Social-Media-Plattformen?
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Ausgabe #875 | 20.4.2023

Was ist

In den vergangenen Wochen haben wir mehrere Texte gelesen, die eine gemeinsame These vertreten: Das Zeitalter der Social-Media-Plattformen geht vorbei, jetzt bricht eine neue Ära an. Auf diese Artikel gehen wir später detaillierter ein.

Die Beobachtung ist nicht ganz neu. "Ende der Social-Media-Ära: Wie Meta sich neu erfinden will", überschrieben wir ein Briefing im vergangenen Juli (#814). Zwei Monate später beschrieben wir einen "Vibe Shift" (#827):

Für uns fühlt es sich gerade nach Zeitenwende an. Die alte Social-Media-Welt wird langsam, aber sicher von etwas Neuem abgelöst. Dabei geht es nicht so sehr um die Konzerne, die hinter den Apps stecken, die Milliarden Menschen Dutzende Male pro Tag auf ihren Smartphones öffnen. Es geht vielmehr darum, wie wir als Gesellschaft Social Media nutzen. Und damit auch um die Frage, wie wir als Kommunikationsprofis soziale Medien nutzen können, um uns Gehör zu verschaffen.

Das Thema ist so groß und grundlegend, dass wir es erneut aufgreifen möchten. Diesmal konzentrieren wir uns nicht auf das veränderte Nutzungsverhalten (Rückzug in geschlossene Kommunikationsräume, passiver Konsum öffentlicher Feeds), sondern beleuchten, wie die Betreiber selbst dazu beitragen, dass Social Media nur noch dem Namen nach sozial ist.

Wie soziale Medien aussterben

  • Nein, Facebook ist nicht tot. Der blaue Riese wächst weiter, das Gleiche gilt für Instagram (#857). Wenn wir schreiben, dass Social Media stirbt, dann bedeutet das nicht, dass die Plattformen verschwinden – sehr wohl aber die ursprüngliche Idee, die diese Plattformen groß gemacht hat.
  • Facebook startete als Netzwerk für Freunde und Familie, Instagram als Fotoplattform mit Fokus auf den Beziehungen zwischen Nutzerïnnen. Meta ist dabei, beide Plattformen in Unterhaltungsmaschinen nach dem Vorbild von TikTok zu verwandeln: Der Social Graph verliert an Bedeutung, alles kann viral gehen, von wem der Inhalt stammt, spielt nur noch eine untergeordnete Rolle.
  • Auch das Format verändert sich: Aus Text wurde Bild wurde Video wurde ein Strom aus vertikalen Hochkant-Kurzvideos mit Viralitätsgarantie.
  • Diese TikTokisierung ergibt finanziell Sinn. Alle Plattformen streben nach einem Bewegtbild-Feed, weil Menschen dort am meisten Zeit verbringen, mehr Datenpunkte hinterlassen und mehr Werbung betrachten.

Welche Gefahren der Fokus auf Werbekunden birgt

  • Im Januar beschrieb Cory Doctorow in einem bissigen Essay, was er die "Enshittification" von Plattformen nennt (Wired):

Here is how platforms die: First, they are good to their users; then they abuse their users to make things better for their business customers; finally, they abuse those business customers to claw back all the value for themselves. Then, they die.

  • Doctorow dekliniert den Prozess am Beispiel von Amazon, Facebook, TikTok, Twitter und Google durch. Wir stimmen nicht mit allen Schlussfolgerungen überein und stellen auch die zugrundeliegende Prämisse infrage: Mit Ausnahme von Twitter sind die genannten Plattformen recht lebendig, zumindest wirtschaftlich.
  • Trotzdem hat Doctorow mit vielen seiner zentralen Beobachtungen recht. Das zentrale Problem der meisten großen, werbefinanzierten Online-Dienste besteht darin, dass sie zwei Interessengruppen bedienen müssen, die oft gegensätzliche Wünsche haben: Nutzerinnen und Werbekunden.
  • Die einen betrachten Anzeigen und zahlen mit ihrer Aufmerksamkeit, die anderen schalten Anzeigen und zahlen in Dollar. Konsumierende gibt es fast unbegrenzt, Werbetreibende deutlich weniger.
  • Die Konsequenz der Plattformbetreiber: Im Zweifel werden die Interessen der Anzeigenkunden (und der eigenen Marketing-Abteilung) bedient. Das Ergebnis sind Angebote, die sich tatsächlich enshittified anfühlen:

Surpluses are first directed to users; then, once they're locked in, surpluses go to suppliers; then once they're locked in, the surplus is handed to shareholders and the platform becomes a useless pile of shit. From mobile app stores to Steam, from Facebook to Twitter, this is the enshittification lifecycle.

  • Der langjährige Snapchat-Mitarbeiter Ellis Hamburger greift Doctorows Rant auf und erklärt, wie und warum sich Snapchat verändert hat (The Verge):

The needs of these groups are dramatically different. Users want what the platform was originally for — be it ephemeral messaging, sharing photos, or otherwise. Surprising, energized spaces to connect with friends in a new way. But these use cases inevitably have a limit. You can only post so many photos. You only have so many friends to message. And for investors and advertisers, that’s a problem. So each social network has to find ways to make you send another photo, or it has to deploy a brand-new feature and encourage you to use that, too. More usage, more space for ads, more money for investors.

  • Dabei habe sich Snap dieser Entwicklung lange widersetzt:

At Snap, we knew this fate could someday come — for ourselves and our users. So our imaginative design team devised ways to stop the cycle, from ephemeral messages that couldn’t be pored over again and again, to how Stories couldn’t be liked, to how (deliberately) hard it was to add a friend, and even Snap’s much-publicized decision to move Kylie Jenner down the Stories page below your closest friends, a bold decision that Snap never got enough credit for.

  • Das Problem: Investorïnnen erwarten schnelles Wachstum und Rendite, alles andere gilt als Misserfolg. Spätestens mit dem Börsengang ist es dann vorbei mit organischer Entwicklung, jetzt geht es um maximale Verweildauer und Monetarisierung:

But when you’re gunning for an IPO, there’s simply no way to justify keeping things small. Little “frictions” are removed one by one, research and development goes more into content than messaging, and lo and behold, the growth comes!

  • Die Frage ist nur: Wachstum wohin? Es ist schwer vorstellbar, dass es langfristig ein halbes Dutzend erfolgreicher Plattformen gibt, die mehr oder weniger alle das Gleiche machen wie TikTok. Wenn sich Netzwerke immer weiter annähern, werden sie austauschbar – und ein Teil von ihnen wird untergehen.

Was nach Social Media kommt

  • Hamburger deutet an, dass kleine soziale Netzwerke an die Stelle großer sozialer Netzwerke treten könnten:

As a new crop of social platforms has started to emerge, from protocols like Mastodon to intimate apps like Locket and BeReal, I’ve noticed a change in how startups are approaching social media — and even the traditional path of starting up. These apps don’t aim to put the entire college experience online as Facebook once did. They seek to create new experiences based on our needs today.

  • Diesem Gedanken widmet Brian X. Chen einen ausführlichen Artikel (NYT). Im Kern steht die Überlegung, dass es nie wieder eine einzige Plattform für alle Lebensbereiche geben wird, sondern viele Nischen-Netzwerke für unterschiedliche Interessen und Bedürfnisse:

The change has implications for large social networking companies and how peop…

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