Das Jahr 2023 ist gut gestartet: Fast drei Wochen sind vorbei, noch tauchte Elon Musk nicht in unserem Briefing auf – bis heute. Aber keine Sorge, wir fassen uns kurz. Denn den ultimativen Twitter-Longread haben andere geschrieben.

Ein Blick auf Twitters Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft

Was ist

Der große Knall ist bislang ausgeblieben. Obwohl Musk rund drei Viertel der Angestellten rausgeworfen hat, lebt Twitter noch. Pannen und Ausfälle haben zugenommen, dafür spart Twitter nicht nur jede Menge Personalkosten, sondern hat auch fast alle Verträge mit Dienstleistern neu verhandelt, zahlt signifikant weniger Miete (oder auch mal gar keine (WSJ)) und scheint mit drastisch gekürztem Budget kein drastisch schlechteres Produkt zu liefern.

Hatte Musk am Ende also doch recht? War Twitter ein aufgeblasener Konzern, den er erst gesundschrumpfen musste, bevor Neues entstehen kann? Leider nein. Wir ignorieren an dieser Stelle alle inhaltlichen, menschlichen und moralischen Aspekte – über Musks unterirdischen Führungsstil und seinen horrenden Umgang mit Angestellten, die Rückkehr Tausender Rechtsradikaler, die Willkür und das Chaos haben wir mehr als genug geschrieben.

Doch selbst, wenn man Twitter ausschließlich wirtschaftlich betrachtet, muss man sagen: Es steht nicht gut um die Plattform. Wir (lassen) erklären, wie es so weit kommen konnte, und geben einen Überblick, warum Twitter vor einer ungewissen Zukunft steht.

Wie Musk Twitter ruiniert hat

Niemand hatte in den vergangenen Monaten besseren Einblick in das Twitter-Drama als Zoë Schiffer, Casey Newton und Alex Heath. Schiffer und Newton schreiben den Newsletter Platformer, Heath arbeitet für The Verge (und hat dort ebenfalls einen kostenpflichtigen Newsletter gestartet). Die drei Reporterïnnen haben ihre Quellen und Kontakte zusammengeworfen und gemeinsam rekonstruiert, was Musk seit der Übernahme bei Twitter angerichtet hat.

Der Text ist die Titelgeschichte der aktuellen Ausgabe des New York Magazine und wurde gleichzeitig bei The Verge veröffentlicht. Die rund 45.000 Zeichen enthalten keine neuen Enthüllungen, alles Wichtige haben wir bereits in unseren Briefings abgedeckt.

Trotzdem werben wir eindringlich dafür, dass du die Recherche liest – oder ihr zumindest einen Ehrenplatz in der Read-it-Later-App deiner Wahl gönnst. Nachdem wir Hunderte Texte zu Twitter und Musk gelesen haben, können wir mit großer Gewissheit sagen: Das ist einer der drei, die sich wirklich lohnen (der zweite ist der prophetische „Welcome to hell, Elon„-Brief von Nilay Patel, die dritte Nominierung halten wir uns noch offen).

Wer sich intensiv mit Twitter unter Musk beschäftigt hat, erfährt zwar keine neuen Fakten, gewinnt aber trotzdem eine neue Erkenntnis. Angesichts der beinahe täglich fortgeschriebenen Shitshow konnte man leicht den Blick für das große Ganze verlieren. Schiffer, Newton und Heath machen noch mal deutlich, was bei Twitter geschieht: Einer der reichsten Menschen der Welt kauft eine der wichtigsten Plattformen der Welt und verwandelt sie in ein Tollhaus – mit teils dramatischen Auswirkungen auf Mitarbeitende, Nutzerïnnen, Politik und Gesellschaft.

Warum Twitters Zukunft ungewiss ist

Das Anzeigengeschäft läuft mies

  • Twitters täglicher Umsatz ist binnen eines Jahres um 40 Prozent eingebrochen (The Information). Mehr als 500 wichtige Werbekunden haben ihre Buchungen storniert, seit Musk im Oktober übernahm.
  • Im vergangenen Jahr erzielte Twitter einen Umsatz von fünf Milliarden Dollar. 2023 könnte Twitter selbst das niedrig gesteckte Ziel von drei Milliarden verfehlen. Im ersten Quartal peilt Twitter einen Umsatz von gerade mal 732 Millionen an (The Information).
  • Dabei spielen auch externe Faktoren eine Rolle: der Krieg in der Ukraine, ökonomische Ungewissheit, Apples Maßnahmen gegen Tracking. Die wichtigste Ursache ist aber hausgemacht: Musks fragwürdige Interpretation von Redefreiheit schreckt Werbekunden ab – niemand möchte seine Anzeigen neben rassistischen, antisemitischen oder homophoben Tweets sehen.
  • Die Verzweiflung scheint groß zu sein. Aktuell versucht Twitter, Unternehmen mit Dumping-Preisen zu überzeugen (WSJ), wieder Anzeigen zu schalten. Wer 250.000 Dollar ausgibt, bekommt Werbung im Wert von weiteren 250.000 Dollar geschenkt.
  • Jessica Lessin, die gut vernetzte Gründerin von The Information, ist skeptisch, dass Werbekunden von selbst zurückkehren werden. Sie berichtet von ihren eigenen Erfahrungen mit Twitter-Werbung:

As one data point, our team at The Information has been for years trying to spend money on Twitter ads to generate subscriptions. It’s really the only social media channel that hasn’t worked for us in some way at some time. Take that for what you will.

  • Lessin bezweifelt, dass es reichen wird, Twitter wieder in einen etwas sichereren und angenehmeren Ort zu verwandeln, um das Anzeigengeschäft wiederzubeleben:

He will have to restore trust and demonstrate a real commitment to policing the site for bots, spam and other harmful content. But he’s also going to have to pull off something few are doing in social media now. He has to innovate. He has to give everyone a reason to keep going back when there are simply so many other ways to spend time and money on the internet.

  • Langfristig möchte Musk Twitter ohnehin unabhängiger von Werbung machen und setzt auf das Bezahlmodell Twitter Blue. Bislang sind keine offiziellen Zahlen bekannt, wie viele Menschen ein Abo abschließen. Frühere Leaks deuten auf einen brutalen Flop hin, der zwar beste Unterhaltung bietet (Twitter / Christa Peterson), aber eher kein nachhaltiges Geschäftsmodell (Platformer).

TikTok kopieren ist noch keine Strategie

  • Eine weitere Hoffnung: Twitter glaubt, dass eine stärker algorithmisch kuratierte Timeline im Stil von TikTok Menschen dazu bringen könnte, mehr Zeit in der App zu verbringen. Mehr Videos, mehr Tweets von Accounts, denen man nicht folgt – was uns bei Instagram schon nervt, brauchen wir nicht auch noch bei Twitter. Aber hey, vermutlich sind wir auch nicht die Zielgruppe.
  • In den vergangenen Wochen rollte „For you“ (auch dieser Begriff kommt uns bekannt vor) in allen Apps und der Web-Version aus. Die bisherigen Ergebnisse sind ernüchternd, für viele Nutzerïnnen gingen die Interaktionen mit ihren Tweets massiv zurück.
  • Musk sagt, das liege an einem fehlerhaften Update für den Algorithmus, der zu viele Tweets von fremden Accounts angezeigt habe.
  • Wir haben noch nicht genug Zeit auf Twitter verbracht, um eine Einschätzung abzugeben. Ryan Broderick hat das getan, sein Urteil klingt nicht besonders ermutigend. Twitter verwandle sich mit der neuen Timeline in eine Art verlangsamtes Reddit und büße vieles ein, was die Plattform einzigartig gemacht habe:

What Elon Musk has done is morph Twitter into Reddit, with gimmick accounts replacing the role of subreddits. The question is whether that will help long-term growth and, more importantly, is it enough to bring back advertisers.

Twitter verscherzt es sich mit Powerusern

  • Wer standardmäßig eine chronologische Timeline sehen möchte, konnte jahrelang Clients von Drittanbietern verwenden. Twitters vergleichsweise offene Schnittstellen zählen zu den wenigen Dingen, die der Plattform immer wieder Lob und Respekt einbrachten.
  • Das scheint nun vorbei zu sein. Twitter hat beliebten Apps wie Tweetbot und Twitterific absichtlich die APIs abgedreht. Angeblich setze man nur bestehende Regeln durch (The Verge). Tatsächlich dürfte sich Twitter daran gestört haben (The Information), dass diese Dritt-Apps keine Werbung anzeigen.
  • Craig Hockenberry, der Gründer von Twitterific, kommentiert das mit einer Menge Wut im Bauch:

What bothers me about Twitterrific’s final day is that it was not dignified. There was no advance notice for its creators, customers just got a weird error, and no one is explaining what’s going on. We had no chance to thank customers who have been with us for over a decade. Instead, it’s just another scene in their ongoing shit show. But I guess that’s what you should expect from a shitty person. Personally, I’m done. And with a vengeance.

  • Wir halten es für kurzsichtig, Apps wie Tweetbot und Twitterific zu killen. Viele Poweruser nutzten solche Drittanbieter-Clients, O-Ton Benedict Evans: „But people used them because Twitter’s own app is just terrible, and Twitter is actively making it worse. Try fixing that, perhaps?“
  • Es mag sein, dass Twitter dadurch ein paar Dollar an Werbeumsatz gewinnt. Wenn es aber gleichzeitig einige seiner aktivsten Nutzerïnnen verliert, war es bestenfalls ein Nullsummenspiel.

Bald muss Twitter happige Zinsen zahlen

  • Twitter kann sich aber keine Stagnation auf niedrigem Niveau leisten. Um die Übernahme zu finanzieren, belastete Musk das Unternehmen mit 13 Milliarden Dollar Schulden. Dafür muss Twitter pro Jahr rund 1,5 Milliarden Dollar Zinsen zahlen. Ende Januar ist die erste Rate fällig (FT).
  • Selbst für Musk ist das viel Geld, das er nicht mal eben überweisen kann. Tesla-Aktien haben zwei Drittel ihres Werts verloren, im gleichen Maße ist auch Musks Vermögen geschrumpft. Zudem hat er nervösen Investoren und Aktionärinnen versprochen, keine weiteren Tesla-Anteile zu verkaufen.
  • Kurz vor Weihnachten sagte Musk (Ars Technica):

This company is like you’re in a plane that is headed towards the ground and high speed with the engines on fire and the controls don’t work.

  • Er hat recht. Das Problem für den Sturzflug ist allerdings nicht Twitter, sondern Musk.

Social Media & Politik

  • Donald Trump könnte bald zurück auf Facebook sein: Gut zwei Jahre nach dem Sturm aufs US-Kapitol und der Sperre von Trump könnte der ehemalige US-Präsident seinen Facebook- und Instagram-Account zurückerhalten. Das deutete Nick Clegg auf dem Weltwirtschaftsforums in Davos an (SZ). In einem Brief fordern Trumps Berater Meta auf (NBC), die Sperre aufzuheben. Seinen Twitter-Account hat Trump bereits zurückerhalten, bislang aber keinen Tweet abgesetzt. Meta möchte in den kommenden Wochen entscheiden.
  • TikTok versucht, US-Verbot abzuwenden: Angesichts der drohenden Verbannung aus den USA ist TikTok offenbar zu weiteren Zugeständnissen bereit. Das WSJ berichtet, das Unternehmen wolle anderthalb Milliarden Dollar investieren, um das US-Geschäft neu zu strukturieren. Im Zentrum sollen Transparenz und Kontrolle stehen, angeblich könnte der Code der Algorithmen extern durchleuchtet werden.
  • TikToks E-Commerce-Chef berichtet direkt an ByteDance, schreibt The Information. Nach kompletter Unabhängigkeit von China sieht das nicht aus. Auch dieser Bereich dürfte dann wohl der (o.g.) Neustrukturierung unterliegen.
  • Mehr Transparenz bei TikTok: Die Kennzeichnung „staatlich kontrollierter Medien“ wird bei TikTok auf weitere Länder ausgeweitet (TikTok Newsroom). Das Label dient dazu, Nutzerïnnen zu warnen, wenn Videos von Institutionen veröffentlicht werden, deren redaktioneller Output dem Einfluss einer Regierung unterliegt. Inhalte von RT, Ruptly, Sputnik, RIA Novosti, TASS und Co werden bereits mit einem entsprechenden Hinweis versehen.

Follow the money

  • Meta: Druck auf Mitarbeiter nimmt zu: Arbeit mittlerer Art und Güte reicht nicht mehr – Meta fordert seine Mitarbeiterïnnen auf, sich endlich mehr anzustrengen. Oder wie The Information schreibt: Meta Pressures Average-Rated Employees to Up Their Game.
  • Roblox wächst: Laut eigenen Angaben konnte Roblox die Anzahl der täglich aktiven User im Jahresvergleich um 18 Prozent steigern (Businesswire). Und weil mehr Nutzerïnnen auch mehr Geld auf der Plattform ausgeben, konnte Roblox auch beim Umsatz mit der hauseigenen Währung Robux zulegen. Wer Roblox nicht kennt, hier ist ein guter Primer (YouTube).
  • Discord kauft Gas: Discord möchte gern eine größere Rolle in der Social-Media-Landschaft spielen. Daher hat das Unternehmen nun die unter US-Kids populäre App Gas übernommen (Discord Blog). Mit Gas lassen sich anonyme Umfragen gestalten, die einen positiven Dreh haben.

Video / Audio

  • Sehr viel weniger neue Podcast-Shows: Die Anzahl neuer Shows ist laut Listen Notes im Jahr 2022 um satte 80 Prozent gegenüber 2020 eingebrochen (The Verge). Vermutlich hat mittlerweile einfach jeder einen Podcast.
  • YouTube wieder Hauptsponsor der VidCon: Nachdem TikTok im vergangenen Jahr als Hauptsponsor bei der wichtigsten Video-Creator-Konferenz auftrat, hat sich YouTube dieses Jahr nicht erneut die Butter vom Brot nehmen lassen: YouTube Replaces TikTok as VidCon Title Sponsor (Hollywood Reporter)
  • Fluchen ist doch ok bei YouTube: Eigentlich hatte YouTube vor, Videos, in denen bereits in den ersten 15 Sekunden geflucht wird, die Monetarisierungsoptionen zu entziehen. Nach einigen („fuck this fucking shit“) Protesten sieht es nun ganz danach aus, dass YouTube die Policy zurücknimmt. (The Verge)

Next

  • Sind AI-Anwendungen eine Gefahr für die Demokratie? Nathan Sanders und Bruce Schneider warnen in einem Op-ed davor, dass demokratische Mitbestimmungsprozesse durch AI-Tools manipuliert werden könnten: How ChatGPT Hijacks Democracy (New York Times)
  • Getty Images und Künstler-Trio verklagen Stability AI wegen potentieller Copyright-Verletzungen: Getty prangert an (Newsroom Getty), Stability AI habe Millionen von Fotos ohne Erlaubnis genutzt, um die Anwendung Stable Diffusion zu trainieren. Ein Künstler-Trio sieht das ganz ähnlich (The Verge).
  • ChatGPT als Lehrer: Anstatt AI-Werkzeuge wie ChatGPT und Co an Schulen zu verbieten, sollten Lehrerïnnen lieber lernen, wie sich derartige Anwendungen im Unterricht integrieren lassen, schreibt die New York Times. Mit Blick auf den Lehrermangel in Deutschland vielleicht auch hierzulande gar keine schlechte Idee…
  • US-Universitäten bauen Prüfungspläne um: Aus Sorge, dass Studierende mittels ChatGPT ihre Noten aufbessern könnten, werden in den USA bereits an einigen Universitäten Prüfungspläne umgeschrieben. Medizinische Prüfungen besteht ChatGPT übrigens bereits – wenn auch nur knapp (Axios). Aber hey, 4 gewinnt!!!
  • Ob Powerpoint-Präsentationen mittels AI hingegen unbedingt besser werden (Fast Company), wagen wir zu bezweifeln. Die sind einfach immer lame.

Neue Features bei den Plattformen

TikTok

Substack

  • Private Substack: Wer mag, kann bei Substack einen privaten Newsletter starten (Substack Read). Nur ausgewählte Kontakte dürfen sich dann für den Empfang des Newsletters eintragen. Eigentlich gibt es das Feature schon seit zwei Jahren. Aber Substack pitcht es jetzt in einer überarbeiteten Version einfach noch einmal.