Was ist

Die eine oder der andere hat es möglicherweise mitbekommen: Elon Musk hat Twitter gekauft. „The bird ist freed„, sagt er selbst. Wir fürchten, dass Dave Pell recht behalten könnte: „The bird is fried“ (Medium)

Vergangene Woche schrieben wir:

Du hast keine Lust mehr, wir haben keine Lust mehr: In den vergangenen Monaten hat Elon Musk eindeutig zu viel Platz in diesem Newsletter eingenommen. Deshalb fassen wir uns heute so kurz wie möglich und sparen uns die Analyse für den Moment auf, an dem dieser verdammte Deal wirklich endlich und endgültig durch ist.

An diesem Gefühl hat sich wenig geändert, trotzdem kommen wir um die Analyse nicht herum. Allein mit den vergangenen sieben Monaten könnte man (sehr unterhaltsame) Bücher füllen, den Blick zurück sparen wir uns aber. Spannender ist der Blick nach vorn: Was wird jetzt aus Twitter? Wie verändert Musk die Plattform? Was bedeutet das für Politik und Gesellschaft?

Seit Freitag ist Chaos ausgebrochen, fast stündlich dreht sich die Nachrichtenlage. Es ist nahezu unmöglich, den aktuellen Stand zusammenzufassen, ohne kurz darauf schon wieder von der Realität überholt zu werden.

Deshalb versuchen wir erst gar nicht, haarklein nachzuerzählen, was alles passiert ist. Stattdessen fokussieren wir uns auf die wichtigen Ereignisse, die Rückschlüsse auf künftige Entwicklungen zulassen.

1. Man muss Musk an seinen Taten messen, nicht an seinen Worten

  • Selbst die größten Musk-Fans werden zugeben, dass der Tesla-Chef mehr Dinge verspricht (SZ), als er später umsetzt. Während des Kaufprozesses hat er öfter seine Meinung gewechselt als seine Unterhosen.
  • Bei allen Analysen zu Twitter ist also Vorsicht angebracht: Was Musk ankündigt, entspricht selten dem, was er später tut.
  • Insbesondere seine Tweets sollte man nicht allzu ernst nehmen. Kürzlich sagte er der Financial Times:

Aren’t you entertained? I play the fool on Twitter and often shoot myself in the foot and cause myself all sorts of trouble. I don’t know, I find it vaguely therapeutic to express myself on Twitter.

  • Das war vermutlich einer der seltenen Momente, in denen er wirklich meinte, was er sagte.
  • Derzeit erinnert die Berichterstattung über Musk an die schlimmste Zeit der Trump-Festspiele: Jeder Tweet wird zur Schlagzeile, selbst Ein-Wort-Replys („Interesting„, „Definitely„), Halbsätze („Looking into it„, „For now„) und Emojis (viele Emojis) lösen ganze Artikel aus.
  • Das ist keine gute Idee. Wir hoffen, dass sich der mediale Umgang mit Musk bald wieder normalisiert und seine Taten in den Mittelpunkt rückt, statt sich von seinen Trollereien verrückt machen zu lassen.

2. Twitter wird sich grundlegend verändern

  • Bereits nach wenigen Tagen ist klar: Musk hat Twitter nicht bloß gekauft, damit ihm sein Lieblingsspielzeug gehört, im Wesentlichen aber alles beim Alten bleibt. Er möchte Twitter komplett neu ausrichten.
  • Das beginnt beim Personal. Der Großteil der bisherigen Führungsriege wurde bereits gefeuert (Axios), weitere fristlose Kündigungen dürften folgen.
  • Musk möchte sich die Abfindungen sparen, die teils im zweistelligen Millionenbereich liegen. Deshalb macht er angebliches Fehlverhalten als triftigen Grund geltend (The Information). Juristisch dürfte er damit genauso wenig Chancen haben (Bloomberg) wie mit seinem gescheiterten Versuch, doch noch aus dem Kaufvertrag auszusteigen.
  • Auch den neunköpfigen Verwaltungsrat hat Musk bereits aufgelöst (WSJ), als einziger Entscheider bleibt er selbst.
  • Um sich schart Musk eine Gruppe aus Freunden, Vertrauten und Beratern (NYT), bislang ausnahmslos Männer. Zudem bringt er Angestellte aus seinen anderen Unternehmen mit, darunter mehr als 50 Entwicklerïnnen von Tesla (NBC), die dort größtenteils Code für den Autopiloten schrieben.
  • Wer bislang bei Twitter arbeitet, muss um seinen Job fürchten. Musk möchte wohl mindestens ein Viertel der 7500 Beschäftigten loswerden (Washington Post).
  • Zwischenzeitlich wurden Entwicklerïnnen aufgefordert, 50 Seiten Code auszudrucken (Platformer), den sie im vergangenen Monat geschrieben hatten. Sie sollten sich darauf vorbereiten, Musk oder seinen Tesla-Vertrauten zu erklären, woran sie gearbeitet hatten.
  • Wenige Stunden später hieß es: Bitte das Papier schreddern, wir möchten den Programmiercode doch lieber auf dem Bildschirm betrachten.
  • Solche widersprüchlichen Anweisungen haben bei Twitter große Unsicherheit ausgelöst. Niemand weiß, ob der eigene Job sicher ist. In internen Slack-Kanälen werden Kontaktdaten ausgetauscht, weil viele fürchten, ohne Vorwarnung rausgeworfen zu werden.
  • Teamleiterïnnen fordern ihre Angestellten auf (Platformer), nicht auf Anweisungen zu warten und einfach drauflos zu programmieren – Hauptsache, sie können Musk irgendetwas präsentieren.
  • Auch auf das Produkt selbst hat Musk bereits Einfluss genommen. Wer ausgeloggt ist und Twitters Homepage aufruft, sieht statt einer Anmeldeseite die Explore-Page (The Verge). Früher hätte eine solche Veränderung wochenlang mit unterschiedlichen Teams abgestimmt werden müssen, nun entscheidet Musk binnen Minuten selbst, ohne jemanden um Rat zu fragen.
  • Eine weitere Sofortmaßnahme betrifft die Content-Moderation. Ein Teil der zuständigen Abteilung kann offenbar nicht mehr auf interne Werkzeuge zugreifen (Bloomberg), die nötig sind, um Postings zu moderieren:

Most people who work in Twitter’s Trust and Safety organization are currently unable to alter or penalize accounts that break rules around misleading information, offensive posts and hate speech, except for the most high-impact violations that would involve real-world harm, according to people familiar with the matter.

  • Die automatische Moderation läuft weiter, dennoch löste die Einschränkung Sorgen aus. Viele Angestellte fürchten, dass es nun schwerer wird, die Integrität der Midterms am 8. November zu schützen.
  • An den zugrundeliegenden Regeln für die Moderation von Inhalten hat sich bislang nichts geändert. Das könnte jedoch bald der Fall sein. Bloomberg zufolge hat Musk bereits verlangt, die Richtlinien für Desinformation bei Wahlen und zu Covid-19 enger zu fassen sowie die sogenannte Hateful Conduct Policy zu überarbeiten.
  • Im Fokus sollen dabei vor allem Angriffe auf Transpersonen stehen. Musk hatte sich mehrfach darüber lustig gemacht, dass Menschen nach ihrer Geschlechtsangleichung nicht mehr mit ihrem alten Namen angesprochen werden möchten. Seine Tochter, selbst transgender, spricht nicht mehr mit ihrem Vater (BBC).

3. Twitter rutscht nach rechts

  • Bislang scheint der Twitter-Kauf für Musk vor allem einen Zweck zu erfüllen: own the libs – er möchte es dem „linksliberalen Mainstream“ mal so richtig zeigen.
  • Das löst die erwartbaren Reaktionen aus. Antisemiten und Nazis (NYT) strömen zurück auf die Plattform und loten aus (The Verge), ob sich die Grenzen des Sagbaren (NBC) bereits verschoben haben.
  • Musk selbst teilt rechtsradikale Verschwörungserzählungen, die er später wieder löscht (Washington Post). Bekannte Extremistïnnen feiern die Übernahme (The Atlantic).
  • Das kann eine Momentaufnahme sein. Womöglich schwindet die Begeisterung der Rechten, wenn sie merken, dass es auf Twitter immer noch Regeln gibt, an die sie sich halten müssen.
  • Schließlich hat sich bislang nichts Grundlegendes an den Richtlinien geändert. Musk möchte ein Gremium gründen, das Leitlinien zur Content-Moderation festlegt. Bevor dieser Rat tagt, sollen keine weitreichenden Entscheidungen fallen. Unter anderem könnte dort beschlossen werden, ob und wann Trump seinen Account zurückerhält.
  • Im Gremium sollen „widely diverse viewpoints“ vertreten sein, wie Musk es wünscht. Das könnte bedeuten: Auch Rassisten sollen mitreden dürfen.

4. Die bislang bekannten Pläne machen wenig Hoffnung

  • Allmählich werden Details bekannt, wie Musk Twitter verändern will. Konkret geht es um Verifikation und Videos.
  • Offenbar könnte der weiße Haken auf blauem Grund bald Geld kosten. Wer das Symbol neben seinem Namen behalten möchte, soll dafür 20 Dollar im Monat zahlen (Platformer).
  • Die Verifizierung wäre dann Teil des Premium-Abos Twitter Blue, das bislang fünf Dollar kostet und nicht in Deutschland abgeschlossen werden kann.
  • Angeblich hat Musk dem verantwortlichen Team eine Frist bis 7. November gesetzt (The Verge). Schaffen sie es nicht, die Funktion zu programmieren, werden sie gefeuert.
  • Der Versuch, aus einer Sicherheitsfunktion ein paar Dollar zu pressen, ist eine bescheuerte Idee. Zum einen ist der zu erwartende Umsatz selbst für Twitters Maßstäbe lächerlich gering, wir reden über 15 Millionen Dollar pro Jahr (News Statesman) – und das nur, wenn ein Fünftel der bislang verifizierten Konten bereit ist zu zahlen. Die bisherigen Reaktionen klingen so (Twitter / Stephen King), als sei das eine optimistische Prognose.
  • Zum anderen, und das ist deutlich wichtiger, braucht es nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, wie die Funktion missbraucht werden könnte, um Desinformation zu verbreiten.
  • Bereits jetzt nutzen Kriminelle die Verwirrung für Phishing-Kampagnen (TechCrunch). Wenn Verifikation kaufbar wird, sinkt das Vertrauen noch weiter (The Verge), und Fakes haben es noch leichter (Übermedien).
  • Ähnlich unausgegoren sind Musks Video-Pläne. Noch in diesem Jahr soll ein Team die Video-App Vine zurückbringen (Axios), die vor sechs Jahren eingestellt wurde. Als Grundlage soll der alte Code dienen.
  • In der Theorie ist das nachvollziehbar, schließlich hatte TikTok wenig später mit einem ähnlichen Ansatz riesigen Erfolg.
  • In der Praxis dürfte es etwas komplizierter sein. Sara Beykpour, die bei Vine arbeitete und die Abwicklung der App verantwortete, gibt Musk auf Twitter ein paar Ratschläge:

This code is 6+ years old. Some of it is 10+. You don’t want to look there. If you want to revive Vine, you should start over. Trust me on this one guys

5. Twitters Schicksal entscheidet sich an der Content-Moderation

  • Wenn du nur einen Text zu Musk und Twitter lesen möchtest, dann bitte diesen: „Welcome to hell, Elon„, nennt Nilay Patel, Chefredakteur von The Verge, seinen fulminanten offenen Brief an Musk.
  • Patel bringt auf den Punkt, was wir seit Jahren schreiben (#791) – nur bissiger, amüsanter und pointierter:

So you can make all the promises about “free speech” you want, but the dull reality is that you still have to ban a bunch of legal speech if you want to make money. And when you start doing that, your creepy new right-wing fanboys are going to viciously turn on you, just like they turn on every other social network that realizes the same essential truth (Techdirt).

  • Jede große Plattform braucht ein gewisses Maß an Content-Moderation. Grenzenlose Redefreiheit führt zu grenzenlosem Hass. Wer sich keine Regeln gibt (oder sie nicht durchsetzt), verwandelt sich auf Dauer in einen Tummelplatz für Rechtsradikale (Twitter / Jen Golbeck).
  • Was aus Sicht der Betreiber noch schlimmer ist: Ein solches Umfeld schreckt nicht nur normale Nutzerïnnen ab, dort will auch niemand werben (WSJ).
  • Unternehmen wie GM haben bereits ihre Buchungen bei Twitter storniert, und der Exodus dürfte weitergehen. „Brand safety“ ist für Unternehmen eine heilige Kuh. Wenn Musk seine Vorstellungen wahrmacht, wird er reihenweise Werbekunden verlieren (NYT).
  • Musks drittes Problem neben Nutzerïnnen und Werbetreibenden sind Regierungen. In den USA steht Section 230 vor der Abschaffung, Staaten wie Texas und Florida wollen Plattformen vorschreiben, wie sie Inhalte moderieren sollen. Und auch außerhalb der USA sieht es düster aus, wie Alex Stamos in diesem Thread erklärt und wie Patel schreibt:

Germany is a huge market for Tesla. Are you going to flout Germany’s speech laws? I would bet not. The Indian government basically demands social media companies provide potential hostages in order to operate in that country; you can’t engineer your way out of that shit. Are you ready to experience the pressure Twitter faces in the Middle East to block and restrict accounts? Are you ready for the fact that the Iranian government will fucking murder people over their social media posts? (Are you ready for how Twitter is being used by Iranians protesting that government right now?) Are you excited for the Chinese government to find ways to threaten Tesla’s huge business in that country over content that appears on Twitter? Because it’s going to happen.

  • Kurzum: Musk weiß, wie man Elektroautos und Raketen baut. Er hat keine Ahnung, wie soziale Medien funktionieren. In den kommenden Monaten dürfte ihm ein schmerzhafter Lernprozess bevorstehen.

Header-Foto von Timur Kozmenko