Suchmaschine, News, Podcasts, Musik: TikTok wird zur einen App für alles

Was ist

Mark Zuckerberg hat erkannt: Das TikTok-Prinzip hat gewonnen (New Yorker), Kurzvideos und Empfehlungen auf Grundlage von Viralität haben Fotos und den Social Graph abgelöst. Wie Meta sich neu erfinden will, kannst du in Briefing #814 nachlesen, das wir direkt vor unserer kurzen Sommerpause verschickten.

Doch TikTok bedroht nicht nur Facebook und Instagram. Aus der Unterhaltungsplattform ist längst eine App geworden, die sich in allen Lebensbereichen der Gen Z ausbreitet. Wir erklären, warum sich Google und Spotify wappnen müssen und wie Verlage TikTok nutzen können.

TikTok und Google

  • Für viele Menschen steht Googeln synonym für Suchen. Für Jüngere gilt das offenbar nur eingeschränkt.
  • Google hat dazu 18-24-Jährige in den USA befragt – mit erstaunlichen Ergebnissen. Google-Manager Prabhakar Raghavan beschreibt die Ergebnisse so (TechCrunch):

„In our studies, something like almost 40% of young people, when they’re looking for a place for lunch, they don’t go to Google Maps or Search. They go to TikTok or Instagram."

  • Die Plattformen, die das Netz von heute prägen, wurden von Menschen entwickelt, die seit Jahren oder Jahrzehnten online sind. Das Verhalten der Gen Z unterscheide sich drastisch von den bisherigen Gewohnheiten, sagt Raghavan: "We keep learning, over and over again, that new internet users don’t have the expectations and the mindset that we have become accustomed to."
  • Bei Slate erzählt eine Studentin, wie sie TikTok nutzt:

When the algorithm brings you to a certain video, it can be like finding a gold mine. I recently saw a video from a woman in my area sampling a new doughnut shop, complete with details on menu items, the best flavors, and a quick tour of the interior. Just after watching it, I made plans with my friends to go next week. Finding that shop on Google search would have probably required wading deep into results crammed with chain and established stores.

  • Und sie liefert auch gleich eine Erklärung mit, warum sie und ihre Generation lieber auf TikTok, Instagram oder Snapchat nach Inspiration suchen:

For a technology-addicted generation with short attention spans, there is little incentive to go out of our way to find new restaurant openings, or click beyond the first page of a Google search for nearby activities. TikTok videos with recommendations are quick, informative, and visually immersive—factors that easily convince us to try something new.

  • Das bedeutet nicht, dass Jüngere gar nicht mehr googeln. Für schnelle, zielgerichtete Suchen nach Fakten und Informationen sowie Navigation sind Google-Produkte nach wie vor das Mittel der Wahl.
  • Wenn es aber um Inspiration und Entdeckungen geht, greift die Gen Z eher zu anderen Apps. Eine Szene, die Michael Kalina beobachtet hat (mkln.org), verdeutlicht das:

Gestern hat sich jemand in der Garderobe des Fitnessstudios mit einem anderen über seine neuen Trainingsschuhe unterhalten. Sinngemäß kam dabei heraus, dass er keine Ahnung hatte, welche Schuhe er sich kaufen sollte, ja nicht einmal, dass er überhaupt Trainingsschuhe kaufen sollte; bislang hatte er immer seine alten Laufschuhe genutzt, um damit im Fitnesscenter zu trainieren. Aber nachdem er "diesen Gym-TikToker" gesehen hat, hat er sich genau die Schuhe, die der TikToker gekauft und empfohlen hat, auch gekauft. Ich fasse zusammen: Eine Person, die ins Fitnesscenter trainieren geht und bislang gut mit seinen alten Laufschuhen zurecht gekommen ist, sieht das Video eines Gym-TikTokers und lässt sich dadurch zum Kauf eines Paars Trainingsschuhe motivieren.

  • Noch ein Beispiel: Hochzeiten. Wenn Menschen unter 30 heiraten, schauen sie sich davor auf TikTok um. Videos mit Hashtags wie #wedding, #weddingtiktok, #weddingday und #weddingsvibes haben zusammen mehr als 100 Milliarden Views gesammelt.
  • Gerade für kleine Unternehmen ist das eine große Chance: Start-ups, Schmuckhersteller oder Hochzeitsplanerinnen können über TikTok Paare erreichen, die sie sonst nie kennengelernt hätten. Eine Fotografin aus Charleston erzählt, dass sie mittlerweile mit Anfragen überall aus den USA überhäuft werde (AdAge):

Before TikTok, 95% of my inquiries were couples in Charleston. I only shoot 15 to 20 weddings a year so I can’t take them all, but it has opened up a new market.

  • Elena Cavender hat mit 30 Angehörigen der Gen Z gesprochen und bricht die Hauptgründe für TikTok statt Google auf drei R herunter (Mashable): Rezepte, Restaurants und Reiseempfehlungen.
  • Mittlerweile gibt es sogar SEO-Coachings für TikTok (Fast Company), die Creators und Unternehmen helfen sollen, besser gefunden zu werden.
  • Langfristig bedroht das Googles Umsatz. Deshalb fährt Google die Werbekampagne "Let’s Internet Better" (Fast Company), die sich gezielt an die Gen Z richtet. Dafür hat Google mit bekannten TikTok-Persönlichkeiten zusammengearbeitet und 15-sekündige Videos produziert.
  • Zumindest ein Gutes hat die neue Konkurrenz für Google: Derzeit laufen in mehreren Ländern Kartellermittlungen, und es ist immer hilfreich, eine Umfrage in der Hinterhand zu haben, die angeblich zeigt, dass man gar kein Monopol besitzt.

TikTok und Spotify

  • Wer wissen will, welche popkulturelle Macht TikTok hat, sollte dieses Porträt von Domiziana lesen (Vice). "Ohne Benzin" ist der einzige Song der Deutsch-Italienerin, und damit stürmte sie an die Spitze der deutschen Charts – dank TikTok.
  • Für etliche Künstlerïnnen war ein viraler Hit auf TikTok (Pudding.cool) der erste Schritt zu einer erfolgreichen Karriere. Doch für nachhaltigen Erfolg sind Spotify, ein Plattenvertrag und eine große Tournee wichtiger.
  • Noch: TikTok hat die Marke "TikTok Music" angemeldet. Der Antrag beim US-Patentamt erfolgte bereits im Mai, wurde aber erst jetzt von Business Insider entdeckt.
  • TikTok Music könnte dem Antrag zufolge eine Streaming-App werden, die Spotify und Apple Music Konkurrenz macht.
  • Das ergäbe für ByteDance Sinn: In Indien, Brasilien und Indonesien hat sich der Konzern mit der App Resso bereits als wichtiger Player im Musikmarkt etabliert (Business Insider).
  • Seit Juni gibt es auf Resso auch Podcasts (Inside Radio). ByteDance könnte mit TikTok Music also eine Plattform entwickeln, die Spotify ähnelt.
  • Tech-Konzerne melden ständig Marken und Patente an. Viele davon werden nie genutzt. Deshalb ist es noch zu früh, TikTok zum nächsten großen Spotify-Konkurrenten hochzuschreiben.
  • Vielleicht braucht es auch gar keinen Katalog mit Dutzenden Millionen Interpretïnnen, wie ihn Spotify, Deezer oder YouTube Music anbieten.
  • Dafür wären Verträge mit den großen Labels nötig. Das kostet Zeit und Geld. Womöglich möchte ByteDance nur den Künstlerïnnen eine Plattform bieten, die auf TikTok ihren ersten viralen Hit gefeiert haben.
  • So oder so: Eine wie auch immer geartete Musik-App könnte gut zu TikTok passen.

TikTok und Journalismus

  • Der Siegeszug von TikTok scheint unaufhaltsam zu sein. Wir zitieren zwei aktuelle Studienergebnisse:
  • "TikTok has become the fastest growing network in this year’s survey, reaching 40% of 18–24s, with 15% using the platform for news." (Reuters Digital News Report)
  • "The TikTokers are coming. The social video platform is the fastest growing news source for UK adults, according to a survey, but nearly half of people using it for current affairs turn to fellow TikTokers rather than conventional news organisations for their updates." (Guardian mit Bezug auf eine Erhebung von Ofcom)
  • Auf den ersten Blick scheint es eindeutig zu sein, was Verlage tun müssen: einen TikTok-Kanal aufbauen, die eigene Bekanntheit stärken, neue Zielgruppen erschließen. Schließlich sind dort eine Milliarde Menschen unterwegs (Guardian), und es werden täglich mehr.
  • Wir raten aus mehreren Gründen zur Vorsicht. Erstens hat Facebook vorgemacht, dass große Konzerne oft keine verlässlichen Partner für Medien sind. Von einem Tag auf den anderen schrauben sie an Algorithmen, killen Funktionen und machen Geschäftsmodelle zunichte. Noch weiß niemand, wie sich TikTok verhalten wird.
  • Zweitens sind Reichweite und Erfolg bei TikTok volatil. Große Follower-Zahlen allein reichen nicht, um konstant viele Menschen zu erreichen. Kleine Accounts können viral gehen, große Accounts können tagelang ins Nirwana senden. Das ist ein Problem für Influencerïnnen (The Information), die ihre Reichweite monetarisieren möchten. Es kann aber auch frustrierend für Verlage sein, die viele Ressourcen in Inhalte investieren, die dann kaum jemand sieht.
  • Drittens verdienen Medien auf TikTok kein Geld (Digiday) und locken auch kaum Nutzerïnnen zu ihren eigenen Angeboten. Die App ist ein geschlossenes Ökosystem, TikTok hat kein Interesse, Menschen wegzuschicken. Wenn überhaupt, dann lässt sich mit einer TikTok-Präsenz die eigene Marke stärken. Positivbeispiele wie die Washington Post, Chip oder die Tagesschau zeigen, dass sich TikTok lohnen kann. Man sollte aber genau überlegen, ob die nötigen Ressourcen in einem guten Verhältnis zum möglichen Ertrag stehen.
  • Viertens gibt es etliche Gründe, TikTok kritisch zu sehen und der Plattform aus inhaltlichen und moralischen Gründen fernzubleiben. Wir verweisen in diesem Zusammenhang auf unsere ausführliche Einordnung zu TikTok und China in Ausgabe #804) und zitieren einige neue Schlagzeilen der vergangenen Tage – das allein sollte zumindest Anlass sein, sich zweimal zu überlegen, ob TikTok zur eigenen Marke passt:
  • TikTok Owner ByteDance Used A News App On Millions Of Phones To Push Pro-China Messages, Ex-Employees Say (BuzzFeed News)
  • Inside TikTok's Attempts to ‘Downplay the China Association’ (Gizmodo)
  • TikTok's China problem is back (Platformer)
  • A factory line of terrors: TikTok's African content moderators complain they were treated like robots, reviewing videos of suicide and animal cruelty for less than $3 an hour (Insider)
  • TikTok Moderators Are Being Trained Using Graphic Images Of Child Sexual Abuse (Forbes)

Creator Economy

  • Mehr als 39.000 TikTok-Accounts haben jetzt mindestens 1 Million Follower – etwa 6.200 mehr als auf YouTube und fast 16.000 mehr als auf Instagram. Das Problem: Die Zahlen sind nur wenig wert. The Information berichtet, dass im Durchschnitt nur 14 Prozent der Videoaufrufe von den Followern stammen. Der größte Teil kommt über die For-You-Page zustande. TikTok erinnert damit eher an eine Lotterie als an eine Plattform, mit der sich eine Community aufbauen lässt. Und: Es wird immer schwerer, auf TikTok zu wachsen. Letzten Monat haben es nur noch 1200 Accounts geschafft, die 1-Millionen-Marke zu durchbrechen. 41 Prozent weniger als zur gleichen Zeit im Vorjahr. Es sieht ganz so aus, als hätte TikTok am Anfang ganz bewusst Accounts sehr schnell wachsen lassen. Das hat die Attraktivität der Plattform natürlich ungemein erhöht. Wirklich nachhaltig war das aber für die allermeisten Userïnnen nicht…

Video / Audio


Schon einmal im Briefing davon gehört

  • Meta auf den Spuren von Twitch: Meta testet derzeit still und leise eine neue Livestreaming-Plattform namens Super, mit der Creator interaktive Livestreams hosten, mit Fans interagieren und Einnahmen generieren können (sollen). Hier kann man sich das Pitch Deck anschauen, mit dem Meta derzeit versucht, Creator für die neue Plattform zu gewinnen.

Neue Features bei den Plattformen

TikTok

  • Ticketmaster und TikTok machen gemeinsame Sache: US-Nutzerïnnen können jetzt Tickets für Konzerte direkt bei TikTok via Ticketmaster kaufen (Engadget).
  • Captions einfach selbst einschalten: Bislang mussten Creator Captions beim Posten eines Videos einschalten, damit Nutzerïnnen davon Gebrauch machen konnten. Künftig ist es egal, ob der / die Creator daran gedacht hat, die Option einzuschalten: Userïnnen können Captions einfach selbst einschalten (The Verge).
  • HTML5-Mini-Games: Auch TikTok testet nun HTML5-Spiele innerhalb der App (TechCrunch). Wir kennen das ja bereits von Snapchat – allerdings haben wir nie wieder etwas darüber gehört, ob die Einführung der Games für Snapchat ein Erfolg gewesen ist. (TechCrunch)

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Header-Foto von Lucas Kapla